Am 14. Juni 1985 unterzeichneten Vertreter von fünf EU-Mitgliedstaaten in einer kleinen Zeremonie auf einem Moselschiff ein Abkommen, das seither Berühmtheit erlangt hat: das so genannte Schengener Abkommen. Der Ort an sich, ein kleines luxemburgisches Winzerdorf, war sicherlich weniger wichtig als der Umstand, dass er im Dreiländereck Deutschland, Frankreich und Luxemburg gelegen war. Denn das Abkommen, das erst 1995 in Kraft trat, beschloss den zukünftigen Abbau der Grenzen und die Einführung eines freien Personen- und Warenverkehrs. Schengen symbolisiert somit Grenzlage und Grenzüberschreitung, und am Moselufer in Schengen steht heute ein Europadenkmal, das an den Abschluss des Abkommens erinnert. Die Wahl des Ortes verweist darauf, dass die Europäische Union ursprünglich ein west- und südeuropäisches Projekt war. Welchen Ort und welchen Fluss hätte man nach 1990 für ein solches Abkommen gewählt – einen Ort an Oder, Elbe oder Donau?
Flüsse als europäische Erinnerungsorte
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Dass Flüsse ein hohes metaphorisches Potential haben, wissen wir aus der Antike. Dass sie politisch und national aufgeladen werden können, hat das 19. Jahrhundert gezeigt. Seit dem Ende des Kommunismus stehen sie aber auch für das Zusammenwachsen Europas.
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Der Schengener Vertrag auf der Mosel
Während Schengen seitdem berühmt geworden ist (und für Menschen aus vielen Ländern, die das Abkommen nicht unterzeichnet haben, auch berüchtigt), wird der Moselfluss weniger mit dem Ereignis und dem Abkommen assoziiert. Die Zeremonie und die Zeremonienmeister von 1985, über die weder das Gemeindeamt von Schengen noch die Presse Wesentliches wissen oder preisgeben, wählten die Mosel und ein Moselschiff sicherlich nicht zufällig aus. Die Mosel war nicht nur ein französisch-luxemburgisch-deutscher Fluss, also ein Fluss, der die europäische Überwindung nationaler Grenzen in hohem Maße symbolisierte; sie war auch ein geschichtsträchtiger Fluss. Denn wer europäische Geschichte reflektieren und konstruieren wollte, konnte auf die Zugehörigkeit des Flusslaufes zum Römischen Reich und vor allem auf seine zentrale Lage im fränkischen Reich bis zu seiner Teilung im Jahr 843 verweisen. Ob diese historischen Bezüge 1985 hergestellt wurden oder nicht, wissen wir nicht, zumal es bisher keine umfassende Gedächtnisgeschichte der Mosel gibt.
Doch auch so lässt sich feststellen, dass 1985 nicht nur Schengen, sondern auch die Mosel neu als ein spezifisch europäischer Erinnerungsort geschaffen wurden. Zeremonien oder rituelle Praktiken, zu denen im Fall Schengens und der Mosel auch eine Feier zum 25-jährigen Jubiläum des Abkommens 2010 gehörte, und Gedächtnisträger wie Gedenksteine schaffen und stabilisieren Erinnerungsorte. Der Fluss selbst, die Flussufer, die Orte am Fluss sind dabei kommunikative Elemente eines komplexen Ortes.
„Sie wissen, ich habe oft gesagt, ich liebe Flüsse. Über Flüsse werden sowohl Ideen als auch Waren befördert. Alle Phänomene der Schöpfung haben ihre großartige Aufgabe. Flüsse, riesigen Trompeten gleich, singen dem Ozean das Lied von der Schönheit der Erde, der Feldbestellung, der Pracht der Städte und der Menschen Ruhm.“
„Der Zug der Zeit ist ein Zug, der seine Schienen vor sich her rollt. Der Fluss der Zeit ist ein Fluss, der seine Ufer mitführt.“
„Sollte es sich erweisen, dass Staatsgrenzen entgegen allen Erwartungen beweglich und Fremdsprachen problemlos erlernbar sind, dass Hautfarbe und Form der Wangenknochen nur unter ästhetischem Gesichtspunkt eine Rolle spielen und dass wir uns in jeder beliebigen Stadt und in jedem Hotel genauso zurechtfinden können wie in jedem Buch, ganz gleich wie exotisch der Name des Autors klingt, falls wir also aufgrund irgendeiner Verwirrung völlig unsere Orientierung verlieren sollten, dann rate ich jedem, sich auf den eigenen Fluss zu besinnen.“
„Flüsse sind zweifellos ein Segen für diese Welt. Besser gesagt: Sie könnten ein Segen werden, wenn wir mit der Welt behutsamer umgingen. Wie alle im Sternzeichen Fisch Geborenen lasse ich mich vom Flusswasser hypnotisieren, besonders im Sommer. Nein, auch Seen haben ihre Vorzüge, ein See ist genauso wunderbar. Aber jetzt geht es mir um die Strömung, ihre Anmut und Elastizität, die Möglichkeit, im Wasser und mit dem Wasser zu schwimmen, ganz zu schweigen von der anderen, genauso verführerischen – den Widerstand der Strömung zu überwinden. Sorry, wenn Ihnen das wie eine Metapher erscheint.“
„Wer den Fluss achtet, achtet auch seinen Nächsten.“
Erinnerungsorte und Gedächtnisgeschichten
Für die Kennzeichnung eines Flusses wie der Mosel als eines europäischen Flusses und Erinnerungsortes reicht der bloße Flusslauf durch drei verschiedene Länder Europas aber nicht aus. Ein bewusster oder expliziter europäischer Bezug sollte hinzukommen, die Zuschreibung einer europäischen Bedeutung, die von einem Publikum geteilt wird. Rituelle Praktiken wie die von 1985 oder 2010 können entweder einen europäischen Erinnerungsort schaffen oder – wenn sie auf andere vergangene Ereignisse am gleichen Ort Bezug nehmen und diese umdeuten – eine Gedächtnisgeschichte eines Ortes schreiben, wie sie der französische Historiker Pierre Nora bereits in den 1980er Jahren vorschlug.
Erinnerungsorte sind ja nicht nur geographische Orte, sondern zeichnen sich auch durch Symbolhaftigkeit und ihre Funktion aus. Eine Gedächtnisgeschichte bricht den unmittelbaren Bezug auf Vergangenes, der in der Literatur in Anlehnung an den französischen Soziologen Maurice Halbwachs auch als "lebendiges Gedächtnis" bezeichnet wird, und ersetzt sie durch eine spezifische Geschichte des Gedächtnisses. Dabei haben sich historisch die Medien, die Erinnerungen speichern und verbreiten, gewandelt. Lange dominierte die mündliche Weitergabe, in der Neuzeit die schriftliche Form, seit dem 20. Jahrhundert haben Visualisierungen deutlich an Bedeutung und Verbreitung gewonnen. Auch das Denkmal in Schengen gehört dazu.
Eine europäische Tradition
Warum sind Flüsse historisch offenbar besondere "Sinnbilder der Identitätsfrage" (Claudio Magris) geworden? Haben Flüsse nur in der europäischen Geschichte eine hohe symbolische Bedeutung erfahren, oder worin unterscheidet sich diese von Flüssen in anderen Weltregionen? Selbstverständlich sind auch Berge, Meere, Wüsten, Bäume und Seen Erinnerungsorte beziehungsweise potentielle Erinnerungsorte. Fast allen Orten – natürlichen wie künstlichen – kann Erinnerung angelagert werden, können menschliche Erfahrungen zugeschrieben werden. Doch Flüsse eignen sich anscheinend besonders dafür, individuelle und kollektive menschliche Grunderfahrungen wie Leben und Tod oder Abgrenzung und Soziabilität beziehungsweise Grenzbildung und Grenzüberwindung räumlich und symbolisch abzubilden.
Diese universale symbolische Dimension verband sich in der europäischen Geschichte mit einer spezifischen kulturellen Tradition. Immer wieder wird seit der europäischen Antike die symbolische Dimension der Flüsse betont, und so sind bestimmte Flüsse über die Jahrhunderte zu kulturellen Mustern geworden, die Erfahrungen und Erwartungen ordnen oder auf bestimmte kulturelle Möglichkeiten verweisen. Seit der griechischen Antike wird Heraklit die Äußerung zugeschrieben, niemand könne zweimal in denselben Fluss steigen, ein Bild für den Wandel und die Einheit des Lebens. Der Fluss Styx teilt in der griechischen Mythologie die Unter- von der Oberwelt und kann nur durch den Fährmann Charon überquert werden; trinkt man das Wasser des Unterweltflusses Lethe, so vergisst man alle Erinnerungen.
Der Nil ist seit der europäischen Antike als fluviorum pater und vitalistischer Fluss im europäischen Bewusstsein verankert, der Tiber als der imperiale Strom (Simon Schama), der Jordan als der spirituelle Fluss, Ort der Taufe Jesu und Symbol der moralischen Ordnung des Judentums. In der biblischen Tradition gehörten dazu neben dem Jordan der See Genezareth, Jerusalem, der Ölberg, das Land Kanaan und viele andere Orte. Die Flüsse waren so seit der Antike Teil eines umfassenden Repertoires an Personen, Orten und Landschaften, Ereignissen und Erzählungen, auf die man sich immer wieder und in unterschiedlicher Weise bezog.
Es lässt sich hierin ein spezifisches symbolisches Flusssystem oder -bezugssystem erkennen, das sich so nur in der europäischen Tradition herausbildete. Allerdings handelte es sich nicht um ein abgeschlossenes System, sondern es konnten sowohl neue Flüsse als Erinnerungsorte eine besondere symbolische Bedeutung erlangen als auch bekannte Flüsse neue symbolische Bezüge erhalten. In der Renaissance und in der frühen Neuzeit erfuhren die Quellen der Flüsse eine besondere Aufmerksamkeit, vielleicht weil die gelehrte Literatur der Zeit an der Überprüfung der Bibelpassage Genesis 2:10-14 interessiert war, nach der sich der Paradiesfluss in vier Hauptflüsse (Pischon, Gihon, Tigris und Euphrat) teilte. Die mittelalterlichen Weltkarten stellten das Paradies abgetrennt von der Welt dar, und der Paradiesfluss trennte sich beim Austritt aus dem Paradies in die vier Flüsse. Daraus ergaben sich eine Reihe heikler Fragen, etwa die nach der Identifikation der beiden Flüsse Pischon und Gihon oder die nach der Lokalisierung des Paradieses, über die man mit Hilfe der Kenntnis der genauen Quellenlage der großen Flüsse Aufschluss erhoffte. Eine Variation dieser Vorstellung findet sich etwa in der Cosmographia von Sebastian Münster (Erstausgabe 1544), die den Ursprung der Donau auf die Sintflut zurückgeführt hat.
Die Kenntnis des Flusses wird so auch zum Sinnbild für die Welterkenntnis, nicht nur der Selbsterkenntnis. So wirkte sich der zeitgenössische Wissenshorizont immer auf die Ausprägung der Flüsse als Erinnerungsorte aus. Der Vierströmebrunnen von Gian Lorenzo Bernini, der in der Mitte des 17. Jahrhunderts auf der römischen Piazza Navona im päpstlichen Auftrag entstand, gehört zu den großen figürlichen Allegorien der vier Ströme, die hier jedoch nicht mehr die vier Paradiesströme sind, sondern Donau, Ganges, Nil und Rio de la Plata darstellen und damit auf die vier damals bekannten Kontinente verweisen.
Flüsse als Erinnerungsorte von oben
Auch die Symbolisierung der Donau reicht bis in die europäische Antike zurück. In der Frühen Neuzeit und für seine Deutung als europäischer Fluss ragt jedoch die Darstellung von Sebastian Münster auf der allegorischen Karte Europa als Königin aus der Mitte des 16. Jahrhunderts heraus. Wie eine Hauptarterie fließt die Donau hier von Germanien am Oberkörper nach Bulgarien am Saum beim Fußende hinab, wo sich der Fluss in vier Mündungsarmen ins Schwarze Meer ergießt.
Wien als die Hauptstadt des neuen und bald weltumspannenden Habsburgerreiches hebt die Darstellung zwar nicht hervor. Aber Flüsse wie die Themse oder die Seine, an denen Haupt- oder Residenzstädte lagen, werden nun immer mehr zu Repräsentationsorten monarchischer Herrschaft, wie die Themse seit Elisabeth I. in der Mitte des 16. Jahrhunderts, die der englische Historiker Peter Ackroyd als "the river of pleasure, and the river of spectacle" beschreibt.
Der Fluss wird nun in neuen Versen besungen, vertont und gemalt, wie die Themse von dem venezianischen Meister Canaletto während seines Aufenthaltes in London in den 1740er Jahren. Das bleibt nicht auf die Themse beschränkt. Kaiserin Maria, Frau von Ferdinand III., reist 1645 mit großem Gefolge auf der Donau von Linz nach Wien. Im aufstrebenden Russischen Reich nutzt Zar Peter I. die Newa als Schauplatz imperialer Machtentfaltung, die Erbschleicherin Katharina II. befährt erstmals Wolga und Dnepr. Herrscher demonstrieren dabei nicht nur das neue säkularisierte Naturverständnis der Zeit, sie präsentieren sich als Beherrscher der Natur, lassen gerade im 18. Jahrhundert Kanäle anlegen, die Flüsse verbinden, neue Verkehrswege schaffen, den Binnenhandel steigern – und damit auch die Einnahmen des Staates.
Weitere Flüsse ließen sich hier anfügen, vom spanischen Tajo, der als portugiesischer Tejo bei Lissabon in den Atlantik mündet, bis zur Weichsel, an der sowohl die mittelalterliche polnische Königsresidenz Krakau lag als auch das im 16. Jahrhundert zur neuen Hauptstadt der polnisch-litauischen Monarchie erhobene Warschau. Überall kommt es zu neuen Symbolisierungsformen, erinnern Oden, Gedenksteine oder Obelisken an monarchische Präsenz und Tätigkeit zum vorgeblichen Wohle des Staates und seiner Untertanen – die Flüsse werden zu Erinnerungsorten von oben.
Das 19. Jahrhundert und die Nationalstaaten
Es ist wichtig, auf diese ältere Dimension der Flüsse als Gedächtnisspeicher und Erinnerungsorte hinzuweisen, damit nicht der Eindruck entsteht, als hätte erst das moderne nationale Zeitalter – das 19. und 20. Jahrhundert – die Flüsse "entdeckt" und zu Erinnerungsorten erhoben. Mancher moderne Bezug auf den Jordan, Tiber oder Nil ist weder singulär noch zufällig, sondern steht in einer älteren und großen europäischen kulturellen Tradition.
Aber der Hinweis auf diese Tradition kultureller Bezüge und Modelle seit der europäischen Antike sollte gleichzeitig nicht dazu führen, den europäischen Gehalt von Flüssen auf diese exklusiv-elitäre, hochkulturelle Tradition zu reduzieren. Dann würden viele Flüsse quasi kulturell ausgeschlossen, die ohne Zweifel mit gutem oder gleichem Recht als europäische Flüsse bezeichnet werden können. Die universale Dimension, die Symbolisierung von menschlichen Grunderfahrungen in Flüssen, stellte und stellt quasi ein unerschöpfliches Reservoir der Erweiterung und Erneuerung bereit. Im 19. und 20. Jahrhundert kam es so sowohl dazu, dass neue Flüsse wie der Mississippi oder der Amazonas in das symbolische Bezugssystem einbezogen wurden, andererseits erfuhren jetzt auch viele Flüsse mittlerer Länge oder kleinere Flüsse, die vorher weniger beachtet wurden, eine symbolische Aufladung. Staatsbildung und Staatlichkeit intensivieren und verändern sich in Europa, Territorialität und Nationsbildung schaffen und schärfen ein Bewusstsein für Grenzbildung und -überschreitung, Landschaften und Naturräume werden mit politischen Räumen so verknüpft, dass Flüsse in Teilen ihrer Läufe zu politischen Grenzen werden oder als solche angesehen werden.
Gleichzeitig weitet sich die Alphabetisierung und Bildung aus, das Interesse der "einfachen Bevölkerung" an Kultur erwacht genauso wie das Interesse der neuen Bildungseliten am "Volk". Die Romantik verschriftlicht die mündliche so genannte populäre oder Volkskultur, die somit aufgewertet wird. Flüsse haben in ihr immer eine große Rolle gespielt und ihre Nationalisierung führt auch zu einer kulturellen Neuakzentuierung von Flüssen als nationaler Erinnerungsorte. Flussfahrten erhalten mit dem Aufkommen der Dampfschifffahrt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine (proto-) touristische Qualität und werden in Reiseberichten beschrieben und erinnert. Die Vielfalt einer (Fluss-) Landschaft setzt sich als ein neuer Maßstab durch.
Das Beispiel Rhein
Der Rhein exemplifiziert diesen Wandel in besonderer Weise. Seine Symbolisierung wurde schon in der lateinischen Literatur des römischen Kaisertums grundgelegt und orientierte sich am Tiber. In der Frühen Neuzeit sah man ihn vor allem als Grenze zwischen römischer Zivilisation und Germanentum an; niederländische Maler entdeckten den Niederrhein im 17. Jahrhundert; das zahlungskräftige englische Reisepublikum schätzte seit dem Ende des 18. Jahrhundert vor allem die Flussfahrt den mittleren und oberen Rhein hinab in die Schweiz und nach Italien.
Rheinromantik und der spätestens aus der napoleonischen Zeit herrührende
Die französischen Antworten fielen zumal in der Rheinkrise um 1840 gegennational aus, aber nicht ausschließlich. Denn der französische Schriftsteller und Politiker Alphonse de Lamartine (1790-1869) schrieb 1841 als Antwort auf Beckers Gedicht sein Marseillaise de la paix mit den berühmten Versen: "Roule, libre et superbe entre les larges rives, Rhin! Nil de l’Occident! Coupe de Nations! Et des peuples assis qui boivent les eaux vives, Emporte les défis et les ambitions".
Das verweist bereits auf das berühmte Rheinbuch des französischen Mediävisten Lucien Febvre von 1931, das den Rhein "entnationalisierte", ihn primär als Zivilisationsbildner verstand, der die römisch-antik-romanische mit der germanischen Welt verband. Wie im Falle des Rheins, so ist auch bei anderen großen Flüssen nicht immer eindeutig, ob die nationale Vereinnahmung durch Künstler und Schriftsteller aus der Region oder aus den Hauptstädten geschah. Doch sind Gedichte, Reiseberichte, Lieder, Zeichnungen und Gemälde typische Formen, in denen Flüsse im 19. Jahrhundert dargestellt und von einem wachsenden Publikum wahrgenommen werden. Besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden viele Flüsse mit dem Rhein als dem paradigmatischen nationalen Fluss verglichen. So schrieb der ukrainisch-russische Historiker Mykola (russ. Nikolaj) I. Kostomarov in seinen Erinnerungen über eine Rheinfahrt von Köln nach Mainz im Jahr 1857: „Ich glaube, dass den Rheinufern bei uns in der Rus‘ die Žiguliberge an der Wolga (zwischen Simbirsk und Saratow) und das Dneprufer zwischen Kiew und Čerkass nicht nachstehen, ganz zu schweigen von dem Südufer der Krim.“
Mehr als nationale Symbole
Der Hinweis auf die Nationalisierung und Ästhetisierung der europäische Flüsse und Flusslandschaften soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Flüsse auch in dieser Zeit komplexe oder heterogene Erinnerungsorte waren oder blieben. Lokale und regionale Erinnerungen und Symbolisierungen ließen sich sowohl nationalkulturell vereinnahmen, konnten aber auch eine antinationale Beharrungskraft entfalten.
An Flüssen in Grenzlage und in polyethnischen oder –nationalen Kontexten kam es auch zu gegennationalen kulturellen "Aufladungen". Es gab und gibt sowohl große Flüsse, die in einem Land entsprangen und mündeten, wie die Seine, die Themse, der Tiber, die Weichsel oder die Moldau, als auch Flüsse, die über nationale und nationalstaatliche Grenzen hinweg flossen, wie der Tajo/Tejo, die Mosel, der Rhein, die Elbe oder die Memel.
In einigen Fällen trugen und tragen Flüsse unterschiedliche Namen, wie Uwe Rada am Beispiel der Memel gezeigt hat, die von den Weissrussen Njoman genannt wird, von Litauern Nemunas und von Polen Niemen, und die jeweils ein "Vater der Flüsse" war. Flussnamen änderten sich aber auch im Laufe der Zeit, oder sie blieben gleich, wie Lucien Febvre für den Rhein festgestellt hat. Es sind die Namen, die zunächst identifizieren und Flüsse als Erinnerungsorte schaffen.
Das 19. Jahrhundert ist auch das große Jahrhundert der Linguisten und Sprachhistoriker, die über die Erforschung der sprachlichen Herkunft von Flussnamen zu Aussagen über die Geschichte von ethnischen oder nationalen Gruppen gelangen wollten. Dazu passt die nationale Überhöhung und Sakralisierung der Flussquellen im 19. Jahrhundert, entsprach doch der Kult der Quelle dem Kult des Ursprungs, den das 19. Jahrhundert in besessener Weise betrieb.
Die schließlich in den 1860er Jahren erfolgreiche Suche nach den Nilquellen zeigte das Dilemma, in dem viele europäische Flussenthusiasten standen. Denn es gab häufig mindestens zwei Quellflüsse, etwa an der Donau, oder sogar mehrere, da die großen Flüsse häufig in Sumpfgebieten entsprangen. Zwar einigte man sich häufig pragmatisch auf einen Ursprungsort, der dann zu einem besonderen Erinnerungsort ausgestaltet wurde, etwa mit einem Gedenkstein oder einer Kapelle. Doch erhielt sich eine gewisse Ungewissheit über den Ursprung – nicht nur bei Flüssen, sondern auch bei Nationen.
Das neue Interesse an den Flüssen
Bis heute erhält sich der Eindruck, als erinnerten die Flüsse vor allem an die vormoderne Zeit sowie an das nationale 19. Jahrhundert. Das 20. Jahrhundert hat lange Zeit lediglich neue Medien bereit gestellt, um Flüsse in anderer Weise zu Erinnerungsorten zu gestalten: seit dem 19. Jahrhundert die Fotografie und die Postkarte, im 20. Jahrhundert vor allem Film und Fernsehen. Die zerstörerische Energie des europäischen 20. Jahrhunderts, wesentliche kollektive Erfahrungen wie der Holocaust an den Juden oder die großen Vertreibungen werden mit Eisenbahnzügen, nicht aber mit Flüssen assoziiert.
Allerdings waren auch Flüsse wichtige Wege sowohl in den kollektiven Tod als auch in das Leben. Der ungarische Filmemacher Péter Forgács hat 1998 mit seinem Film Danube exodus der Donau ein Denkmal gesetzt, in dem er auf der Basis von dokumentarischem Filmmaterial die Flucht von etwa 900 slowakischen Juden vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges über die Donau zum Schwarzen Meer sowie die Flucht von Bessarabiendeutschen vor der sowjetischen Invasion über die Donau ins Dritte Reich darstellt. Die Erinnerungen an das Massaker von Novi Sad, als 1942 Tausende Juden und Serben erschossen und in die eisige Donau geworfen wurden, oder auch die Erinnerung an das Massaker von Aussig vom 31. Juli 1945 – der kollektive Tod von Sudentendeutschen in Löschwasserspeichern und in der Elbe – markiert Flüsse auch als Orte von Tod und Trauma. Seit 2005 gibt es eine Gedenktafel für die Opfer auf der Dr. Edvard-Beneš-Brücke in Ústí nad Labem (ehemals Aussig). Die Kriege im ehemaligen Jugoslawien führten in den 1990er Jahren zur symbolträchtigen Zerstörung von Flussbrücken (am bekanntesten ist die alte Brücke von Mostar) und verweisen so auf die trennende oder abgrenzende Funktion von Flüssen.
Doch überwiegt seit Ende des 20. und im frühen 21. Jahrhundert eine positive oder optimistische kulturelle Neuakzentuierung der Flüsse als europäischer Erinnerungsorte. Ihr Hintergrund ist einmal das gewachsene ökologische Bewusstsein und Erfolge in der Zusammenarbeit bei der Wiederherstellung vieler Flüsse als lebensfähiger ökologischer Systeme. Flussschifffahrten und die Anlage von Fahrradwegen an Flussufern (häufig auf den alten Leinpfaden der Treidler bzw. Schiffszieher) haben den Flüssen eine neue Aufmerksamkeit bei Erholungssuchenden beschert.
Zum andern hat der Zusammenbruch des Ostblocks und die Europäisierung und Globalisierung von Politik und Kultur das Bewusstsein für die grenzüberschreitende, verbindende Qualität vieler Flüsse geweckt. Flüsse waren sozusagen eher da und erinnern nicht nur an Zeit und Vergänglichkeit an sich, sondern besonders an die Vergänglichkeit von Staaten und politischer Herrschaft. So können alte Wege eine neue Bedeutung erhalten.
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Prof. Dr. Guido Hausmann ist Historiker an der Ludwig Maximilians Universität München. Er ist Autor des Standardwerkes Mütterchen Wolga. Ein Fluss als Erinnerungsort vom 16. ins frühe 20. Jahrhundert.