Das "neue" politische System der Türkei
Im April 2017 erlebte das politische System der Türkei seine wohl tiefgreifendste Veränderung: Das Amt des Staatspräsidenten wurde zur zentralen Machtposition erhoben, das System der parlamentarisch kontrollierten Regierung abgeschafft. Bis 2019 werden die Veränderungen in Verfassung und System, entsprechend dem Referendum, umgesetzt werden. Bis dahin wird sich zeigen, welche Auswirkungen das neue politische System der Türkei auf die Republik Türkei und ihre Gesellschaft haben wird.
Die Änderung der türkischen Verfassung, wie sie vom türkischen Volk am 16. April 2017 mit knapper Mehrheit gebilligt wurde, war keine "Änderung", sondern hat einen Systemwechsel eingeleitet, wie ihn die Türkei seit dem Zusammenbruch das Osmanischen Reiches nicht gekannt hat. Die Änderung hat zu einer erheblichen Verschiebung der Kräfte zugunsten der Exekutive, diese wiederum konzentriert auf nur noch eine Person, zu Lasten des Parlaments geführt. Das Militär wird mit dieser neuen Verfassung als machtpolitischer Akteur endgültig verdrängt.
Wahlsystem und Parlament
Die Gesetzgebung steht dem Parlament zu, der 1920 gegründeten "Großen Nationalversammlung der Türkei" ("Türkiye Büyük Millet Meclisi"). Das Parlament hat die Haushaltshoheit und ist Herr über Krieg und Frieden. Die Abgeordneten – ab 2019 werden es 600 sein, noch sind es 550 – werden in "gleichen, allgemeinen und freien Wahlen gewählt" (Art. 67). Das aktive und seit 2017 auch das passive Wahlalter liegen bei 18 Jahren. Das Parlament arbeitet in den üblichen Ausschüssen. Parlamentsbeschlüsse setzen die Anwesenheit von mindestens einem Drittel der Abgeordneten voraus, Beschlüsse bedürfen der einfachen Mehrheit (falls in der Verfassung nichts anderes bestimmt ist), mindestens jedoch der Stimmen eines Viertels aller Mitglieder plus eins.Die Abgeordneten genießen Immunität (dokunulmazlık, Art. 83), die nur mit verfassungsändernder Mehrheit aufgehoben werden kann. Nicht gewählt werden kann, wer wegen ehrenrühriger Straftaten verurteilt worden ist. Ferner dürfen Angehörige der Streitkräfte, Richter, Staatsanwälte, Hochschullehrer, Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst nicht gewählt werden. Ausgenommen sind auch beim aktiven Wahlrecht Soldaten, Unteroffiziere und Militärschüler sowie verurteilte und einsitzende Straftäter. Es besteht Wahlpflicht, die aber in der Praxis nicht durchgesetzt wird.
Die Sperrklausel (baraj) von 10 Prozent ist immer wieder Gegenstand von Diskussionen. Umgehen kann die Klausel nur, wer sich als unabhängiger Kandidat in einem Wahlbezirk zur Wahl stellt. Die Verteilung der Sitze auf die einzelnen Provinzen erfolgt im Verhältnis ihrer Bevölkerungszahl. Besonders große Provinzen werden nochmals in Wahlbezirke unterteilt. Parteien stellen Listen auf. Nach der Wahl stellt der Hohe Wahlrat, der aus Richtern besteht und auch die Vorbereitung und Durchführung überwacht, fest, welche Parteien die Zehnprozenthürde geschafft haben. Deren Listen nehmen dann am d’Hondt’schen Auszählsystem teil. Auch die unabhängigen Kandidaten werden berücksichtigt. Im Ausland ansässigen türkischen Staatsangehörigen ist die Möglichkeit gegeben, in den Generalkonsulaten oder an den Landesgrenzen zu wählen.


Die parlamentarische Opposition hat innerparlamentarische Beteiligungsrechte in den Ausschüssen. Auch Kontrollrechte stehen dem Parlament zu: Die beiden stärksten Parteien können Gesetze und Präsidialverordnungen innerhalb von 60 Tagen nach deren Bekanntmachung im Amtsblatt im Wege der Anfechtungsklage vor das Verfassungsgericht bringen. Auch kleinere Parteien sind dazu in der Lage, wenn sie ein Fünftel aller Abgeordneten für einen solchen Antrag zusammenbringen.
Ein Ermittlungsverfahren gegen den Präsidenten, seine Stellvertreter oder Minister kann das Parlament mit der einfachen Mehrheit der Gesamtzahl seiner Mitglieder einleiten. Klassische parlamentarische Kontrollmöglichkeiten wie ein Misstrauensvotum oder mündliche Befragungen des Präsidenten oder der Minister vor dem Parlament sind mit der Verfassungsreform 2017 entfallen, geblieben ist nur die schriftliche Anfrage, deren Beantwortung aber im Ermessen des Präsidenten bzw. seiner Stellvertreter liegt.
Aktuelle Stimmenverteilung in der Großen Nationalversammlung der Türkei (Parlamentswahl November 2015) | ||
Partei | Stimmen in Prozent | Mandate im Parlament (bis 2019 insgesamt: 550*) |
AKP | 49,5 | 317 |
CHP | 25,3 | 133 |
MHP | 11,9 | 36 |
HDP | 10,8 | 57 |
parteilos | - | 5 |
Redaktion: Gereon Schloßmacher, 2017. (*Abweichungen können sich ergeben, da Vakanzen nicht direkt im Nachrückverfahren besetzt werden, sondern durch Zwischenwahlen.) |
Gleichzeitig mit dem Parlament wird auch der Staatspräsident gewählt, seit 2014 direkt vom Volk. Einen Kandidaten für dieses Amt aufstellen, dürfen die im Parlament vertretenen Fraktionen sowie alle politischen Parteien, die bei der letzten Parlamentswahl einzeln oder gemeinsam mindestens 5 Prozent der Stimmen erhalten haben. Zum Staatspräsidenten gewählt ist wer im ersten Wahlgang mindestens die Hälfte der abgegeben Stimmen auf sich vereinen konnte. Kann kein Kandidat diese Mehrheit erringen, findet zwei Wochen später ein zweiter Wahlgang statt. An dieser Abstimmung nehmen dann die beiden Kandidaten teil, die im ersten Wahlgang die meisten Stimmen erhalten haben.
Staatpräsident und Regierung – Zentrum der politischen Macht
An der Spitze der Exekutive steht bis November 2019 noch der Ministerrat (Bakanlar Kurulu). Er besteht aus den Fachministern und dem Ministerpräsident (başbakan), dem Regierungschef. Der Ministerrat bestimmt die Richtlinien der Politik als Kollektivorgan. In der Praxis aber bestimmt schon heute der Staatspräsident die Politik, ab 2019 ist es so auch in der Verfassung vorgesehen. Die Minister stehen weiterhin ihren jeweiligen Ministerien vor, welche wiederum die Spitze der Zentralverwaltung bilden. Sie haben jedoch ab 2019 nur noch die Funktion von politischen Spitzenbeamten, die wiederum durch den Präsidenten nach Belieben ernannt und entlassen werden können. Der Präsident kann dann mit Präsidialverordnung sogar Ministerien schaffen und abschaffen. Neben den Ministern kann der Präsident Stellvertreter in beliebiger Zahl ernennen und entlassen.Bildergalerie: Ministerpräsidenten der Türkei
Die Möglichkeit des Erlasses von Rechtsverordnungen mit Gesetzeskraft ist abgeschafft worden. Diese können bis 2019 durch den Ministerrat unter bestimmten Voraussetzungen aufgrund eines Ermächtigungsgesetzes des Parlaments erlassen und müssen danach noch einmal durch das Parlament geprüft und bestätigt werden. Nur im Notstand bedarf es keiner vorherigen Ermächtigung. Auf den ersten Blick werden sie durch Präsidialverordnungen ersetzt, die allerdings nur im Zuständigkeitsbereich der Exekutive erlassen werden dürfen. Im Übrigen dürfen Gesetze damit weder erlassen noch geändert werden. Wird der Anwendungsbereich einer Präsidialverordnung durch ein späteres Gesetz geregelt, tritt die Präsidialverordnung automatisch außer Kraft. Hier kann also das Parlament gegen den Präsidenten im Gesetzgebungsprozess eingreifen. Die richterliche Kontrolle der Präsidialverordnungen obliegt nun ausschließlich dem Verfassungsgericht. Damit ist der Rechtsschutz des Einzelnen, der im Falle der Betroffenheit gegen Beschlüsse des Ministerrates beim Staatsrat als oberstem Verwaltungsgericht vorgehen konnte, entfallen.
Bildergalerie: Staatspräsidenten der Türkei
Seit der Reform 2017 kann der Staatspräsident das Parlament ohne bestimmte Voraussetzungen auflösen und Neuwahlen ausrufen. Allerdings beugt das neue System der Willkür des Präsidenten dadurch vor, dass er bei einer solchen Anordnung zwangsläufig auch sein eigenes Amt zur Verfügung stellt, denn die Verfassung zwingt zum Gleichlauf der Wahlen in der Weise, dass die Wahlen zum Parlament und zum Amt des Präsidenten gleichzeitig stattzufinden haben. Gleiches gilt, wenn das Parlament – das dafür allerdings drei Fünftel der Stimmen seiner Mitglieder bedarf – Neuwahlen ansetzt. Durch dieses System ist die strenge Beschränkung der Amtszeit des Präsidenten auf zwei Mal fünf Jahre gefährdet. Denn wenn innerhalb der zweiten laufenden Amtszeit eine Neuwahl stattfindet, darf der Präsident nochmals volle fünf Jahre regieren, so dass eine Regierungsdauer von mehr als vierzehn Jahren möglich wird. Die gleichzeitige Wahl von Präsident und Parlament hat zudem auch direkte Auswirkungen auf die Machtfülle des Präsidenten, da davon auszugehen ist, dass die Partei des Staatspräsidenten dann auch die Mehrheit im Parlament stellen wird.
Der Präsident, der zuvor strikt neutral und parteilos zu sein hatte, kann seit der Reform 2017 nun selbst Parteimitglied und auch Parteivorsitzender sein. Damit ist in der Hand des Präsidenten eine enorme Machtfülle entstanden: Durch den Parteivorsitz hat er großen Einfluss sowohl auf das Abstimmungsverhalten seiner Partei, als auch auf die Kandidaturen zum Parlament.
Die lange Liste der Befugnisse des Präsidenten hatte bis zur Verfassungsreform 2017 eher formale Funktion. Ein gewisses Gewicht konnte er nur durch sein suspensives Vetorecht im Gesetzgebungsprozess entfalten, das jedoch durch das Parlament mit einfacher Mehrheit zurückgewiesen werden konnte. Seit der Reform 2017 ist dafür die Mehrheit der Mitglieder des Parlaments erforderlich. Auch wenn der Präsident ohne Parlament keine Einsätze des Militärs anordnen kann, gilt er als Oberbefehlshaber der Armee. Auch das Attribut "Hüter der Verfassung" (Art. 104) ist ihm – trotz des Wegfalls seiner Neutralität – geblieben.
Vor allem im Notstand wirkt sich die Konzentration der Macht des Präsidenten aus, wo er – statt wie bisher durch Rechtsverordnungen mit Gesetzeskraft, für die er immerhin das Gremium des Ministerrates benötigt – nun mittels alleiniger Präsidialverordnung regieren kann. Allerdings unterliegen im Notstand die Präsidialverordnungen der nachträglichen Kontrolle durch das Parlament, bleiben also nur in Kraft, wenn sie innerhalb von drei Monaten nach ihrem Erlass vom Parlament bestätigt werden. Hier wird man wohl von einer Gesetzgebungsbefugnis des Präsidenten sprechen können. An dieser Stelle sei erwähnt, dass die Notstandsvariante "Ausnahmezustandsverwaltung", in der das Militär Verwaltungsfunktionen übernimmt, abgeschafft worden ist.
Einen Sonderstatus innerhalb der Exekutive hat das Präsidium für Religionsangelegenheiten, der auch in der Verfassung festgeschrieben ist. Das Präsidium hat die Aufgabe, das religiöse Leben zu kanalisieren, bildet aber in der Praxis die Verwaltungsbasis und Infrastruktur für den sunnitischen Islam und den Motor für die aktuellen Islamisierungstendenzen in Politik und Staat.
Nationaler Sicherheitsrat
Als besonderes Verfassungsorgan ist auch der Nationale Sicherheitsrat (Millî Güvenlik Kurulu) zu nennen, dessen Vorsitz der Präsident der Republik innehat. Er ist mehrheitlich mit Mitgliedern aus der Exekutive besetzt,
Justiz
Die Justiz ist wie in Deutschland in eine ordentliche[1] und in die Verwaltungsgerichtsbarkeit (idari yargı) unterteilt. An der Spitze der ordentlichen Gerichtsbarkeit (adli yargı) steht der Kassationshof (Yargıtay) mit seinen Straf- und Zivilsenaten. Er überprüft Urteile der Berufungsgerichte allein auf Rechts- und Verfahrensfehler. Diese wiederum verhandeln und entscheiden über Rechtsmittel gegen Urteile und Beschlüsse der Zivil- und Strafkammern auch in tatsächlicher Hinsicht. Auf dieser Ebene gibt es Unterscheidungen nach verschiedenen Fachgebieten, wie etwa Familiengerichte, Kammern für Handelssachen und Staatsschutzkammern. Der Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit sieht ähnlich aus. Deren oberste Instanz ist der "Staatsrat" (Danıştay).Das Aufsichtsorgan über die Justiz ist der "Rat der Richter und Staatsanwälte" (Hâkimler ve Savcılar Kurulu). Er soll die Unabhängigkeit der Justiz gewährleisten und ist für die Ernennung, Beförderung und Entlassung aller Richter und Staatsanwälte, die Bestimmung der Zuständigkeit von Gerichten und die Versetzung im Rotationsverfahren zuständig. Das Gremium war unter der Verfassung von 1961 geschaffen worden, um die absolute strukturelle und institutionelle Unabhängigkeit der Justiz von Exekutive und Parlament zu gewährleisten. Kritisiert wurde daher, dass der Rat über Jahrzehnte keine eigene Infrastruktur hatte, diese vielmehr durch das Justizministerium gestellt wurde. Gleichzeitig waren auch der Justizminister und sein Stellvertreter von Amtswegen Mitglieder des Rates. Obwohl der Rat aber für die Ernennung, Beförderung, Versetzung und Absetzung von Richtern und Staatsanwälten zuständig ist, konnte infolge dieser Verflechtung der Justizminister Einfluss auf die Tätigkeit nehmen, da für die Vorbereitung der Ernennungs- und Versetzungslisten die Verwaltung im Justizministerium zuständig war. Mit der Verfassungsreform 2010 wurde dieser Umstand geändert, der Rat erhielt ein eigenes Gebäude, finanzielle Ausstattung und Infrastruktur.


Die Verfassungsreform 2017 führte indes zu einer Neuorientierung, die sich als Aufweichung strikter Gewaltenteilung darstellt und vor allem dem Präsidenten der Republik massive Einflussmöglichkeiten eröffnet: Zuvor hatte die Exekutive Einfluss lediglich durch die Mitgliedschaft des Justizministers und seines Stellvertreters im Rat der Richter und Staatsanwälte. Anstatt wie zuvor 22 Mitglieder, die sich aus den obersten Gerichten heraus praktisch selbst rekrutierten, hat der Rat nunmehr nur noch 13 Mitglieder, darunter weiterhin den Justizminister und seinen Stellvertreter. Vier weitere Mitglieder werden direkt vom Präsidenten der Republik für vier Jahre ernannt, die übrigen sieben wählt die Türkische Nationalversammlung. Auch wenn das parlamentarische Ernennungsverfahren unter Beteiligung der Opposition durchgeführt wird, weicht dieses System die Gewaltenteilung an ihrem wichtigsten Punkt auf, nämlich im Verhältnis zwischen Exekutive und Judikative.
In diesem Zusammenhang könnte sich ebenso negativ auswirken, dass die Mitglieder des Rates der Richter- und Staatsanwälte wiedergewählt werden können, was naturgemäß Einfluss auf die subjektive Unabhängigkeit haben kann. Schließlich wurde die Bedeutung des Rates auch symbolisch herabgestuft: Obwohl die erforderliche Änderung des Gesetzes noch gar nicht verabschiedet ist, wurde das Wort "yüksek" (hoch) aus dem Titel des Rates entfernt: Aus dem "Hohen Rat" wurde der "Rat der Richter und Staatsanwälte".
Richterliche Kontrolle eigener Art stellt das Verfassungsgericht dar. Seit 2010 mit 17 Richtern und Richterinnen besetzt, ist mit der Reform 2017 - infolge des Wegfalls des Kontingents der Militärgerichtsbarkeit - die Zahl der Mitglieder auf 15 gesunken. Die Einflussmöglichkeiten des Präsidenten der Republik sind verhältnismäßig beschränkt: nur vier Posten kann er direkt besetzen, acht weitere wählt er aus Vorschlägen aus. Nur drei Mitglieder bestimmt das Parlament. Die Richter müssen mindestens 40 Jahre alt sein und werden auf einmalig zwölf Jahre – maximal bis zur Altersgrenze von 65 Jahren – ernannt. Das Verfassungsgericht überprüft auf Antrag einer der beiden größten Parteien im Parlament oder eines Fünftels der Abgeordneten oder des Präsidenten der Republik die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze (abstrakte Normenkontrolle – soyut norm denetimi, iptal davası). Ferner können die Gerichte im laufenden Gerichtsverfahren ein Gesetz zur Überprüfung vorlegen, das sie für möglicherweise verfassungswidrig halten (konkretes Normenkontrollverfahren – somut norm denetimi, def’i yolu). Außerdem können einzelne Prozessparteien in einem Gerichtsverfahren gegen Urteile oder Beschlüsse der jeweils letzten Instanz von Gerichten Verfassungsbeschwerde (bireysel başvuru) erheben.

Die kommunale Ordnung
Die Republik Türkei ist in 81 Provinzen (sing. il) eingeteilt. Diese werden auf drei Verwaltungsebenen organisiert. An der Spitze steht der Präfekt (vali, auch: Gouverneur) als Vertreter der Zentralregierung, er wird durch den Innenminister ernannt. Der vali sitzt gleichzeitig der Provinzversammlung (il genel meclisi) vor, die im Rahmen der Selbstverwaltungsbefugnisse ein Satzungsrecht hat. Die Provinzen sind wiederum in Landkreise (ilçe) unterteilt, mit einem Regierungsvertreter (kaymakam) an der Spitze. Auch der wird vom Innenminister ernannt. Auf Gemeindeebene gibt es den Bürgermeister (belediye başkanı), daneben die Gemeindeversammlung (belediye meclisi) mit eigenen Satzungsbefugnissen. In den Dörfern (sing. köy) besteht neben dem Dorfvorsteher (muhtar) eine Ältestenversammlung (ihtiyar meclisi). Städte sind meist in Stadtteile (mahalle) unterteilt, denen jeweils ebenfalls ein muhtar vorsteht und die über eine Stadtteilversammlung (mahalle meclisi) ohne spezifische Befugnisse verfügen. Eine Besonderheit stellen die Großstadtgemeinden (sing. büyükşehir belediyesi) dar, die ihrerseits in mehrere Gemeinden unterteilt sind. Regionen wie in Frankreich gibt es in der Türkei nicht. Auch auf der kommunalen Eben gilt: die Türkei ist stark zentralistisch organisiert. Ein föderales System ist durch die Verfassung praktisch ausgeschlossen, weil dadurch das festgeschriebene Prinzip der "Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk" (Präambel der Verfassung) gefährdet würde. Wenn also heute von Regionen die Rede ist, geht es um die Aufteilung der Türkei in wirtschaftlich oder energiepolitisch interessante Sektoren – und um die Wetterkarte.Auf der Ebene der Provinzen (sing. il) und Gemeinden (sing. belediye [Stadtverwaltung] bzw. köy [Dorf]) gibt es demokratische Ansätze, soweit diese politischen Einheiten Selbstverwaltungsaufgaben erfüllen. Die Kommunalwahlen finden seit jeher alle fünf Jahre statt. Dabei werden die Provinz-, Gemeinde- und Stadtteilparlamente sowie die Bürgermeister und Dorfvorsteher gewählt. Auch hier dominiert seit ihrer Gründung im Jahr 2001 die AKP, gefolgt von der CHP.
Von der AKP errungene Stimmen in Prozent und gewonnene Mandate im Parlament | ||
Parlamentswahl | Stimmen in Prozent (AKP) | gewonnene Mandate (AKP) |
2002 | 34,4 | 363 |
2007 | 46,5 | 341 |
2011 | 49,8 | 327 |
Juni 2015 | 40,9 | 258 |
November 2015 | 49,5 | 317 |
Darstellung Tabelle: Gereon Schloßmacher, 2017. |
Ausblick
Aktuell hat die AKP 317 von 546 besetzten Sitzen (CHP 133, MHP 55, HDP 36, unabhängig 5) im Parlament. Präsident Erdoğan kann sich als Vorsitzender seiner Partei daher auf eine solide Mehrheit stützen. Ihre Hochburgen hat sie in Zentralanatolien, während an den Küsten und in Istanbul die CHP dominiert, auch wenn der Istanbuler Oberbürgermeister der AKP angehört. Im Osten der Türkei ist nach wie vor die kurdische HDP die stärkste Partei. Derzeit wird der Beamtenapparat radikal umgebaut, das Militär ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Ob die Wählerbasis der AKP ausreicht, Präsident Erdoğan auch 2019 wieder ins Amt zu bringen, ist noch nicht völlig sicher. Aber auch wenn es zu einem politischen Machtwechsel kommen sollte, bleibt abzuwarten, auf welche Art und Weise der Staatspräsident seine umfangreichen Kompetenzen im neuen politischen System der Türkei ausfüllen wird.Hier finden Sie einen älteren Beitrag zum politischen System der Türkei, vor der Verfassungsänderung vom April 2017.