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Kronprinz Ferdinand V., König von Ungarn, besucht 1830 die hebräisch-deutsche Primär-Hauptschule in Pressburg | Geteilte Geschichte | bpb.de

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Kronprinz Ferdinand V., König von Ungarn, besucht 1830 die hebräisch-deutsche Primär-Hauptschule in Pressburg

Michael L. Miller Zsuzsanna Toronyi

/ 7 Minuten zu lesen

Im 19. Jahrhundert fochten Reformer und Traditionalisten erbitterte Kämpfe über Erziehung aus. Die eine Seite sah das Klassenzimmer als Bollwerk jüdischer Tradition, die andere betrachtete es als Ort sozialen Fortkommens und der Aufklärung.

Kronprinz Ferdinand V., König von Ungarn, besucht 1830 die hebräisch-deutsche Primär-Hauptschule in Pressburg, Externer Link: Shared History Projekt. (Hungarian Jewish Museum and Archives, Budapest) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de

Das Objekt

von Zsuzsanna Toronyi

Diese Lithographie wurde zur Erinnerung an einen Besuch des österreichischen Kronprinzen Ferdinand V., Königs von Ungarn in einer jüdischen Schule in Pressburg am 2. November 1830 erstellt. Auf Grund der ungeheuren Bedeutung des Besuchs für die jüdische Gemeinde fertigte Ignác Weissenberg, ein Lehrer der Schule, eine Zeichnung der Delegation an. Schon bald dienten Reproduktionen der (hier zu sehenden) Lithographie als Medium zur Förderung moderner jüdischer Konzepte. Lajos Horánszky stiftete diese Lithographie 1916 dem Ungarischen Jüdischen Archiv. Heute befindet sie sich als Dauerleihgabe im Museum der jüdischen Gemeinde in Bratislava.

Historischer Kontext

Die hebräisch-deutsche Grundschule war für Reformer und die österreichisch-ungarische Monarchie mustergültig, doch orthodoxen Führern war sie ein Gräuel
von Michael L. Miller

Genau in der Mitte dieser Lithographie steht ein hochgewachsener Mann in Reitstiefeln, eine Hand in der linken Tasche, die andere auf einen langen, mit einem Tuch bedeckten Tisch gelegt. Auf Grund seines abnorm großen Kopfes ist er leicht als König Ferdinand V. von Ungarn (und Kronprinz von Österreich) zu erkennen – er litt an Hydrozephalus, auch Wasserkopf genannt.

Porträt von Kronprinz Ferdinand V., König von Ungarn (Public Domain, Palast Schönbrunn/Wikimedia) Lizenz: cc publicdomain/zero/1.0/deed.de

Sein Vater Kaiser Franz I. von Österreich und seine Mutter Kaiserin Marie-Therese von Österreich waren gleich in doppelter Hinsicht Vetter und Cousine ersten Grades, und diese schicksalhafte Erkrankung von Ferdinand – das Ergebnis von Jahrhunderten Habsburgischer Inzucht – brachte auch eine Beeinträchtigung seiner geistigen Fähigkeiten mit sich. Seine Zeitgenossen verspotteten ihn als "Nandl der Trottel". Dennoch waren die Lehrer und Schüler der hebräisch-deutschen Primär-Hauptschule zu Pressburg (heute Bratislava, Slowakei) überglücklich über die Visite Seiner Majestät am 2. November 1830. In dieser Lithographie, die Zeugnis von seinem Besuch gibt, betrachtet Ferdinand wohlwollend, wie der königliche Schuldirektor einen jungen Schüler in verschiedenen Bereichen prüft.

Blick über die Donau auf Pressburg. Aquarell, 1842, von Jakob Alt. (© picture-alliance/akg)

Im Jahr 1830 hatte Pressburg die drittgrößte jüdische Gemeinde in Ungarn (nach Óbuda und Pest) und die größte Jeschiwa der Welt, an der sich bis zu 400 Schüler gleichzeitig dem Tora-Studium widmeten. Der Leiter der Jeschiwa, Rabbi Moses Sofer (bekannt als der "Chatam Sofer"), verteidigte als erbitterter Feind weltlicher Aufklärung und religiöser Reform und unbeirrt von jeglichen Kompromissbestrebungen die Tradition. Heutzutage ist er den meisten wegen seines erzkonservativen Ausspruchs "Das Neue ist von der Tora verboten" bekannt. Es kann nicht überraschen, dass er in der Lithographie nicht zu finden ist. Tatsächlich ist der einzige vom Künstler dargestellte Geistliche Alexander Rudnay, ein ungarischer Erzbischof, der Ferdinand auf seiner Visitationsreise begleitete. Der Chatam Sofer hat diese Schule nie betreten, die er vehement ablehnte, weil dort sowohl weltliche als auch religiöse Fächer als Teil ein- und desselben Lehrplans unterrichtet wurden.

Wegen der hebräisch-deutschen Primarhauptschule zu Pressburg hat zwischen jüdischen Reformern und Traditionalisten über lange Jahre ein "böser Bürgerkrieg" gewütet. Die Reformer forderten, getragen von den Ideen der "Haskalah" genannten jüdischen Aufklärung, ein über das Studium traditioneller jüdischer Texte hinausgehendes Curriculum – es sollten auch Deutsch, Latein, Mathematik, Erdkunde und sonstige praktische Fächer unterrichtet werden. Viele der Reformer, darunter Wolf Breisach, waren reiche Kaufleute mit engen Verbindungen nach Wien. 1820, sehr bald nach seiner Wahl als Vorsteher der Pressburger jüdischen Gemeinde, gründete Breisach die hebräisch-deutsche Primarhauptschule mit finanzieller Unterstützung der Wiener Familien Rothschild und Biedermann. Der erste Leiter der Schule war Abraham Freyer, ein Reformpädagoge, den seine traditionalistischen Feinde ihre Abneigung deutlich spüren ließen. "Ging ich durch die Judengasse, hieß ich ‚Goj‘, und so ich durch die Stadt wandelte, ward ich ‚Jude‘ geschimpft," erinnerte er sich. Allein in den Straßen zu gehen, machte ihm Angst. Als er später sein Augenlicht verlor, machten seine Kritiker daraus eine Strafe Gottes.

Einer der schärfsten Gegner Freyers war Abraham Hirsch Lemberger, Vorsteher der orthodoxen Gemeinde in Pressburg und enger Vertrauter des Chatam Sofer. Lemberger verfasste eine Eingabe an die Behörden, in der er beantragte, die Zulassung der neuen Schule zu widerrufen, doch blieb dies ohne Erfolg. Als die hebräisch-deutsche Primarhauptschule schließlich ihre Tore öffnete, focht ihn das so stark persönlich an, dass er Berichten zufolge seine Gewänder zerriss und durch das siebentägige Schiwa-Sitzen seiner Trauer Ausdruck verlieh. Wenig später reagierte Lemberger auf die von ihm als Bedrohung wahrgenommene moderne jüdische Schule, indem er eine traditionsgebundene Talmud-Thora-Schule ins Leben rief, an der zwar ebenso weltliche und religiöse Gegenstände unterrichtet wurden, die jedoch unter strengster rabbinischer Aufsicht stand.

Porträt des Kaisers Ferdinand I von Österreich (© picture-alliance, Heritage Images)

Im Laufe des folgenden Jahrzehnts entluden sich die Spannungen immer wieder in Auseinandersetzungen – so konnte Wolf Breisach die Behörden überzeugen, die Jeschiwa des Chatam Sofer zu schließen, was allerdings nur zeitweilig geschah. Vor diesem Hintergrund ist die königliche Visitation von Ferdinand V. in der hebräisch-deutschen Primarhauptschule zu betrachten. Die Reformer und die Traditionalisten konkurrierten um die staatliche Anerkennung und Förderung, und der Besuch des Monarchen war Zeichen des Siegs der Reformer. Die Lithographie, die auf der Grundlage einer Zeichnung des dortigen Lehrers Ignác Weissenberg erstellt worden ist, sollte nicht nur diesen Augenblick auf ewig für die Nachwelt festhalten, sie sollte auch die Botschaft der Reformer in die Welt tragen: Juden mit einer ordentlichen Ausbildung und kulturellen Bildung sind von ihrem christlichen Gegenüber nicht zu unterscheiden. Tatsächlich gibt es im Bild keine visuellen Hinweise, anhand derer sich die Schule (oder ihre Schüler) als jüdisch erkennen ließe. Nirgends sind Jarmulkes (Kopfbedeckungen), Tallitot (Gebetsschals) oder sonstige jüdische Tracht zu sehen. An den Türpfosten sind keine Mesusot (Schriftkapseln) angebracht, auf den Tischen liegen keine hebräischen Bücher und auf der Tafel steht keine hebräische Schrift. In der Tat ist das einzige religiöse Symbol in der gesamten Lithographie das von Erzbischof Rudnays Hals herabhängende Brustkreuz. Besonders auffällig ist der links stehende Schüler, die Hände aneinander gelegt, die Fingerspitzen nach oben, in der Geste des christlichen Gebets. In den Augen von Abraham Hirsch Lemberger oder des Chatam Sofer konnte es wahrlich nichts "gojischeres" geben.

Wolf Breisach, Abraham Freyer und die anderen jüdischen Reformer sind sicherlich ebenfalls in dieser Lithographie abgebildet, und vielleicht hat der Künstler Ignác Weissenberg auch sich selbst in diese Versammlung bedeutender Menschen eingereiht. Heute ist es schwer und sogar unmöglich, irgendjemanden zu identifizieren. Und genau darum, so lässt sich vermuten, ging es auch.

Persönliche Geschichte

Der Chatam Sofer wollte “einen Zaun um die Torah”, doch die säkulare Erziehung drohte ihn niederzureißen
von Michael L. Miller

Moses S. Schreiber (1762-1839), Oberrabiner der israelitischen Gmeinde Pressburg. - Lithographie von Josef Kriehuber. (Public Domain, Peter Geymayer / Wikimedia) Lizenz: cc publicdomain/zero/1.0/deed.de

Rabbi Moses Sofer (1762–1839) wird in dieser Lithographie nicht dargestellt und das spricht Bände. Als über 33 Jahre in Pressburg tätiger Rabbiner, von 1806 bis zu seinem Tod 1839, war Sofer die einflussreichste Autorität seiner Generation in der rechtlichen Überlieferung des Judentums, der Halacha, ein unerschütterlicher Wächter der Tradition und ein energischer Gegner der jüdischen Aufklärung (Haskalah). Wie viele rabbinische Leuchten ist er unter dem Titel seines Hauptwerks bekannt, Chatam Sofer ("Siegel des Schreibers"), einer mehrbändigen Sammlung seiner halachischen Entscheidungen, die der Ultra-Orthodoxie bis heute als wesentliche konzeptuelle Grundlage dient. In seiner Gegnerschaft gegen religiöse oder pädagogische Reformen kannte er keine Kompromisse, ebenso wenig bei sonstigen Versuchen, sich an die Gegebenheiten der modernen Zeit anzupassen. Als Kind hatte er in seiner Heimatstadt Frankfurt am Main eine zunehmende Nachlässigkeit und Indifferenz im religiösen Leben erlebt, und bei jedem Umzug weiter nach Osten – erst nach Mähren, dann nach Ungarn – stemmte er sich mit aller Kraft gegen einen ähnlichen Niedergang der Sitten in seiner jeweiligen neuen Wahlheimat. Als unbeugsamer Verteidiger des traditionellen Judentums forderte er seine Kinder und seine hunderte Jünger auf, sich dem weltlichen Wissen und sämtlichen nicht-jüdischen Sprachen zu verweigern, um auf diese Weise einen "Schutzzaun um die Tora" zu ziehen. Für ihn war die hebräisch-deutsche Primarhauptschule Anathema, denn in ihr wurden weltliches Wissen und der Geist der Haskalah vermittelt.

Kurz vor seinem Tod setzte der Chatam Sofer sein Testament auf, in dem er seine Jünger und Nachfahren ermahnte, die traditionellen jüdischen Sitten und Gebräuche unbeirrt zu wahren. "Achtet darauf, Euren jüdischen Namen, Eure jüdische Sprache und Eure jüdische Tracht nicht zu ändern", schrieb er, nachdem er zuvor angeordnet hatte, sie sollten Theater und die deutsche Literatur meiden und, wie konnte es anders sei, die Schriften Moses Mendelssohns, des Vaters der Berliner Haskalah. Die jüdische Gemeinde von Pressburg ("so mächtig in ihrer Furcht Gottes und seiner Tora") wies der Chatam Sofer an, die Jeschiwa weiter zu betreiben und dafür Sorge zu tragen, dass ihr an den Traditionen orientierter Lehrplan unverändert aufrecht erhalten werde. "Diejenigen, die [den Lehrplan der Jeschiwa] zunichtemachen wollen, werden selbst vernichtet werden," drohte er. "Und denen, die ihn beharrlich aufrecht erhalten, wird Stärke und Mut verliehen." Der Chatam Sofer wünschte, dass seine Nachfolge von einem aufrechten, gottesfürchtigen Rabbiner angetreten werden sollte, "der sich nicht mit häretischen Werken befasst hat". Dafür konnte er sich keinen besseren Kandidaten vorstellen als seinen ältesten Sohn, Abraham Samuel Benjamin Sofer (auch bekannt als der Ktav Sofer, "Schrift des Schreibers"). Die jüdische Gemeinde von Pressburg ernannte Abraham zum Rabbi und führte damit das antimodernistische Erbe des Chatam Sofer fort, das bis heute von Interner Link: ultra-orthodoxen Gemeinden in Jerusalem, B’nei Brak, London und New York gelebt wird.

Dieser Beitrag ist Teil des Externer Link: Shared History Projektes vom Externer Link: Leo Baeck Institut New York I Berlin.

Weitere Inhalte

Michael L. Miller ist außerordentlicher Professor im Studiengang Nationalismusforschung an der Central European University in Budapest und Mitbegründer des dortigen Studiengangs Jüdische Studien. Michaels Forschung konzentriert sich auf die Auswirkungen von Nationalitätenkonflikten auf die religiöse, kulturelle und politische Entwicklung des mitteleuropäischen Judentums im 19. und 20. Er ist der Autor von Rabbis and Revolution: The Jews of Moravia in the Age of Emancipation (Stanford University Press, 2011) und Mitautor von Zwischen Prag und Nikolsburg: Leben in den böhmischen Ländern (Vandenhoeck & Ruprecht, 2019). Derzeit arbeitet er an einer Geschichte des ungarischen Judentums mit dem Titel Manovill: A Tale of Two Hungarys.

Zsuzsanna Toronyi ist Direktorin des Externer Link: Magyar Zsidó Múzeum és Levéltár / Hungarian Jewish Museum and Archives.