Der Kurdenkonflikt
Knapp 15 Millionen Kurden leben heute in der Türkei. Der Konflikt um Autonomie in ihren ursprünglichen Siedlungsbebieten ist eine historische Erblast der Grenzziehungen nach dem Ersten Weltkrieg. Unter der AKP-Regierung ist es in den vergangenen Jahren zu einer Annäherung und leichten Reformen gekommen. Eine nachhaltige friedliche Konfliktlösung scheint jedoch weiterhin nicht absehbar.
Der Konflikt um die Volksgruppe der Kurden ist sowohl historisch gewachsen als auch ein internationaler Konflikt. Der Vormarsch der islamistischen Terrorgruppe ISIS (Islamischer Staat im Irak und Syrien) im Irak und der anhaltende Bürgerkrieg in Syrien haben die Rolle der Kurden auch als Stabilitäts- und Ordnungsfaktor und als pro-westlich und säkular ausgerichteter regionaler Akteur sowie ihre Bestrebung nach Autonomie zuletzt wieder in Erinnerung gerufen. Gelöst ist der Konflikt jedoch bis heute nicht. Dies gilt konkret auch für den Kurdenkonflikt in der Türkei. Zwar ist die Kurdenfrage inzwischen längst kein Tabuthema mehr und die Kurden genießen mehr Freiheiten als zuvor. Dennoch hat der seit 1984 Jahren andauernde Kampf zwischen der türkischen Armee und der militanten PKK (Arbeiterpartei Kurdistans)[1] deutliche Spuren hinterlassen: rund 40.000 Tote, 3.500 zerstörte Dörfer, über 2,5 Millionen[2] zur Flucht und Migration gezwungene Menschen. Der Konflikt hat die ethnische Polarisierung und den Nationalismus auf beiden Seiten verstärkt.
Grenzüberschreitender regionaler Gewaltkonflikt mit historischer Verwurzelung
Der Kurdenkonflikt im Nahen Osten ist ein historisch tief verankerter und grenzüberschreitender, ein transnationaler Konflikt. Er ist nicht nur auf die Türkei begrenzt, sondern erstreckt sich auch auf Syrien, den Iran und den Irak. Im Kern ist er eine historische Erblast und Folge der Friedensregelungen nach dem Ersten Weltkrieg und des Zusammenbruchs des Osmanischen Reiches: Selbstbestimmung und die Gründung eines eigenen Nationalstaates wurde den Kurden verweigert. Sie selbst wurden durch die willkürlichen Grenzziehungen auf diese vier Staaten verteilt.i
Kurden


Der Kurdenkonflikt tangiert nicht nur die innere Verfasstheit, die regionalen Beziehungen der betroffenen Staaten und den regionalen Frieden. Auch hat er Auswirkungen auf das türkisch-europäische Verhältnis und das Zusammenleben von türkischen und kurdischen Communities, die seit Jahrzehnten und in mehreren Generationen in Deutschland und anderen EU-Staaten leben. Ohne eine friedliche Regelung des Gesamtkonfliktes wird ein Friedenszustand weder in der Türkei noch im Nahen Osten zu erreichen sein.
Staatsideologische Grundlagen, Politik der Assimilierung und die ethnopolitische Mobilisierung der Kurden
Die Gründung des türkischen Nationalstaates im Jahre 1923 bedeutete für die in der Türkei lebenden 12 bis 15 Millionen Kurden eine wichtige Zäsur: In der türkischen Verfassung stand von Beginn an der Nationalismus, die nationale Einheit, als das erste der sechs Prinzipien des Kemalismus festgeschrieben. So heißt es auch heute im Artikel 3 der Verfassung: "Der Staat Türkei ist ein in seinem Staatsgebiet und Staatsvolk unteilbares Ganzes. Seine Sprache ist Türkisch." Im neuen zentralistisch organisierten Einheitsstaat wurde nicht nur die Tradition der autonomen Selbstverwaltung der kurdischen Fürstentümer während der Herrschaft des Osmanischen Reiches abgeschafft. Die Existenz einer kurdischen Minderheit wurde geleugnet, ihre Zwangsassimilierung durch eine qualitativ neue und systematische Politik unterfüttert und mit einer sozio-ökonomischen Vernachlässigung des mehrheitlich kurdisch bewohnten Ostens und Südostens der Türkei durchgesetzt. Die Folge waren zahlreiche lokal begrenzte kurdische Aufstände in den 1920er- und 1930er-Jahren. Die Quellen des türkischen Generalstabs sprechen von bis zu 30 kurdischen Aufständen im Zeitraum von 1924-1938. Bereits zu diesem Zeitpunkt wurde über das gesamte kurdische Siedlungsgebiet der Türkei in Ost- und Südostanatolien der Ausnahmezustand verhängt, der erst Anfang der 2000er-Jahre wieder aufgehoben wurde. Die staatliche Politik der aufgezwungenen Assimilierung und sogar auch Gewaltanwendung wurde durch die neue, nach dem Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk auch "kemalistisch" genannte Staatsideologie legitimiert: Die wesentlichen Grundlagen waren ein rigides Nations- und Staatskonzept, ein unabänderlicher Verfassungsgrundsatz der unteilbaren Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk sowie ein restriktiver Minderheitenbegriff. Der Herrschaftsanspruch des zentralistischen Einheitsstaates und seiner Einheitsideologie wurde und wird auch heute durch den unabänderlichen Verfassungsgrundsatz von der unteilbaren Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk gesichert. Vor allem dieser Verfassungsgrundsatz, der sich auch gegenwärtig konsequent auf Gesetzesebene in zahlreichen Vorschriften (z.B. im Strafgesetzbuch, im Antiterrorgesetz und im Parteiengesetz) wiederfindet, hat weitreichende Auswirkungen: Sein Gültigkeitsbereich ist nicht klar definiert, so dass Grundrechte leicht beschnitten werden können, wie z. B. die Presse- und Meinungsfreiheit. Er ist beispielsweise schon dann berührt, wenn ethnische Minderheiten kulturelle Autonomie oder Selbstverwaltungsrechte fordern. Die Minderheitenklauseln des Lausanner Friedensvertrages von 1923 beziehen sich jedoch lediglich auf die nichtmuslimischen Minderheiten (Griechen, Armenier, Juden). Die Kurden gelten in der Türkei damit nicht als Minderheit.Diese staatsideologisch legitimierte repressive Leugnung- und Assimilationspolitik löste die ethnopolitische Mobilisierung der Kurden aus und ist eine der Hauptursachen der Konfliktgenese. Auch die Gründung der militanten PKK ist in diesen Gesamtkontext einzuordnen.
Erst das Ende des Kalten Krieges und der Golfkrieg 1991 bewirkten eine tendenzielle Veränderung während der Ära von Turgut Özal, der zwischen 1983 und 1993 als Minister- und Staatspräsident an der Spitze der türkischen Politik stand. Özal verfolgte das Ziel, unter Beibehaltung der militärischen Repression eine Liberalisierung im

Begrenzte Liberalisierungspolitik der AKP-Regierung: Ziele und Inhalte
Die AKP-Regierung knüpfte 2002 gewissermaßen unter weit günstigeren Bedingungen (ausgelöst durch die Festnahme von PKK-Führer Abdullah Öcalan[3] im Februar 1999 und Anerkennung der Türkei als EU-Beitrittskandidatin im Dezember 1999) an die Özalsche Kurdenpolitik an. Sie verabschiedete bislang die weitreichendsten Reformen in der Geschichte der modernen Türkei. Ideologisch ist die Kurdenpolitik der AKP durch den türkischen Nationalismus, Islam und Neo-Osmanismus geleitet. Das Primat eines rigiden türkischen Nationalismus (Schutz des türkischen Nationalismus) prägt weiterhin die kurdenpolitische Strategie, während die islamisch-religiöse und historisch-osmanische Komponenten zur Generierung der nationalen Einheit über "religiöse und historische Brüderlichkeit" dienen. Letztere impliziert eine "osmanische Lösung" der Kurdenfrage, die intern eine begrenzte Liberalisierung im Bereich der kulturellen Rechte zulässt und extern den eigenen Einflussbereich als "Schutzpatron und Hegemon" in der Kurdenfrage explizit erweitert. Diese ideologischen Leitlinien erlauben jedoch nur eine begrenzte Liberalisierung und blenden die politisch-nationale Dimension der Kurdenfrage aus. Daher ist die bisherige Kurdenpolitik der AKP-Regierung erstens durch Kontinuität im Primärziel (Verhinderung eines kurdischen Staates, Bekämpfung der PKK, Kontrolle der Kurden intern wie extern) und zweitens durch eine Veränderung der Mittel gekennzeichnet. Die begrenzte Liberalisierung erfolgte und erfolgt unter Wahrung der staatsideologischen Grundlagen ("Eine Nation, eine Flagge, eine Sprache" bzw. Verfassungsgrundsatz: unteilbare Einheit von Staatsvolk und Staatsgebiet) und lief gleichzeitig mit der Eindämmung kurdischer Politik und Forderungen einher. Auf diesem Weg forcierte die AKP-Regierung die Marginalisierung der durch Wahlen legitimierten kurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP), aber auch sämtlicher kurdisch-politischer Aktivitäten im zivilgesellschaftlichen Bereich. In diesem Zusammenhang sind auch die zahlreichen Festnahmen von BDP-Politikern im Zuge der sogenannten "KCK-Operationen".[4] Zugleich ist die AKP-Regierung bestrebt, die PKK nunmehr nicht primär über militärische Operationen, sondern über Gespräche mit dem auf der Gefängnisinsel İmralı verhafteten PKK-Führer Abdullah Öcalan zur Niederlegung der Waffen zu bewegen. Dies hängt vor allem auch damit zusammen, dass die kurdenpolitische Strategie der AKP vielmehr in einen größeren regionalen Rahmen eingebettet ist und der Bürgerkrieg in Syrien den externen Anpassungsdruck in der Kurdenfrage signifikant erhöht und den internen Gewaltkonflikt zunehmend regionalisiert hat.Die vier wesentlichen Komponenten der Liberalisierungspolitik der AKP
- Reformen in den Jahren 2002 bis 2005, die im Zuge des EU-Beitrittsprozesses der Türkei verabschiedet wurden und zu einer signifikanten Verbesserung der individuellen Freiheiten geführt haben;
- die im Sommer 2009 angekündigte, jedoch nur teilweise umgesetzte Politik der demokratischen Öffnung", die vor allem die Ausweitung der Nutzung der kurdischen Sprache versprach;
- das Demokratisierungspaket vom 30. September 2013, das inzwischen umgesetzt wird und Maßnahmen enthält, die kurdenpolitisch von Relevanz sind, wie z. B. die Zulassung der im kurdischen Alphabet verwendeten, aber verbotenen Buchstaben x, q und w - im türkischen Alphabet kommen diese Buchstaben nicht vor, die Wiedereinführung von verbotenen kurdischen Ortsnamen und die Ausweitung der Nutzung der kurdischen Sprache.[5]
- Gespräche mit Öcalan, die seit November 2002 inoffiziell geführt werden und derzeit aber nur schleppend laufen, um die Entwaffnung der PKK zu erreichen und die Entwicklungen in der Kurdenfrage intern wie extern, d.h. außerhalb der Türkei und über die Grenzgebiete hinaus zu kontrollieren.
Die bislang verabschiedeten Reformen gehen jedoch nur sehr bedingt auf die kurdischen Forderungen ein, die sich im Zeitverlauf herauskristallisiert haben. Sowohl im politischen Spektrum der Kurden, das auch die BDP und die PKK umfasst, als auch im zivilgesellschaftlichen Bereich der Kurden gibt es bereits einen Konsens bezüglich folgender Forderungen: das Recht auf Erziehung und Bildung in kurdischer Sprache im staatlichen Erziehungs- und Bildungssystem, die verfassungsmäßige Anerkennung der kurdischen Identität, die Dezentralisierung der Staatsstruktur und Ausweitung der Rechte der lokalen Verwaltungen (Präferenz für einen föderalen Staatsaufbau, der den Regionen weitgehende Autonomie zulässt), die Herabsetzung der Zehnprozenthürde bei nationalen Parlamentswahlen, die Auflösung der Dorfschützermiliz[7], die Beendigung der militärischen und politischen Operationen[8] und die Freilassung aller politischen Gefangenen, auch von Abdullah Öcalan. Während einige dieser Forderungen eine Chance haben, teilweise im Rahmen der Verhandlungen für eine neue Verfassung in Angriff genommen zu werden, stößt die präferierte Autonomie durch eine föderale Staatsstruktur auf starke Gegenreaktion sowohl der AKP-Regierung als auch der beiden Oppositionsparteien CHP (Republikanische Volkspartei) und MHP (Nationalistische Aktionspartei). Autonomie wird als Gefahr für die territoriale und nationale Einheit der Türkei angesehen und deshalb abgelehnt.
Gestiegener Anpassungsdruck und Anerkennung der kurdischen Autonomiebestrebungen

Der interne Gewaltkonflikt ist längst regionalisiert und erfordert daher eine erweiterte politische Herangehensweise. Die regionale Sichtbarkeit des kurdischen Faktors und der kurdische Nationalismus sind weit fortgeschritten. Intern genügt es nicht, nur kulturelle Individualrechte zu gewähren, während extern bereits eine kurdische Autonomie (im Nordirak) existiert und im Kontext des Bürgerkrieges in Syrien ein zweites kurdisches Autonomiegebiet nicht auszuschließen ist. Bislang durchgesetzte Reformen reichen daher nicht aus, um den Weg für eine nachhaltige friedliche Konfliktlösung zu ebnen. Jede friedliche und nachhaltige Konfliktlösung setzt aber die Anerkennung der historisch tief verwurzelten Autonomiebestrebungen der Kurden voraus und erfordert auch die Einbindung der PKK. Die Friedensgespräche mit Öcalan sind deshalb von essentieller Bedeutung und bieten die einmalige Chance, den jahrzehntelangen Gewaltkonflikt zu beenden und den Weg für einen dauerhaften Frieden zu ebnen. Dazu würde auch die Verabschiedung einer neuen zivilen Verfassung beitragen, die die ideologischen Barrieren zugunsten eines demokratischen und pluralistischen Wertekanons überwindet und die türkische Demokratie auf der Werteebene substanziell stärkt.
Literatur
- Bahceli, Tozun/ Noel, Sid: The Justice and Development Party and the Kurdish Question. In: Marlies Casier/Joost Jongerden (Hrsg.): Nationalism and Politics in Turkey. Political Islam, Kemalism and the Kurdish Issue, London 2011, S. 101-120.
- Eccarius-Kelly, Vera: The militant Kurds: A Dual Strategy for Freedom, Santa Barbara 2011.
- Efegil, Ertan: Analysis of the AKP Government`s Policy Toward the Kurdish Issue. In: Turkish Studies, Ankara, März 2011, S. 27-40.
- Gürbey, Gülistan: Öcalan und Erdogan auf dem Weg zum "osmanischen Frieden", in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, 8/2013, S. 21-24. http://www.blaetter.de/archiv/autoren/guelistan-guerbey
- Gürbey, Gülistan: Die türkische Kurdenpolitik unter der AKP-Regierung: alter Wein in neuen Schläuchen? GIGA Focus Nahost, Hamburg, Nr.11, 2012. German Institute of Global and Area Studies.
- Gürbey, Gülistan/Ibrahim, Ferhad (Hg.): The Kurdish Conflict in Turkey. Obstacles and Chances for Peace and Democracy, New York/Münster 2000.
- Gürbey, Gülistan: Autonomie - Option zur friedlichen Beilegung des Kurdenkonfliktes in der Türkei? Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung. Frankfurt am Main. Report 5/Juni 1997.
- International Crisis Group: Turkey: The PKK and the Kurdish Settlement, Brussels, 11. September 2012.
- Kesen, Nebi: Die Kurdenfrage im Kontext des Beitritts der Türkei zur Europäischen Union, Baden-Baden 2009.
- Romano, David: The Kurdish Nationalist Movement. Opportunity, Mobilization and Identity, Cambridge 2006.