Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2023: Eine Wahlanalyse | Türkei | bpb.de

Türkei Politik Wirtschaftsmodell der AKP Das "neue" politische System der Türkei Militärisch unlösbar Das Präsidialsystem in der Türkei: Nach dem Vorbild der USA? Verfassungsreferendum in der Türkei Putschversuch im Juli 2016 "Es war das erste Mal, dass ein Putsch in der Türkei am Widerstand der Bevölkerung gescheitert ist“ Pressefreiheit Gülen-Bewegung Der Kurdenkonflikt Protest und Opposition in der Türkei Der Zypernkonflikt Bildungspolitische Umbrüche in der Türkei Bildungspolitik der AKP Der Aufstieg des Recep Tayyip Erdoğan Datenschutz und Internet-Überwachung in der Türkei Social Media: Freund und Feind der AKP Regierung Parlaments- und Präsidentschaftswahl 2023 Wahlbündnisse Freie und faire Wahlen? Justiz Vermittlung im Ukraine-Krieg Türkei und Syrien Syrische Flüchtlinge Die Türkei als regionale Macht im Zeichen des Krieges Breites Oppositionsbündnis gefährdet Erdoğans Wiederwahl Wahlkampf nach den Jahrhundertbeben Griechenland-Türkei: Konfliktpause durch Erdbeben Pressefreiheit Griechisch-türkische Beziehungen Parteien der Türkei Das Parteiensystem der Türkei AKP CHP MHP HDP AP ANAP BBP DP DBP DSP DYP Hüda Par İP KADEP RP SAADET SHP VP YSGP TİP YRP ZP Deva GP Landkarten Physische Übersicht Verwaltung Bevölkerungsdichte Bevölkerungsgruppen Wirtschaft Osmanisches Reich - Expansion Osmanisches Reich - Zerfall Gesellschaft und Zusammenleben Ein Sommer ohne Musik Heimat Almanya Auf eine Shisha mit.. Satire in der Türkei Die Aleviten Fußball in der Türkei Die armenische Gemeinschaft Literatur Frauenrechte Migrationswende Die Lage der LGBT-Community in der Türkei Geschichte und Erinnerung Militärputsche in der Geschichte der Türkei Verfassungsgeschichte der Türkei Erster Weltkrieg Genozid an den Armeniern Atatürk Vom Reich zur Republik Vertreibung der türkischen Juden Deutsche im Exil Türkei Pogrom von Istanbul Gastarbeit Infografiken Das "neue" politische System der Türkei Religionszugehörigkeit Bildergalerien Quiz Videos Redaktion

Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2023: Eine Wahlanalyse

Dr. Yaşar Aydın

/ 8 Minuten zu lesen

Beamte zählen die Stimmzettel in einem Wahllokal in Ankara am 14. Mai 2023. (© picture-alliance/AP, picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Burhan Ozbilici)

Der amtierende Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, Adalet ve Kalkınma Partisi (Interner Link: AKP, Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) verpasste mit 49,52 Prozent der gültigen Stimmen knapp die absolute Mehrheit und damit den Sieg im ersten Durchgang bei den Präsidentschaftswahlen am 8. Mai 2023. Er muss sich nun am 28. Mai einer Stichwahl stellen. Sein Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu – Oppositionsführer und Vorsitzender der Cumhuriyet Halk Partisi (Interner Link: CHP, Republikanische Volkspartei) – kam auf 44,88 Prozent der Stimmen. Weit abgeschlagen hinter den beiden Spitzenkandidaten konnte Sinan Oğan vom nationalistischen Ata İttifakı (Bündnis der Ahnen) 5,17 Prozent der Stimmen auf sich vereinen. Bei der Stichwahl könnten seine Wähler entscheidend sein.

Präsidentschaftswahl: kein glanzvoller Sieg für Erdoğan

Bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2018 konnte sich Erdoğan noch mit 52,59 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang gegen seine damaligen Kontrahenten Muharrem İnce (CHP, 30,64 Prozent), Selahattin Demirtaş (Halkların Demokratik Partisi, Interner Link: HDP, Demokratische Partei der Völker, 8,4 Prozent), Meral Akşener (İyi Parti,Interner Link: İP, Gute Partei, 7,29 Prozent) und Temel Karamollaoğlu (Saadet Partisi, Interner Link: SAADET, Partei der Glückseligkeit, 0,89 Prozent) durchsetzen. Von den gültigen 48,56 Millionen Stimmen konnte er damals 26,33 Millionen Voten auf sich vereinen. Bei der aktuellen Präsidentschaftswahl kam er auf 27,13 Millionen Stimmen – bei einer gültigen Stimmenzahl von 52,97 Millionen. Obwohl die gültigen Stimmen um knapp 4,4 Millionen stiegen, konnte Erdoğan lediglich um 0,8 Millionen Stimmen zulegen. Im Vergleich zu den Präsidentschaftswahlen 2018 sackte er um 3,07 Prozent ab.

Kein glanzvoller Sieg für einen Autokraten, der die Türkei mit eiserner Hand, größtenteils vorbei am Parlament regiert, die Medien und Justiz kontrolliert, die Oppositionelle im Gefängnis hält und potenzielle Herausforderer mit Strafverfahren kaltstellt. Von einem fairen Wahlkampf kann auch nicht die Rede sein. In den öffentlichen Sendern hatten die Kandidaten des Regierungsblocks deutlich mehr Präsenz als die Oppositionspolitiker. Während Erdoğans Kundgebungen live ausgestrahlt wurden, konnte die Opposition die Bevölkerung nur über die sozialen Medien erreichen.

Zahlreiche Berichte über Vorkommnisse bei der Stimmabgabe nähren den Zweifel an der Korrektheit des Wahlergebnisses, die einer Aufarbeitung warten. Dass beispielsweise die ersten von der staatlichen Nachrichtenagentur bekanntgegebenen Zahlen sich von den Zahlen in der späten Nacht gänzlich unterschieden, wird von der Opposition als eine gezielte Manipulationstaktik angesehen, um die Wahlhelferinnen und Wahlhelfer der Oppositionsparteien in den Wahllokalen zu demoralisieren und zu erreichen, dass möglichst viele die Wahllokale vorzeitig verlassen.

Dass nun in den Reihen der Opposition Enttäuschung und teilweise Resignation herrscht, liegt an dem Optimismus vor der Wahl, die schon zwei Jahrzehnte dauernde Regentschaft Erdoğans beenden und einen grundlegenden Politikwechsel herbeiführen zu können. In den meisten Wahlumfragen lag der Oppositionsführer Kılıçdaroğlu vor Erdoğan, der nun für viele überraschend hinter den Erwartungen lag.

Klare Mehrheitsverhältnisse im Parlament

Bei den Parlamentswahlen konnte Erdoğans Cumhur İttifakı (Volksallianz) mit etwa 320 von 600 Sitzen die Parlamentsmehrmehrheit für sich absichern – wenngleich die AKP erstmals seit 2002 auf 35,61 Prozent abrutschte. Obwohl sie auf ihre Liste Kandidaten der kurdisch-islamistischen Hür Dava Partisi (Interner Link: Hüda Par, Partei der Freien Sache), der Verbindungen zur kurdischen Terrororganisation Hisbollah nachgesagt wird, aufstellte. Dass die Volksallianz sich dennoch eine solide Parlamentsmehrheit verschaffen konnte, ist das Verdienst der nationalistischen Milliyetçi Hareket Partisi (Interner Link: MHP, Partei der Nationalistischen Bewegung), die mit 10,07 Prozent ihren Stimmenanteil von 2018 beibehalten konnte sowie der Yeniden Refah Partisi (YRP, Neue Wohlfahrtspartei) und der Büyük Birlik Partisi (Interner Link: BBP, Partei der Großen Einheit), die der Volksallianz 2,81 Prozent bzw. 0,98 Prozent Stimmen brachten.

Trotz des Präsidialsystems ist die Parlamentsmehrheit nicht belanglos: die Nationalversammlung erlässt und ändert Gesetze, hebt diese auf, verabschiedet den Haushalt, entscheidet über Kriegserklärung und Auslandseinsätze und ratifiziert völkerrechtliche Verträge. Mit einer Zweidrittelmehrheit kann sie sich selbst auflösen und damit Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ansetzen.

Wenn auch unwahrscheinlich, würde ein Wahlsieg von Kılıçdaroğlu ein sehr hohes Maß an Mobilisierung seiner Wähler, Einigkeit und Geschick erfordern – fraglich ist, ob die Opposition noch die Kraft dazu hat. Inwieweit die konservativ-islamischen Juniorparteien seiner Millet İttifakı (Allianz der Nation) bei der Stichwahl am Sonntag ihre Basis mobilisieren werden, bleibt abzuwarten. Schließlich haben diese Parteien mit dem Einzug ins Parlament ihr Ziel erreicht.

Ohne die Parlamentsmehrheit kann Kılıçdaroğlu, sollte er sich gegen Erdoğan durchsetzen, die versprochene Rückkehr zur parlamentarischen Regierungsform jedoch nicht realisieren – dafür wäre eine Dreiviertelmehrheit oder ein Referendum notwendig.

Das bestehende Präsidialsystem erlaubt dem künftigen Präsidenten auch ohne Mehrheit im Parlament zu regieren, denn das Parlament hat – zugunsten der Exekutive – an Macht verloren: Für die Ernennung der Regierung und des Kabinetts braucht es keine Zustimmung des Parlaments. Auch kann der Staatspräsident per Dekrete mit Gesetzeskraft regieren und - durch seinen Rücktritt - Neuwahlen herbeiführen. Eine derartige mögliche politische Konstellation versucht der Regierungsblock als Unstabilitätsfaktor zu diskreditieren.

Vier Faktoren der Wahlergebnisse

Was sind die Gründe dafür, dass sich der Regierungsblock trotz der schwächelnden Wirtschaft und Führungsschwäche die Parlamentsmehrheit absichern und Präsident Erdoğan sich eine günstige Ausgangslage für die Stichwahl schaffen konnten? Vier Faktoren verdienen eine nähere Betrachtung.

Faktor Wirtschaft: Der Regierung ist es gelungen, die Wirtschaftskrise durch mediale Inszenierungen von Prestigeprojekten wie etwa die Eröffnung des ersten Atomkraftwerks der Türkei, die Markteinführung des ersten türkischen Elektroautos oder durch den Erdgasfund im Schwarzen Meer im Wahlkampf zu überlagern. Im Mittelpunkt der Wahlkampagne der Volksallianz stand Modernisierungs- und Wohlstandsversprechen. Gekonnt pflegte Erdoğan das Narrativ, dass seine Regierung und die Türkei Zielscheibe eines versteckten Wirtschaftskrieges sei. Die Wohlstandsverluste der letzten Jahre entschärfte er zudem mit großzügigen Wahlgeschenken, wie etwa die Anhebung des Mindestlohns und der Renten, die Erhöhung der Gehälter für Staatsbedienstete sowie kostenlosen Erdgas für private Haushalte im gesamten Monat Mai. Im Laufe der zurückliegenden Jahrzehnte hat die AKP-Regierung mit wirtschaftlicher Begünstigung, sozialen Transfers und Klientelismus große Bevölkerungsteile in ihre Abhängigkeit gebracht. Diese mussten und müssen befürchten, dass mit einem Machtwechsel dieses Netz an Begünstigung zusammenbricht.

Faktor Identitätspolitik und Lagerdenken: Zusammenschluss von links-säkularen, nationalen und konservativ-islamischen Parteien zu einem Wahlbündnis – Allianz der Nation – hat Hoffnungen auf Überwindung des Lagerdenkens geweckt. Die Erwartung, die Wirtschaftskrise würde dazu führen, dass die Konturen politischer Lager weicher werden, sodass mehr Wechsel zwischen Parteien unterschiedlicher politische Ausrichtung möglich ist, hat sich ebenfalls nicht realisiert. Das Lagerdenken und der Faktor Identität haben sich als viel resilienter erwiesen, als angenommen wurde, und bewirkt, dass Wähler trotz Wirtschaftskrise und Führungsschwäche sich nicht von Erdoğan abwandten.

Dazu beigetragen hat Erdoğans bewährte Strategie der Dämonisierung, Polarisierung und Stigmatisierung der Opposition. Immer wieder rückte er das Oppositionsbündnis und seinen Kandidaten Kılıçdaroğlu in die Nähe von Terrororganisationen. Auf Großkundgebungen attackierte er Kılıçdaroğlu, spielte auf seine alevitische Zugehörigkeit an und diffamierte ihn als „Agenten des Westens“. Er sprach von „Handlanger der Gülen-Bewegung“, da etwa das Bündnis versprach, politische Gefangene freizulassen oder titulierte Kılıçdaroğlu als „Bündnispartner der PKK“, da er auch von der HDP unterstützt wurde.

Faktor Nationalismus: Die Wahlergebnisse zeigen, dass der türkische Nationalismus sich im Aufwind befindet. Erdoğan appellierte gekonnt an den türkischen „Nationalstolz“, indem er beispielsweise im April den ersten türkischen Flugzeugträger präsentierte oder die militärische Stärke unterstrich. Der Präsident verband sein Modernisierungs- und Wohlstandsversprechen mit Demonstration nationaler Größe, in dem er sich als mächtigen Staatsmann, Schlichter internationaler Konflikte – Beispiel: Getreideabkommen zwischen Ukraine und Russland – und Anwalt nationaler Interessen - Beispiel: Veto beim Nato-Beitritt Schwedens - auf dem internationalen Parkett inszenierte.

Faktor politische Kohäsion: Dem Oppositionsblock ist es nicht gelungen, die Wähler jenseits oppositioneller Milieus davon zu überzeugen, dass auch im Falle eines Regierungswechsels Sicherheit und Stabilität gesichert wären. Verstimmungen und Differenzen zwischen Präsidentschaftskandidaten Kılıçdaroğlu und Meral Akşener, der Vorsitzenden der Guten Partei, haben zusätzlich Zweifel hinsichtlich der Geschlossenheit des Wahlbündnisses aufkommen lassen. Der Regierungsblock – soziopolitisch und ideologisch kohärenter als die Opposition – konnte sich geschickt als Garanten der Kontinuität und Stabilität inszenieren.

Das Stimmverhalten der Deutsch-Türken

Eindeutiger war das Wahlergebnis bei den Auslandstürken. Von den 1,83 Millionen gültigen Stimmen fielen 57,47 Prozent – 1,04 Millionen Stimmen – auf Erdoğan. Die 1,83 Millionen gültigen Stimmen im Ausland macht einen Anteil von 3,28 Prozent der gesamten gültigen Stimmen dieser Wahl aus. In Deutschland konnte er sogar 65,49 Prozent (475.593 Stimmen), seine Volksallianz 65,09 Prozent der Stimmen auf sich vereinen. Die Allianz der Nation blieb bei 22,07, die linke Allianz für Arbeit und Freiheit bei 10,61 Prozent der Stimmen.

Bei einer Wahlbeteiligung von 48,73 Prozent wählten in Deutschland 733.216 Personen. Die niedrige Wahlbeteiligung im Vergleich zur Türkei lässt sich u.a. mit den langen Anfahrten zu den Wahllokalen und Wartezeiten bei der Stimmabgabe erklären.

Wie ist das Stimmverhalten der Deutsch-Türken einzuordnen?

Eine Erklärung für den Wahlerfolg Erdoğans wäre u.a. der Amtsbonus – der Staatspräsident ist dank türkischer Medien im Alltag der Deutschtürken präsenter als seine Herausforderer und gilt aufgrund seiner zwei Jahrzehnte währenden Amtszeit als erfahrener und „kampferprobter“ Staatsmann. Währenddessen war Kılıçdaroğlu für die meisten Auslandstürken eher ein Unbekannter, der seit Beginn seiner politischen Karriere nur in der Opposition war und keine Exekutiverfahrungen in verantwortlichen Positionen innehatte. Hinzu kommt, dass die Deutschtürken beispielsweise die infrastrukturelle Modernisierung in der Türkei als Erdoğans alleiniges Verdienst ansehen, während sie etwa von den Folgen der Wirtschaftsmisere oder politischer Verfolgung nicht betroffen sind.

Wie weiter mit der Türkei?

Im Falle eines Wahlsiegs für Erdoğan, was wahrscheinlich ist, ist weder in der Innen- noch in der Außenpolitik eine Wende zu erwarten. Zu befürchten ist, dass die Türkei vollends in die Autokratie abgleitet und der entfachte Nationalismus das Verhältnis zum Westen weiter belastet. Was wiederum die ausländischen Investoren und Anleger abschrecken dürfte, auf die Erdoğan angewiesen ist, um die Wirtschaft wieder auf Kurs zu bringen und das Erdbebengebiet aufzubauen. Experten zufolge steht die türkische Wirtschaft vor großen Herausforderungen: die Devisenreserven sind nahezu aufgebraucht und die Staatsausgaben enorm ausgeweitet. Kehrt Erdoğan zu einer Wirtschaftspolitik mit strikter Haushaltsdisziplin und Zinserhöhung zurück, wird er möglicherweise sein Klientelnetzwerk und Anhängerschaft verlieren.

Weitere Inhalte

ist seit April 2013 Mercator-IPC-Fellow an der Stiftung Wissenschaft und Forschung und Mitarbeiter in der Forschungsgruppe EU-Außenbeziehungen. Forschungsgebiete: Migrationsforschung und Zuwanderungspolitik; Türkeiforschung; Nationalismusforschung (Nationalismus, ethnische Konflikte, Fremdheitsproblematik, kollektive Identität); Soziale Philosophie und Politische Theorie (Theorien der Moderne/Modernisierung)