Bei Wriezen fällt das Land ab. Von der Kante des Barnimer Plateaus geht es hinunter in die Ebene. Großstädte, Autobahnen, alles liegt nun hinter den Hügeln. Selbst die Sonne hat man im Rücken. Über dem Interner Link: Oderbruch spannt sich der Abendhimmel. Man wird sehnsüchtig vor so viel Interner Link: Weite. Ewig könnte man jetzt fahren und würde doch bald gestoppt. In Zollbrücke führt die Straße direkt zum Deich, dahinter liegt der Fluss, ohne Brücke. Jenseits beginnt Polen. Man ist mitten in Europa und doch am Rand.
An einem der Deichhäuser hängt ein ausgeblichenes Blatt Papier, auf das jemand ein Montaigne-Zitat geschrieben hat: "Beim Abschied wird die Zuneigung zu den Sachen, die uns lieb sind, immer ein wenig wärmer." Ein beredter Spruch für eine Region, die Völkerwanderungen, Kolonisation, Vertreibung und Landflucht kennengelernt hat. Vor mehr als zehn Jahren, als die Oder das Land zu überschwemmen drohte, bangten die Bewohner wieder um ihre Heimat. Die Deiche hielten. Manche meinten danach, dass man die Gegend besser nicht weiter besiedeln sollte.
Auf unsicherem Boden
Tobias Morgenstern und Thomas Rühmann haben trotzdem hier gebaut. Auf unsicherem Boden eine unsichere Unternehmung: ein Theater, dem sie den einzig passenden Namen "Theater am Rand" gaben. Das Signet ihrer Spielstätte zeigt einen wegrutschenden Schriftzug. So, als könnte alles wieder im Sumpfland oder im Flusswasser verschwinden. Geschäftstüchtige Theatermanager hätten wohl zu einem grundfesteren Logo geraten. Aber hier am Rand der Theaterlandschaft spielen weder Geschäfte noch Manager eine Rolle. Nicht einmal Eintritt wird erhoben. Der Zuschauer gibt am Ende, was ihm die Vorstellung wert war. Was ist das für eine merkwürdige Bühne? Ein Luxusunterfangen zweier Künstler?
Tobias Morgenstern, Akkordeon-Virtuose, Komponist, Arrangeur und Musikproduzent, hält inne. "Luxus?", fragt er dann fast ungläubig. "Ich verstehe nicht, was daran Luxus sein soll, wenn man einem tiefen Bedürfnis folgt." Er spricht einen leisen sächsischen Singsang. Ein bedächtiger Mensch, denkt, wer ihn noch nicht auf der Bühne als Musiker gesehen und erlebt hat, wie jenes Bedürfnis nach künstlerischer Expression aus ihm herausbricht: zarte Melodie-Rinnsale, die zu einem mächtigen Strom aus Akkorden anschwellen können.
Im "Theater am Rand" sind dies die Momente, in denen auch Thomas Rühmann seine Stimme laut werden lässt. Figuren wie den Japanreisenden Hervé Joncour aus der Erzählung Seide oder die skurrilen Weibsen aus Kerstin Hensels Heimatroman Im Spinnhaus treibt der Schauspieler ihren Schicksalen und damit die Aufführungen dem Höhepunkt entgegen.
Sieben literarisch-musikalische Bearbeitungen haben Morgenstern und Rühmann im Spielplan. Darunter auch jene Romanadaptation, mit der beider Zusammenarbeit Anfang der 90er Jahre begann: Sten Nadolnys Die Entdeckung der Langsamkeit.
Während eines Kantinengesprächs im Maxim Gorki Theater, zu dessen Ensemble Rühmann damals gehörte, erzählte der Schauspieler dem Musiker zum ersten Mal von seiner Idee, die Geschichte vom langsamen, aber konsequenten Nordpolforscher John Franklin auf die Bühne zu bringen. Er fragte Morgenstern, ob er Lust hätte, die Vertonung zu übernehmen. Heute erzählt Morgenstern, dass er sich vervollkommnet gefühlt habe, als aus diesem Kantinengespräch tatsächlich ein erstes Zusammenspiel geworden war. Die Kombination von Text und Musik ergab auch für ihn "ein Ganzes".
In dem jeder seinen Platz wahrt. In dem Stück Seide ist Rühmanns Revier ein schmaler Barhocker, von dem aus er – Hände auf den Knien, Beine angewinkelt, nicht lässig, sondern konzentriert – den Erzähler gibt. Morgenstern begleitet ihn auf dem Klavier, dem Akkordeon und mit dem Sampler, aus dem er Meeresrauschen, Vogelgezwitscher oder Sturmsausen in den Zuschauerraum zaubert. Dort treffen seine digitalen Klänge dann auf einen dritten Mitspieler: die Natur.
Sie haben die Theatermacher mit in ihr ungewöhnliches Haus geholt. Ein halboffenes Rund aus mannsdicken Eichenstämmen trägt ein Holzdach, das die Zuschauer schützend umfängt gleich den Schwingen eines Vogels. Sicher wie in einem Nest soll man sich fühlen und doch von den Jahreszeiten, Wind und Wetter nicht unberührt bleiben – so hatte es sich Tobias Morgenstern eines kalten Wintertags gewünscht, als er in feuchter Oderbruchkälte auf der Wiese neben seinem alten Fachwerkhaus in Zollbrücke stand.