China und die „Taiwanfrage“
Chinesischer Pragmatismus oder Wiedervereinigung um jeden Preis?
Axel Berkofsky
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Taiwan ist, wie Chinas Machthaber 1949 entschieden haben und es bis heute immer und immer wieder, ohne Widerrede zu dulden, betonen: eine abtrünnige chinesische Provinz, die mit China wiedervereinigt werden müsse. Droht dort bald ein Unterwerfungskrieg wie der seit 2022 von Russland gegen die Ukraine?
Und das um jeden Preis, wie der Chinawissenschaftler Kerry Brown befürchtet: „Xi Jinping sieht sich als Führer von historischer Bedeutung mit einer historischen Mission. Das Drehbuch ist bereits geschrieben, und China darf nicht scheitern. Die Wiedervereinigung mit Taiwan ist Teil dieser aus Xi Jinpings Sicht historischen Mission.“ Und diese Wiedervereinigung ist, wie die chinesische Propaganda uns ohne Unterlass informiert, das Herzstück der von Chinas Präsident Xi seit 2012 befohlenen „nationalen Erneuerung Chinas“. Eine „Erneuerung“, die es dem chinesischen Volk – zusammen mit der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) – erlaubt, den weitestgehend undefinierten und ebenfalls 2012 ausgerufenen „chinesischen Traum“ zu träumen.
All das soll bis spätestens 2049 stattfinden, 100 Jahre nach dem Sieg der von Mao Zedong angeführten Volksbefreiungsarmee über die von Chiang Kai-shek geführten Nationalisten im chinesischen Bürgerkrieg (1927-1949). Nach dessen Ende flüchtete Chiang mit seiner Armee und 1,2 Millionen seiner Anhänger und Anhängerinnen nach Taiwan und rief die Republik China (Taiwan) aus. Taiwan – erst eine Militärdiktatur und seit Beginn der 1990er-Jahre eine Demokratie – hat bisher darauf verzichtet, seine formelle Unabhängigkeit auszurufen.
Heute ist Taiwan ein demokratischer Rechtsstaat mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 28.000 US-Dollar (26.200 Euro), und es kann den Bürgerinnen und Bürgern Taiwans nicht verübelt werden, dass sie, anders als die chinesische Staatsführung, einer Wiedervereinigung mit dem autoritären chinesischen „Mutterland“ nicht entgegenfiebern. Taiwan wird mittlerweile von nur noch 13 Staaten diplomatisch anerkannt, und diese Staaten unterhalten aufgrund des sogenannten Ein-China-Prinzips – Chinas Version der bundesdeutschen einstigen Hallstein-Doktrin – keine diplomatischen Beziehungen mit China.
Und wie steht es mit dem oft zitierten chinesischen wirtschafts-und handelspolitischen Pragmatismus, der China über Jahrzehnte davon abhielt, Taiwan mit militärischer Gewalt wiederzuvereinigen? Das jährliche bilaterale Handelsvolumen zwischen Taiwan und China beläuft sich auf rund 200 Milliarden US-Dollar, und Taiwan gehört zu den größten Investoren in China. Soweit und (über viele Jahre) so gut, aber Pragmatismus ist der Ideologie in Xi Jinpings China gewichen, und Handel und Profit, so fürchtet Stein Ringen von der Universität Oxford, müssen jetzt hintenanstehen: „Das entscheidende Element des Totalitarismus in China ist die neue Ideologie. Unter Xi Jinping ist der Pragmatismus bestenfalls zweitrangig geworden. Er wurde durch eine Ideologie ersetzt, die den großen ‚nationalen Traum Chinas‘ propagiert. Staaten, die ideologisch handeln, sind gefährlich.“ Wo er recht hat, hat er wohl (in diesem Falle) recht. Siehe Russland.
Der „Ukrainefaktor“
Nur wenige Tage nach der russischen Invasion in der Ukraine betonte Peking mehr als einmal, dass die Lösung der sogenannten Taiwanfrage weiterhin absolute Priorität für China habe. Wie die New York Times seinerzeit berichtete, zeigte sich Xi Jinping während eines Telefongesprächs mit US-Präsident Joe Biden am 19. März 2022 besorgter um den zukünftigen Status Taiwans als um die Konsequenzen der russischen Invasion in der Ukraine (die Peking bekanntlich nie als eine solche bezeichnet hat) – und dies zusammen mit der an Washington gerichteten Warnung, Taiwans Unabhängigkeitsbestrebungen nicht militärisch zu unterstützen. Wu Xinbo, Dekan des Instituts für Internationale Studien an der Fudan-Universität in Shanghai, fand es jedenfalls ganz normal, dass China die USA davor warnte, Taiwan militärisch zu unterstützen. „Russland mag sich über einen NATO-Beitritt der Ukraine Sorgen machen, aber die Ukraine ist ein unabhängiges und eigenständiges Land.
Taiwan hingegen ist ein Teil Chinas und vor diesem Hintergrund ist die Taiwanfrage viel wichtiger für China als die Ukraine für Russland“, stellte er fest. Ist die Invasion Taiwans demgemäß also keine Frage des Ob, sondern lediglich des Wann? Liang-chih Evans Chen vom Institute for National Defense and Security Research in Taiwan glaubt, dass der Kriegsverlauf in der Ukraine Peking (bisher) davon abschreckt hat, dem russischen Beispiel zu folgen und Taiwan anzugreifen.
Wenn Russland die Ukraine schnell besiegt, erhöhe sich die Wahrscheinlichkeit, dass China, „inspiriert“ vom militärischen Erfolg Russlands, diesem Beispiel folgen könnte und Taiwan angreift, sagte er in einem Interview mit der New York Times. Wenn auf der anderen Seite die Invasion in der Ukraine nicht zu ihrer dauerhaften Annexion führt und die Sanktionen des Westens der Wirtschaft Russlands langfristigen Schaden zufügen, würde es sich die politische Führung Chinas hingegen wohl sehr gut überlegen, Taiwan anzugreifen. Allerdings sollte die explosive Kombination aus chinesischem Nationalismus und der Obsession, die Wiedervereinigung mit Taiwan um jeden Preis zu realisieren, nicht unterschätzt werden, wie die bereits zitierten Einschätzungen von Kerry Brown und Stein Ringen eindrücklich zeigen.
Strategisch mehr – oder schon eindeutig?
Chinas Fähigkeit, Taiwan anzugreifen und – salopp gesagt – mal eben einzunehmen, sollte allerdings
auch nicht überschätzt werden. Die USA haben rund 50.000 amerikanische Soldatinnen und Soldaten auf japanischem Territorium stationiert, unterhalten mit Japan seit 1951 eine bilaterale Militärallianz, und Washington sowie Tokio haben im Laufe des Jahres 2021 mehr als einmal – entweder individuell oder im Rahmen bilateraler Treffen – betont, im Falle eines militärischen Konflikts einen „Beitrag zur Sicherung von Frieden und Stabilität in der Straße von Taiwan“ leisten zu wollen. Während weder Tokio noch Washington Taiwan bei gemeinsamen Erklärungen beim Namen genannt haben, gibt es kaum Zweifel daran, dass mit dem „Beitrag zur Sicherheit von Frieden und Stabilität in der Straße von Taiwan“ die militärische Verteidigung Taiwans im Falle eines unprovozierten Angriffs Chinas gemeint war.
Peking hatte das seinerzeit jedenfalls genau so verstanden, und Joe Biden bestätigte im Mai dieses Jahres während eines Staatsbesuchs in Japan die Befürchtung Chinas, dass ein Konflikt mit Taiwan so gut wie unausweichlich auch einen Konflikt mit den USA bedeutete. Bei einer Pressekonferenz wandelte der US-Präsident das amerikanische Konzept der „strategischen Mehrdeutigkeit“ im Falle eines Konflikts zwischen China und Taiwan in ein de facto-Konzept der „strategischen Eindeutigkeit“ um, als er mit einem unmissverständlichen „ja“ auf die Frage antwortete, ob die USA Taiwan im Falle eines chinesischen Angriffs militärisch verteidigen würden. Das Ziel der amerikanischen „strategischen Mehrdeutigkeit“ gegenüber Taiwan war über Jahrzehnte, sowohl China als auch Taiwan davon abzuhalten, den bestehenden territorialen Status quo zu ändern und einen militärischen Konflikt zu riskieren. Taiwan sollte davon abgehalten werden, unilateral seine Unabhängigkeit auszurufen (in dem Wissen, sich im Falle eines Angriffs Chinas nicht darauf verlassen zu können, von den USA militärisch verteidigt zu werden), und China sollte fürchten müssen, dass die USA Taiwan im Falle eines chinesischen Angriffs militärisch verteidigen.
Aber die Katze war bereits aus dem sprichwörtlichen Sack, als der amerikanische Präsident in Tokio weiterhin erklärte, dass der im April 1979 verabschiedete „Taiwan Relations Act“ die USA verpflichteten, Taiwan im Falle eines chinesischen Angriffs militärisch beizustehen. Das jedoch ist nur die halbe Wahrheit beziehungsweise Teil der angestrebten „Mehrdeutigkeit“. Durch den im April 1979 verabschiedeten „Taiwan Relations Act“ verpflichten sich die USA, Taiwan im Falle eines Angriffs mit den für die Selbstverteidigung notwendigen Waffen und „Verteidigungsdiensten“ auszustatten. Was genau mit „Verteidigungsdiensten“ gemeint ist, blieb seinerzeit undefiniert, auch wenn es damals wie heute zugegebenermaßen eher schwierig ist, „Verteidigungsdienste“ nicht als ein militärisches Eingreifen der USA an der Seite Taiwans zu interpretieren. So weit, so gut, und noch sind die amerikanischen Streitkräfte den chinesischen deutlich überlegen. Allerdings wäre es nicht das erste Mal in Chinas jüngerer Geschichte, dass Peking einen militärischen Konflikt mit einem militärisch überlegenen Kontrahenten vom Zaun bricht. Erinnert werden kann an die von Mao Zedong provozierten Grenzkonflikte mit der Sowjetunion im Jahr 1969, in deren Verlauf Moskau laut darüber nachdachte, China mit Nuklearwaffen zu bombardieren.
Kurz vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine haben Peking und Moskau eine „strategische Partnerschaft ohne Grenzen“ ausgerufen. Dies fiel zusammen mit der Ankündigung zum Ausbau der bilateralen Energie-und Sicherheitsbeziehungen. Seit Beginn des Krieges hat Chinas Propaganda stetig von angeblich „legitimen Sicherheitsinteressen“ gesprochen, die Russland in der Ukraine verteidigt, sagte Paul Haenle vom Carnegie-Tsinghua Centre in Peking. Peking allerdings hat ohne Zweifel die Fähigkeit seiner Waffenbrüder in Moskau überschätzt, die Ukraine (wie anfangs in Moskau behauptet) in wenigen Tagen einzunehmen. Genauso wie Peking die Bereitschaft des Westens unterschätzt hat, die Ukraine mit Waffen und Waffensystemen zu versorgen und Russland mit einem Sanktionspaket nach dem anderen wirtschaftlich zu schaden und das Land so zu isolieren. Allerdings kann es sich Peking nach Ansicht von Zhou Bo, Oberst a.D. und jetzt als Senior Fellow am Center for International Security and Strategy (CISS) an der Tsinghua University in Peking, nicht erlauben, sich von Russland abzuwenden. China, so fürchtet er, würde dann das nächste Ziel (vermeintlicher) amerikanischer Aggressionen: „Wenn China Russland den Laufpass gibt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die USA sich daran machen, China vor sich herzutreiben.“ In Asien, schenkt man der chinesischen Sichtweise Glauben, tun die USA das bereits. Zusammen mit Japan, Australien und Indien, beschwert sich Peking (sehr) regelmäßig, „umzingelten“ die USA China.
Dies täten sie vermeintlich im Rahmen des Quadrilateral Security Dialogue (Quad), einem Zusammenschluss „gleichgesinnter“ Demokratien, die sich im indopazifischen Raum die Einhaltung internationalen (maritimen) Rechts und die Verteidigung der Freiheit der Schifffahrt auf die Fahnen geschrieben haben. Das Forum versteht sich nicht als eine Militärallianz, ist eigenen Angaben zufolge gegen niemanden gerichtet und nicht als Instrument der militärischen Eindämmung zu verstehen. Peking hingegen behauptet wenig überraschend, dass das Forum all das ist und tut, vergisst aber dabei zu erwähnen, dass Quad in erster Linie eine Reaktion auf Chinas territoriale Expansionspolitik in der Süd- und in der Ostchinasee ist. In der Südchinasee lässt China Militärstützpunkte auf künstlichen Inseln in unmittelbarer Nähe umstrittener und von einer Reihe südostasiatischer Staaten beanspruchter Inseln errichten, während in der Ostchinasee chinesische Fischerboote auf Anweisung Pekings und mit wachsender Regelmäßigkeit in die von Japan kontrollierten territorialen Gewässer rundum die umstrittenen Senkaku-Inseln eindringen. Bisher hat Peking jedoch davon abgesehen, seiner Marine das Eindringen in die von Japan kontrollierten territorialen Gewässer rund um die Senkaku-Inseln zu befehlen. Das jedoch kann für die Zukunft nicht ausgeschlossen werden, und Teile der chinesischen Streitkräfte drängen seit Jahren darauf, die Inseln mit militärischer Gewalt einzunehmen. Das ist nicht zuletzt deswegen bedrohlich, weil ein chinesischer Angriff auf die Senkaku-Inseln die USA im Rahmen ihres bilateralen Sicherheitsvertrags verpflichteten, Japans territoriale Integrität an der Seite japanischer Streitkräfte zu verteidigen. Es darf daher gehofft werden, dass sich Xi Jinping im Zweifelsfalle trotz seiner aggressiven und expansionistischen Politik daran erinnern wird, dass sich einer seiner Vorgänger schon einmal sehr verschätzt hat, was die Kampfbereitschaft der USA und des Westens betrifft. Im Juni 1950 war Chinas Diktator Mao Zedong im Zuge der von China und der Sowjetunion unterstützten Entscheidung Nordkoreas, Südkorea anzugreifen, der Fehlperzeption erlegen, dass die USA und der Westen ein „Papiertiger“ seien und nicht in den Konflikt an der Seite Südkoreas eingreifen würden. Das stellte sich bekanntlich als Trugschluss heraus, und drei Tage nach der nordkoreanischen Invasion machten sich von den Vereinten Nationen autorisierte und von den USA angeführte Streitkräfte in Richtung der koreanischen Halbinsel auf, wo sie bis 1953 an der Seite Südkoreas gegen die Soldaten Nordkoreas und wenig später auch gegen Chinas Volksbefreiungsarmee kämpften.
Eine Generalprobe?
Der Blick Chinas, behauptet Jin Canrong, Professor für Internationale Politik an der Renmin Universität in Peking, sei nach vorne gerichtet. Peking, da gibt er sich sehr selbstbewusst, werde von den Fehlern Russlands in der Ukraine lernen: „Das Ukraine-Problem ist eine Generalprobe für eine Krise in der Straße von Taiwan”, sagte er in einem Interview mit der nationalistischen chinesischen Plattform guancha.ca, was nicht zynischer sein könnte. Und weiter: „China kann von dem Vorgehen und den Fehlern Russlands in der Ukraine viel lernen: militärisch und politisch. Wie China im Falle eines Angriffs mit politischem Druck und Sanktionen umzugehen hat.“ Das allerdings ist leichter gesagt als getan, vor allem militärisch. Während die Ukraine ein großer Flächenstaat inmitten von Europa ist, ist Taiwan ein kleiner Inselstaat, der schwer einnehmbar ist. Die Straße von Taiwan ist zirka 180 Kilometer breit, was eine chinesische Invasion auf dem Seeweg alles andere als unkompliziert macht. Bevor China jedoch einen militärischen Konflikt mit Taiwan vom Zaun bricht, hat Peking offensichtlich entschieden, sich auf militärische Einschüchterungstaktiken zu beschränken. Gute Nachrichten sind das jedoch nicht wirklich, denn Chinas sogenannte Grauzonentaktiken zielen darauf ab, kontinuierlichen militärischen Druck auf Taiwans Streitkräfte auszuüben und diese in ständige Alarmbereitschaft zu versetzen. Das (sehr) regelmäßige Eindringen chinesischer Kampfjets in Taiwans Luftverteidigungszone (im letzten Jahr mehr als 300 Mal) ist das Herzstück dieser Grauzonentaktiken. Diese sind nicht ungefährlich und kein chinesisches Kavaliersdelikt über de facto taiwanesischem Luftraum. Taiwans Luftabwehrsysteme sind in ständiger Bereitschaft, und auch, wenn es bisher zu keinem echten militärischen Zwischenfall zwischen chinesischen Kampfjets und Taiwans Luftabwehr gekommen ist, bedeutet das nicht, dass dies in der Zukunft nicht passieren kann. An manchen Tagen befanden sich bis zu 40 chinesische Jets gleichzeitig in Taiwans Luftverteidigungszone, was das Risiko einer militärischen Konfrontation nicht unerheblich macht.
Eine Rechnung ohne die Wirte
Chinesische (regierungstreue) Analysten geben sich optimistisch, dass China sich mit der geplanten Annexion Taiwans Zeit lassen kann. Vorerst werden weiterhin enorme Ressourcen in die Modernisierung von Chinas Streitkräften investiert, und die Wirtschaft des Landes wird auf mögliche Sanktionen des Westens im Falle eines Angriffs auf Taiwan vorbereitet. Auch das ist jedoch (viel) leichter gesagt als getan, nicht zuletzt aufgrund der Abhängigkeit Chinas von den Absatzmärkten in Europa und den USA. Während oft davor gewarnt wird, dass der Westen aufgrund der engen Wirtschafts-und Handelsbeziehungen mit China seinen Volkswirtschaften im Falle von Sanktionen enormen Schaden zufügen würde, bleibt in den Diskussionen häufig unerwähnt, dass die wirtschaftliche Abhängigkeit keine Einbahnstraße ist: Die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen Chinas mit dem Westen (und Japan) sind für China genauso wichtig wie anders herum. Im Jahr 2021 war China der drittgrößte Absatzmarkt für EU-Exporte (cirka 10 Prozent) und der größte Exporteur in die EU (cirka 22,5 Prozent aller EU-Warenimporte). China exportierte Waren im Wert von etwa 472 Milliarden Euro in die EU, während EU-Exporte nach China sich auf rund 223 Milliarden Euro beliefen. Wir haben es also mit einem Handelsdefizit zugunsten Chinas in Höhe von etwa 249 Milliarden Euro zu tun, was de facto bedeutet, dass die EU handelstechnisch wichtiger für China ist als China für die EU. Das deutsch-chinesische Handelsvolumen (Importe und Exporte) belief sich allein im Jahr 2021 auf rund 245 Milliarden Euro. Deutschland ist damit mit Abstand Chinas größter Handelspartner innerhalb der EU. Nahezu 50 Prozent der EU-Exporte nach China kommen aus Deutschland. Die Bedeutung der USA als Absatzmarkt für chinesische Exporte ist noch bedeutender. Die USA sind Chinas größter Absatzmarkt (cirka 17 Prozent aller Exporte Chinas), und das bilaterale amerikanisch-chinesische Handelsvolumen belief sich 2021 auf 657 Milliarden US-Dollar (615 Milliarden Euro): Importe aus China im Wert von 506 Milliarden US-Dollar (473 Milliarden Euro) und Exporte nach China in Höhe von 151 Milliarden US-Dollar (141 Milliarden Euro). Ein Handelsdefizit zu Chinas Gunsten von zirka 355 Milliarden US-Dollar (332 Milliarden Euro). Peking ist sich der Wichtigkeit der amerikanischen und europäischen Märkte daher (schmerzlich) bewusst und hat in den letzten Jahren enorme Ressourcen in die notwendigen Maßnahmen zum Abbau dieser Abhängigkeit investiert. Xi Jinping hat China „wirtschaftliche Autarkie“ befohlen, und in zahlreichen Industriezweigen hat das Land diesbezüglich beachtliche Fortschritte gemacht. Insbesondere im Hochtechnologiesektor kann die chinesische Inlandsproduktion die Binnennachfrage mittlerweile weitestgehend befriedigen.
Ein Rohrkrepierer
Nach Beginn der russischen Invasion wurde mitunter die Hoffnung geäußert, dass Peking die Rolle eines Vermittlers zwischen den Konfliktparteien einnehmen könnte. Das pragmatische China mit seinen engen wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Beziehungen zu Russland, so wurde gehofft, könnte seinen Einfluss auf Präsident Wladimir Putin positiv geltend machen. Von Diktatur zu Diktatur eben. Das allerdings sollte sich sehr schnell (und zugebenermaßen wenig überraschend) als Wunschdenken herausstellen. Auch wenn Peking mehr als einmal hat verlautbaren lassen, dass die territoriale Souveränität der Ukraine „unantastbar“ sei, hat die Regierung unter Xi Jinping in den vergangenen drei Monaten nichts unternommen, diese Einschätzung unter Androhung von Konsequenzen (beispielsweise durch Sanktionen) in Moskau vorzutragen. Und Hand aufs Herz: eine Diktatur, die in den vergangenen Jahren den politischen und militärischen Druck auf Taiwan stetig erhöht hat, mit großer Effizienz und ebensolchem Eifer Militärbasen in der Südchinasee errichtet und in den vergangenen zwei Jahren das, was von den demokratischen Strukturen in Hongkong noch übrig war, mit einem nationalen Sicherheitsgesetz (2020) und einer Reform des Wahlrechts (2021) in der seit 1997 wieder zu China gehörenden Stadt zunichtegemacht hat, ist – gelinde gesagt – nicht der ideale Kandidat als Vermittler im Ukraine-Krieg.
Und jetzt?
Was muss China noch (alles) tun, um die politischen Führer Europas und der USA dazu zu bringen, dem Druck ihrer in China investierenden multinationalen Konzerne standzuhalten und nicht um jeden Preis an der anachronistischen „Ein-China-Politik“ festzuhalten? Vielleicht Taiwan mit noch mehr Entschlossenheit militärisch bedrohen, die Zahl der in der Südchinasee errichteten Militärstützpunkte weiter erhöhen, Japans territoriale Integrität in der Ostchinasee weiterhin infrage stellen und südostasiatische Staaten wie zu Gehorsam verpflichtete Vasallenstaaten in der „Peripherie“ des chinesischen Imperiums behandeln, bis der Westen umdenkt? Peking gehorsam zuzustimmen, wenn Xi und sein Propagandaapparat Taiwan als eine chinesische Provinz abtut, die unter der in Hongkong aus Pekings Sicht so „gut“ funktionierenden „Ein-Land-Zwei-Systeme“-Formel an das chinesische „Mutterland“ eher heute als morgen angeschlossen werden muss, ist jedenfalls keine zu empfehlende Langzeitstrategie. Auch wenn ein Angriff Chinas auf Taiwan weiterhin aufgrund der oben genannten Hindernisse – Chinas wirtschaftliche Abhängigkeit von den Märkten in den USA und Europa und die kaum in Frage zu stellende Bereitschaft der USA, Taiwan militärisch zu verteidigen – unwahrscheinlich bleibt, sollte der Westen Peking in aller Deutlichkeit vor den wirtschaftlichen und militärischen Konsequenzen eines Angriffs auf einen de facto unabhängigen Staat warnen. Die USA sind diesbezüglich (viel) weiter als Europa, deren politische Entscheidungsträger mitunter noch darauf zu hoffen scheinen, dass Peking auch unter Xi Jinping im Zweifelsfall seine von Nationalismus und Geschichtsverfälschung alimentierten Wiedervereinigungspläne wirtschaftspolitischem Pragmatismus unterordnet. China ist und bleibt der Elefant im Porzellanladen asiatischer Sicherheitspolitik, und auch wenn die von den USA forcierte militärische Eindämmung Chinas bisher keinen Platz auf der außen-und sicherheitspolitischen Agenda Europas hatte, gehört sie doch heute und unter den gegebenen Umständen auf diese. Wo genau sie dort zu platzieren ist, eher oben oder eher weiter unten, hängt vor allem von China selbst ab.
Zitierweise: Axel Berkofsky, „China und die 'Taiwanfrage' - Chinesischer Pragmatismus oder Wiedervereinigung um jeden Preis?“, in: Deutschland Archiv, 21.6.2022, Link: www.bpb.de/509571.
ist Associate Professor an der Universität Pavia in Italien und Co-Direktor des Asienprogramms am Mailänder Istituto per gli Studi di Politica Internazionale (ISPI). Er ist profilierter Autor zahlreicher Veröffentlichungen über die deutsch-chinesischen Beziehungen, insbesondere auch zwischen der DDR und China bis 1990.
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