Nach dem Hochwasser von 1997 wurden an der Oder nicht nur neue Deiche gebaut. Der Fluss soll auch für die Schifffahrt ertüchtigt werden. Deutsche, polnische und tschechische Umweltschützer stellen der Zukunft einer Wasserstraße die Vision eines naturnahem Flussraums entgegen.
Im Jahre 1999 wurde ich von Kollegen gebeten, den Widerstand in der Uckermark gegen den Ausbau der Hohensaaten-Friedrichsthaler-Wasserstraße, abgekürzt HoFriWa, zu unterstützen. Dort waren sie noch im Rausch der Nachwendezeit und hatten in der Hoffnung auf "blühende Landschaften" in Schwedt, etwa fünfzig Kilometer südlich des alten Ostseehafens Interner Link: Stettin, einen Seehafen gebaut. Nun sollte die Anbindung an die Oder erfolgen. Den zweiten Schritt vor dem ersten machen: Diese Praxis ist in den neuen Bundesländern bis heute Usus. Nur hat der 3,7 Milliarden Euro teure Ausbau in Häfen und Wasserstraßenausbau keinen zusätzlichen Verkehr gebracht.
Deutscher Ausbau der Oder
Im Gegenteil: Nach dem Zusammenbruch der Industrie in den neuen Bundesländern sind auch die Schiffsverkehre stark zurückgegangen. Nach den Aussagen einer vom Bundesverkehrsministerium in Auftrag gegebenen Prognose werden sich die Verkehre allenfalls auf dem jetzigen Niveau halten. Gleichwohl war der Bau des Seehafens für die ehemals größte Industriestadt in Nord-Ost Brandenburg so etwas wie der letzte Strohhalm, um den Bevölkerungsschwund und den Niedergang der Wirtschaft nach der Wende aufzuhalten. Da sollte auch ein Nationalpark kein Hindernis sein. Der störte nur, denn der Ausbau der HoFriWa sollte unmittelbar in das Totalreservat des Nationalparks Unteres Odertal eingreifen, Deutschlands einzigem Auen-Nationalpark.
Was auch störte, wären die Abstimmungen auf internationaler Ebene mit den polnischen Behörden gewesen. Polen war damals noch nicht Mitglied in der EU. Deshalb ging die deutsche Seite den Weg des geringsten Widerstands. Sie plante nicht die Befahrung der Grenzoder, sondern den Ausbau der parallel verlaufenden HoFriWa, die komplett auf deutschem Gebiet liegt. Was danach kam, würde man sehen. Aus alten Plänen der Vorkriegszeit wusste man immerhin, dass die Oder für die Weiterfahrt Richtung Stettin tief genug war. Was man aufgrund der fehlenden Absprache mit den polnischen Behörden nicht sah: Die Schwenkbrücken in Stettin waren mittlerweile festgeschweißt worden, eine Durchfahrt mit Küstenmotorschiffen von und nach Schwedt war unmöglich.
Auch Polen setzt auf Wasserstraßen
Nach der großen Oderflut 1997 wurde von polnischer Seite der Hochwasserschutzplan "Programm für die Oder 2006" vorgelegt. Viel Papier für technischen Hochwasserschutz war das aus unserer Sicht, und ohne jede Finanzierungsgrundlage. Offenbar hoffte man, dass die EU den Großteil der Kosten übernehmen würde. Naturschutz kam in diesem Programm praktisch nicht vor. Was Umweltschützer jedoch noch mehr kritisierten: Unter dem Deckmantel des Hochwasserschutzes sollte auch in Polen der Ausbau der Oder für "große Rheinschiffe" forciert werden. Wie die deutschen, so haben auch die polnischen Behörden und Lobbyisten ihre Träume: die ganzjährige Schifffahrt von Stettin nach Breslau.
Oberhalb von Breslau hatten die Deutschen vor dem Krieg schon alles kanalisiert, sogar ein Anschlussstück zu einem Verbindungskanal zur Donau war gebaut worden. Jetzt sollte der restliche Ausbau kommen. Transporte? Die kommen dann schon, wenn die Infrastruktur steht. So lautet die Hoffnung in Deutschland wie in Polen. Dabei hat die parallel verlaufende Bahnstrecke genügend freie Kapazitäten.
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Die Passagierboote gehen von Frankfurt aus zweimal wöchentlich, Mittwoch und Sonnabend, und machen die Fahrt nach Küstrin in zwei, nach Schwedt in acht, nach Stettin in zehn Stunden. Die Benutzung erfolgt mehr stationsweise und auf kleineren Strecken als für die ganze Tour. Schon deshalb, weil die Eisenbahnverbindung die Reisenden eher und sicherer ans Ziel führt. Eher und allen Umständen, und zwar umso mehr, als es bei niedrigem Wasserstande vorkommt, dass die Fahrt auf Stunden unterbrochen oder gar wohl ganz eingestellt werden muss. (…) Flussregulierungen sind nicht unsre starke Seite.
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Die Oder ist ein edles Bauernweib. Mit stillen, sicheren Schritten geht sie durch ihre Lande. Kalk- und Kohlestaub liegen manchmal auf ihrem Kleid, zu ihrem einförmigen Lied klopft der Holzschläger den Takt. Sie hat immer Arbeit, schleppt ihren Kindern Kohle und Holz, Getreide und hundertfachen Lebensbedarf ins Haus. Zu Grünberg nippt sie ein gutes, bescheidenes Haustränklein. Die bei ihr wohnen, sind geborgen und glücklich, und wenn sie ans Meer kommt, breitet sie angesichts der Ewigkeit weit und fromm ihre Arme aus.
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Die Oder, der Fluss, der von weither kommt (…) Hier geschieht das Vollkommene nicht, hier bändigt niemand zu edlem Maße das Ungebärdige, und das Dunkle ist wie vor der Schöpfung ungeschieden vom Hellen.
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Ich ging weiter über die Brücke. Rechts neben mir war ein Gitter. Unter mir war ein Fluss. Ich ahnte sofort, dass der Fluss Oder hieß, und ich stellte mich erst mal an das Gitter, um in die Oder zu spucken. Nach Möglichkeit spucke ich von jeder Brücke, vorausgesetzt, unter der Brücke ist Wasser.
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Die Oder ist wie eine Enzyklopädie. Zwischen Mährischer Pforte und Oderhaff bekommt man fast alles zu sehen, was die Welt Mitteleuropas zu bieten hat.
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Es flanieren viele Leute entlang der Oder. In Frankfurt sind das eher Rentner, die viel Zeit haben und die schönen Aussichten und den schönen Boulevard genießen. In Slubice sind es eher Leute, die Hunde haben, da der Oderdamm eine hervorragende Hundespazierstätte ist. Mit der Zeit wird es sich so entwickeln, nehme ich an, dass die Strecken sich verzweigen werden. Die Rentner werden über die Brücke gehen und ihren Spaziergang auf der polnischen Seite fortsetzen. Und die Hundefreunde werden in den Hundeladen in den Oderturm gehen, wo sie gutes Futter kaufen können. Und das ist auch richtig so.
Frei fließender Fluss
Die Konsequenzen für die Oder wären drastisch. Die Oder ist in Mitteleuropa der einzige größere Fluss, der oberhalb der Mündung auf einer Länge von 600 Kilometern keine Querverbauung aufweist. Da die Oder nach 1945 zum Grenzfluss zwischen Deutschland und Polen wurde, sind auch die Ausbaupläne der Vorkriegszeit nicht weiter verfolgt worden. Dadurch wurde der Trend – Ausbau der Flüsse für immer größere Schiffe – angehalten.
Auch die Unterhaltung wurde, in Ermangelung von Finanzen, auf ein Minimum reduziert. Die Oder konnte sich deshalb einen Teil ihrer Ufer wieder zurückholen und eine Natürlichkeit bewahren, die bei den Flüssen im Westen Deutschlands schon lange nicht mehr vorhanden ist. Der von der polnischen Seite geforderte Ausbau wäre aber das Ende des frei fließenden Flusses gewesen. Der Grund: Eine ganzjährige Schifffahrt ist nur durch den Bau zahlreicher Staustufen, besonders auch im Grenzoderbereich, möglich.
Schwierige Zusammenarbeit der Umweltschützer
Das war also die Ausgangssituation, in der sich Umweltschützer und Verbände in Deutschland und in Polen befanden. Was aber war zu tun? Am Anfang standen vor allem Schwierigkeiten. Eine Kommunikation zwischen den Umweltverbänden beiderseits der Grenze hatte es in den neunziger Jahren praktisch nicht gegeben.
Das hatte natürlich auch mit dem Strukturwandel zu tun. Im dünn besiedelten Odertal waren nach der Wende andere Dinge wichtiger als der Naturschutz. Trotzdem gab es ja auch schon vorher Aktivitäten beiderseits der Grenzen. Nur eine Zusammenarbeit gab es nicht. Neben der Sprachbarriere und der unterschiedlichen Streitkultur spielte auch die schwierige Geschichte zwischen Deutschen und Polen eine Rolle.
Was uns aber half, waren die Erfahrungen der Zusammenarbeit im "Aktionsbündnis gegen den Havelausbau". Dort haben 34 Organisationen und Bürgerinitiativen sehr erfolgreich zusammengearbeitet. Darauf wollten wir bei einem ähnlichen Bündnis an der Oder zurückgeifen.
In Polen hatte sich zu dieser Zeit bereits das Aktionsbündnis "Koalicja - Czas na Odrę" (Bündnis Zeit für die Oder) gegründet. Hervorgegangen war es auf Initiative der Niederschlesischen Stiftung für ökologische Entwicklung in Breslau und des polnischen WWF. Die Umweltbewegung in der aufstrebenden Stadt Breslau mit ihrer großen Universität war recht stark. Außerdem waren dank der Projektarbeit des WWF zur Erstellung des Oder-Auenatlas schon viele Umweltorganisationen und einzelne Naturschützer an der polnischen Oder eingebunden worden.
Unser Kontakt zum polnischen Bündnis kam zustande, als sich die drei Umweltverbände BUND (Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland), die DUH (Deutsche Umwelthilfe) und die Grüne Liga auf Grund der bedrohlichen Ausbausituation der Oder an die in Breslau sitzende "Internationale Kommission zum Schutz der Oder vor Verunreinigung" (IKSO) mit der Bitte wandten, in diese Kommission aufgenommen zu werden. Was am Rhein schon seit langem eine Selbstverständlichkeit war, stieß in Polen aber auf zahlreiche Widerstände. Umweltverbände, zumal deutsche, die in einer übergreifenden staatlichen Kommission dabei sein wollten? Das war für die Behörden aus der ehemaligen Planwirtschaft keine Selbstverständlichkeit – und führte offensichtlich zur Verunsicherung. Was wollten deutsche Umweltverbände an der polnischen Oder?
Das Bündnis Zeit für die Oder
Unabhängig davon gründeten wir 2001 die deutsche Sektion des Aktionbündnisses "Zeit für die Oder". Im gleichen Jahr wurde dann das internationale deutsch-polnisch-tschechische Aktionsbündnis "Zeit für die Oder" mit dreißig Organisationen aus der Taufe gehoben.
Auch eine Professionalisierung der Arbeit war nun möglich. Mit Hilfe von Fördermitteln der Deutschen Bundesstiftung Umwelt konnte der Landesverband Berlin des BUND für zwei Jahre eine internationale Servicestelle bereitstellen. In Abstimmung mit den nationalen Koordinationsstellen des Bündnisses an der 860 Kilometer langen Oder konnten wir so die Kommunikation gewährleisten und die Aktionen koordinieren.
Die Stärke des Bündnisses war wie erwartet die gemeinsame Präsenz in der gesamten Oderregion. Wir informierten und mobilisierten die Öffentlichkeit über Presse, Radio, Fernsehen und Internet und überraschten damit Ausbaubefürworter und Behörden auf beiden Seiten der Grenze. Diese Form des Widerstandes war für alle Beteiligten neu, was uns natürlich freute. Sie zeigte, dass es nicht um eine deutsche und eine polnische Oderdiskussion ging, sondern dass deutsche und polnische Umweltschütze gegen deutsche und polnische Ausbaupläne kämpften.
Sehr zur Verblüffung der polnischen Wasserwirtschaft gelang es uns, nach illegalen Ausbaumaßnahmen auf der polnischen Seite der Grenzoder bei Hohensaaten die Europäische Union einzuschalten. Das Bündnis zeigte den Wasserbauern also Grenzen auf, denn die Oder war seit Polens EU-Beitritt 2004 auch ein europäischer Fluss, der der Gesetzgebung der EU unterlag. Die Politik konnte das grenzüberschreitende Bündnis der Umweltschützer nicht mehr ignorieren und musste öffentlich Stellung beziehen – die Wogen gingen bis Berlin, Warschau und Brüssel. Das Ergebnis: Bislang wurden weder die HoFriWa, noch die Stromoder ausgebaut. Nicht überall war das Bündnis so erfolgreich: der natürliche Hochwasserschutz durch Rückdeichungen konnte nicht durchgesetzt werden, obwohl nach der großen Jahrhundertflut 1997 das Wort: "Gebt den Flüssen ihren Raum" in aller Munde war.
Und die nächste Herausforderung steht bereits bevor. Nun planen deutsche und polnische Wasserbaubehörden die Vertiefung der Grenzoder, angeblich um einen besseren Einsatz der großen polnischen Eisbrecher zu gewährleisten. Wiederum ein weiterer verdeckter Ausbauversuch für die großen Rheinschiffe.
Aber das Bündnis schläft nur.
Chronologie
1997: Jahrhunderthochwasser an der Oder. In Polen und Tschechien sterben über 100 Menschen.
1999: Ausbau des Schwedter Oderhafens für Küstenmotorschiffe. Allerdings fehlt die Anbindung nach Stettin und oderaufwärts.
2001: Der polnische Sejm und die Regierung in Warschau beschließen das "Programm für die Oder 2006". Darin geht es weniger um den Hochwasserschutz als den Bau von Staustufen und eine Regulierung der Oder.
2001: Deutsche, polnische und tschechische Umweltschützer gründen das Bündnis "Zeit für die Oder".
2004: Mit dem Beitritt Polens zur EU bekommt auch Brüssel Mitsprache. Die EU weigert sich bislang, die polnischen Ausbaupläne zu finanzieren.
Winfried Lücking ist der Gewässerspezialist des BUND und Leiter des BUND-Flussbüros. Über Jahre hat er auf der deutschen Seite die Arbeit des Bündnisses "Zeit für die Oder" koordiniert und die Zusammenarbeit mit den polnischen und tschechischen Umweltschützern vorangetrieben.