Natürlich fließt die Donau durch Passau, Wien und Budapest. Aber wer dort auf den Brücken steht, sollte auch an das Blut denken, das die Donau im letzten Krieg mit sich führte. Die Donau verbindet die Mitte mit dem Rand, darum ist sie der europäischste aller Flüsse – und die tiefsinnigste, klügste Erzählung, die uns die Geografie unseres Kontinents bietet.
Die Donau fließt gegen den Strom der Zeit. Sie wälzt ihr Wasser an der Neuzeit in die Vergangenheit, aus der Aktualität ins Vergangene. Je länger sie wird, desto älter wird sie. In ihrer Mündung leben tausendjährige Welse und Scharen von Pelikanen, die aussehen wie fliegende Reptilien. Hier sammelt sich der Schlamm aus dem Innern Europas.
In Murighiol weiden Vieh und riesige Eber sich selbst überlassen. In der Abenddämmerung kommen sie zu den aus Schilf errichteten Anwesen. In Caraorman baute Nicolae Ceauşescu gewaltige Anlagen, die Gold aus dem Wasser der Donau fördern sollten. Eine Handvoll Goldstaub im Jahr. Die großen Maschinen verrosten inmitten der sandigen Einöde. Sie waren nie in Betrieb. Heute verbergen sich in ihrem Schatten magere und vor Schweiß glänzende Pferde.
Ich wohne in den Karpaten, zehn Kilometer von der Wasserscheide entfernt. Auf meiner, der polnischen Seite fließen alle Flüsse in die kalte Ostsee. Auf der anderen, der slowakischen Seite, vereinigt sich das Wasser fast aller Flüsse mit der Donau, um im Schwarzen Meer zu verschwinden. Durch das Fenster sehe ich einen bewaldeten Bergrücken und weiß, dass hinter ihm noch einer ist, und dann bricht sich der Hauptgrat der Karpaten und beginnt sanft abzufallen und den Weg nach Süden zu öffnen. Dort ist die Donau. Dort bewachen tausendjährige Welse die Mündungen der drei Donauarme: Kilija, Sulina und Sfântu Gheorge.
Wenn ich von meinem Land genug habe, denke ich an die Donau. Ich gehe zur Wasserscheide und lausche den nach Süden fließenden Bächen. Ich stelle mir vor, wie Prut (Pruth), Seret (Sereth), Olt (Alt), Sava (Sawe), Theiss und Drava (Drau) ihre Strömung mit dem mächtigen Lauf der Donau verflechten. Ich bin all diese Flüsse entlanggefahren und habe ihre Mündung gesehen. Prut und Seret münden unweit von Galaţi, der Olt in Turnu Măgurele, Interner Link: die Sava in Belgrad, die Theiss in der Nähe von Interner Link: Novi Sad und die Drava ein paar Kilometer östlich von Osijek.
Die Donau selbst habe ich wohl an siebzehn Stellen überquert. Am häufigstenInterner Link: in Budapest, auf der Margaretenbrücke, der Kettenbrücke, der Elisabethenbrücke und der Petöfi-Brücke. In Novi Sad auf einer Pontonbrücke, die neben den Ruinen einer alten, bombardierten Brücke aufgebaut wurde. Am Eisernen Tor über den Staudamm. In Galaţi und Braĭla mit Fähren. In Sulina mit einem gewöhnlichen Boot. Und Dutzende Male im Traum.
Die Donau aufwärts
Im letzten Sommer bin ich die Donau aufwärts gefahren. Die Reise begann in Galaţi. Ich irrte in der Dobrudscha herum, bald entfernte ich mich vom Fluss, bald kam ich wieder näher. Im Auto hatte ich ein Zelt; ich schlief dort, wo mich die Nacht überraschte. In der Dunkelheit sah ich die brennende Steppe und hörte das Klingeln der Schafsglocken. Am Morgen rollte ich dann das Zelt zusammen, machte mir mit einem Gaskocher Kaffee und fuhr weiter in die vertrockneten Hügel. Hinter mir ließ ich das sumpfige, schwüle Delta.
Die Donau entspringt in den westlichen Hängen des Schwarzwalds. Einmal habe ich ihr dünnes Rinnsal von einem hohen Bahnviadukt aus gesehen. Ich fuhr von Zürich nach Tübingen, von der Schweiz nach Deutschland, ich fuhr durch Städte und Städtchen, die sich über Jahrhunderte ausbreiteten, mit ihren Kirchen, deren Fundamente zu Anfang des Heiligen Römischen Reiches errichtet wurden. Und immer, wenn ich im Delta oder in der Dobrudscha bin, erinnere ich mich an die Quelle des Flusses und an seinen oberen Lauf, der Wasser aus der Tiefe der europäischen Geschichte führt, die sich ununterbrochen mit der Gegenwart und der Zukunft verbindet.
Im Delta und in der Dobrudscha hat die Geschichte noch nicht richtig angefangen. Die Donau bringt Schlamm aus der Tiefe des Kontinents, aus der Tiefe der Zivilisation, und baut aus ihm ein Reich außerhalb der Zeit. Im Delta und in der Dobrudscha herrscht die Ewigkeit – und tausendjährige Welse in den Wasserbiegungen, auf Beute lauernd. Im Hochsommer erinnert dieses Gebiet an Amazonien oder Abessinien.
Kühe kühlen sich im Wasser
"Vietnam, Vietnam", sagte vor drei Jahren der Steuermann des Bootes, das mich von Sulina nach Sfântu Gheorghe brachte. Wir fuhren stundenlang durch die grünen Tunnel der Kanäle, gelb-schwarze WasserschIangen streiften die Bordwände.
In Sfântu Gheorghe, dem letzten Dorf des Kontinents, das man nur auf dem Wasserweg erreicht, war alles aus Schilf gemacht: Häuser, Zäune, Ställe, Dächer. In der Luft schwirrten Milliarden von Mücken. Hier floss der Fluss ins Meer, und man konnte deutlich die Grenze von Süß- und Salzwasser erkennen. Das Süßwasser war grünlich und trüb, das Salzwasser blaugrau und durchsichtig. Am Ufer wuchs nichts, nichts warf Schatten. Mittags suchten die Kühe Kühlung und gingen ins Meer. Sie standen bis zu den Bäuchen im Wasser und schauten Richtung Krim oder Richtung Pontisches Gebirge. Das Wasser war warm und seicht. Ich entfernte mich einige hundert Meter vom Ufer, und es reichte mir kaum bis zur Brust.
Im letzten Sommer bin ich auf der rumänischen Seite flussaufwärts gefahren. Ich schaute zum bulgarischen, dann zum serbischen Ufer hinüber. Im Radio erwischte ich bulgarische und serbische Sender. Ich schlief nördlich vonInterner Link: Turnu Severin. Zwischen grünen Hügeln schlug ich mein Zelt auf. Am Morgen überquerte ich die Donau auf dem Staudamm am Eisernen Tor, in Porţile de Fier. Der Staudamm war gigantisch und verlassen. Nur ich wollte nach Serbien. Millionen von Tonnen Beton hielten den Ansturm des Wassers auf. Ich stellte mir vor, dass sie den ganzen Fluss vom Eisernen Tor bis zum Schwarzwald aufhielten.
Ich fuhr zwischen energetischen Konstruktionen, Gittern und Stahlzäunen. Man durfte nicht anhalten, man durfte keine Fotos machen. Auf der anderen Seite saßen Serben in Uniformen. Sie saßen mit ausgestreckten Beinen auf ihren Stühlen. Einer von ihnen stand unwillig auf und sah sich gelangweilt meinen Pass an. Man sah, dass sie Fremde nicht mochten. Aber sie konnten auch nicht ohne Fremde leben – wem hätten sie sonst ihre Trägheit und verächtliche Gnade demonstrieren sollen. Ein schläfriger Junge begoss die Autoräder mit einer Flüssigkeit und nahm drei Euro dafür. So begann Serbien. Bald musste ich den Fluss verlassen, denn ich fuhr nach Süden, Richtung Mazedonien.
Ich weiß nicht, wie viele Male ich die Donau schon gesehen habe. Sicher Dutzende Male. Von den großen Flüssen habe ich nur meine heimatliche Weichsel öfter gesehen. Der Donau entkommt man nicht. Um das zu schaffen, müsste ich aufhören, nach Süden zu reisen, aber ich kann nicht in eine andere Himmelsrichtung fahren. Ich überschreite die Wasserscheide der Karpaten und trudele ins Donaugebiet hinunter. Manchmal bleibe ich auf der Seite der linken Zuflüsse, aber wenn ich mehr Zeit habe, fahre ich ans rechte, balkanische Ufer. Auf diese Art kommt mir sogar Buda ein bisschen wie Balkan vor. Es ist etwas dran, denn wenn man im Sommer über die Hügel von Buda spaziert, ist es schwer zu glauben, dass da unten nicht die Adria rauscht. Aber das ist meine ganz private Ansicht, die Ansicht eines Menschen von der anderen, nördlichen Seite der Karpaten. Die Budapester haben in der "Balkanfrage" eine etwas andere Meinung.
Jedenfalls ist es, wenn man auf die andere Seite will, am bequemsten, in Budapest über eine der fünf oder sechs Brücken zu fahren. Dann nur noch drei bis vier Stunden, Grenzübergang Udvar-Kneževo, und wir sind in Baranja. Der kroatische Schriftsteller Mirko Hunyadi behauptet, "der Vater von Baranja ist die Donau, die Mutter die Drau". Das Gebiet liegt am Zusammenfluss der beiden Flüsse.
Vergangenen Winter machte ich dort zwei Tage halt, als ich nach Bosnien fuhr. Es gab keinen Schnee, die Sümpfe waren nicht vereist. In dem Wassergebiet waren Kolonien von Kormoranen. Die Landschaft war vollkommen flach. Die schmale Straße verlief auf einem Damm, und von dieser Höhe aus konnte man den unendlich fernen Horizont sehen. An die Donau kam man jedoch nicht heran. Morast und endlose Felder trockenen Schilfs trennten sie von mir. Ich wusste, dass sie im Osten war, dort, wo der Himmel die Farbe wechselte und die Wolken die Form.
Wenn man das Auto stehen ließ und an den Rand der Sümpfe heranging, lagen überall Exkremente von Hirschen. Bestimmt gab es in dieser Gegend mehr Tiere als Menschen. In Kopačevo, einem Dorf an einem toten Flussarm, standen Kriegsruinen. Zwischen den Mauern wuchsen schon junge Bäume. Niemand kümmerte sich darum. Die Lehmmauern, der Dächer beraubt, wurden von Feuchtigkeit zersetzt. Jemand hatte all das verlassen, um nie mehr zurückzukehren. Dreißig Kilometer weiter war Vukovar. Ich konnte mir mühelos die Leichen im seichten Wasser vorstellen. So ist die Donau: Sie entspringt im Schwarzwald, wälzt ihr Wasser durch Wien, und dann führt sie Leichen. Am nächsten Tag verließ ich sie, weil ich weiter in den Süden fuhr.
Interner Link: Aber selbst in Bosnien kann man nicht aufhören, an sie zu denken, denn die Mehrzahl der Gewässer dieses Landes fließen in den Flussbetten von Sava, Vrbas, Bosna und Drina Richtung Donau. Den gleichen Weg floss das Blut. Und so sollten unsere Gedanken fließen, wann immer wir in Budapest, Bratislava oder Wien eine Brücke überqueren. Zumindest das können wir tun.
Denn die Donau ist ein Fluss des Nachdenkens, der Meditation: Sie führt Dinge mit sich, die unvereinbar scheinen. Wir steigen in ein Boot in einer von Wohlstand und Frieden gesegneten liberalen Demokratie, um einige Zeit später in eine Gegend zu gelangen, wo noch vor kurzem die blutigste Gewalt herrschte, wo Brutalität, Rache, Brandruinen und Armut am helllichten Tag schamlos umhergingen.
So ist die Donau. Wenn wir an ihrer Quelle stehen, denken wir an ihre Mündung; während wir noch schauen, wie sie im Meer versinkt, gehen wir in Gedanken flussaufwärts. Denn sie ist der europäischste aller Flüsse, sie ist die tiefsinnigste, klügste Erzählung, die uns die Geografie unseres Kontinents bietet.
Ja, 2.850 Kilometer Länge und 817 Quadratkilometer Einzugsgebiet – das ist genug zum Nachdenken. Für unseren kleinen Taschenkontinent ist das eine reife Leistung. Wir sollten einmal im Jahr an den Wassern der Donau einen alten, heidnischen Brauch abhalten. Wir sollten uns am Ufer aufstellen, uns an den Händen nehmen und ins Unterbewusstsein des Kontinents blicken.
Wir sollten direkt ans Wasser gehen und eintauchen. Wir sollten uns mit Schlamm beschmieren. Vielleicht irgendwo in Rumänien, irgendwo in der Walachischen Tiefebene, wo auf den flachen Wiesen Viehherden weiden, wo die Kühe bis zu den Knien im Wasser stehen, zum bulgarischen Ufer hinüber schauen, den Schwanz heben und in die grüne Strömung scheißen. Wie vor Jahrhunderten. Vielleicht sollten wir uns dort treffen, um nicht den mit Schlammgeruch gemischten Gestank der Tiere zu vergessen, um nicht zu vergessen, woher wir kommen.
Europas Mitte, Europas Rand
Ich schaue auf die Landkarte und sehe, dass ich bis jetzt fast ausschließlich im unteren Lauf des Flusses herumgereist bin. Eben dort, wo man all das sehen kann, was bald verschwinden wird, all das, was wir als Anachronismus betrachten. Wie das herrenlose Vieh in der Walachischen Tiefebene oder im Delta. Denn die Donau ist für mich der Fluss der Erinnerung. Es geht nicht um persönliche Erinnerungen, sondern um das Gedächtnis unserer "europäischen Gattung". Ich bin hauptsächlich durch das Gebiet des unteren Laufs gefahren, denn dort kann ich dem "Alten" begegnen, das gleichzeitig das "Jüngere" ist, weil es den Weg der Zivilisation langsamer zurücklegt, mit Verzögerung, mit einer gewissen Trägheit, weil es seiner Bestimmung langsamer entgegengeht.
Vor einiger Zeit spazierte ich über die Uferpromenade in Passau. Am Kai lagen luxuriöse Ausflugsschiffe. Das ukrainische hieß "Odessa", das rumänische "Dunarea". Sogar ein russisches Schiff war da, obwohl die russische Anwesenheit an der Donau schon der Vergangenheit angehörte. Ich glaube, es hieß "Fürstin Anna". Durch die großen Fenster konnte man die dunkle Holztäfelung, weiße Tischdecken und Blumensträußchen sehen. Einige Ausflügler saßen in Sesseln auf dem offenen Deck und betrachteten die barocke Schönheit der Stadt. Sie hüllten sich in Decken, denn die Oktobersonne war nicht mehr sehr warm. Sie sahen aus wie reiche Rentner.
Die Schiffe lagen mit dem Bug stromaufwärts. Über das Fallreep wurden Kisten von Cola und Bier geliefert. Ich hätte schwören können, dass irgendwo aus der "Odessa" oder der "Dunarea" der Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee kam. Ich beneidete die Rentner. Ich stellte mir die langsame Reise flussaufwärts vor, die irgendwo bei Braila, vielleicht sogar in Sulina, der letzten europäischen Stadt, begonnen haben mochte.
Dort, bei Sulina, sah ich einmal bei Sonnenuntergang ein türkisches Schiff, das aufs offene Meer hinausfuhr. Es transportierte auf verschiedenen Decks Schafe, Hunderte, vielleicht Tausende von Schafen. Es fuhr auf die sich im Wasser spiegelnde rote Scheibe zu, mit dem Geruch von Heu und dem Blöken der Schafe.
Ich spazierte auf der Promenade dieser barocken Stadt in der Mitte Europas, und Bilder von Europas Rand drängten sich mir auf. Von dort kamen die Schiffe. Dort lebte in einer Schilfhütte in den Sümpfen Mitka. In einem Schilfgehege quiekten Schweine. Sie liefen wie Hunde auf Mitka zu. Irgendwo im Morast weidete Vieh, um dessen Schicksal Mitka sich nur mäßig sorgte, wahrscheinlich kannte er nicht einmal seine genaue Zahl. Wir tranken rumänischen Slibowitz, Mitka holte ein Gewehr und schlug vor, wir könnten ein wenig schießen, unter der Voraussetzung, dass ich die Munition bezahle. Aber ich wollte die abendliche Stille nicht stören. Im Licht einer Petroleumlampe sah ich an der Wand ein verblasstes Zeitungsfoto von Ceauşescu.
Ich glaube, ich könnte mich ohne Ende an diese Donauepisoden erinnern. Der Gedanke ruht an diesem oder jenem Ort, und die Strömung reißt ihn immer wieder weg, treibt ihn in die Tiefe der Erinnerung, verschmelzt ihn mit den Strudeln früherer Ereignisse, die nach Jahren wundersamen Fantasien gleichen. Ja, die Donau trägt außer ihrem Wasser auch unsere Gedanken, unsere Wünsche und Träume; und sie werden zur Beute der tausendjährigen Welse, die im schlammigen Labyrinth des Deltas lauern.
Andrzej Stasiuk ist einer der bekanntesten Schriftsteller Polens. Zu seinem wichtigsten Büchern gehören Dukla, Unterwegs nach Babadag oder Hinter der Blechwand. Stasiuk wurde 1995 für Unterwegs nach Babadag mit dem Nike Preis für das wichtigste Buch Polens ausgezeichnet. Er lebt in Wołowiec, wo er mit seiner Frau Monika Sznajderman den Verlag Czarne betreibt. Wir danken der Zeitschrift DU in Zürich für die freundliche Abdruckgenehmigung