Kulturelle Selbstbehauptung
Eine kurze Geschichte der US-Literatur
War es zunächst die Emanzipation von der Alten Welt, die die Richtung vorgab, erhielt die amerikanische Literatur durch Aufarbeitung des Gründungsmythos bald eine eigene Note. Inzwischen weltweit etabliert und vielfach preisgekrönt repräsentieren die aktuellen Werke der US-Literatur ein Stück amerikanischer Identität: die Vermittlung zwischen der kulturellen und ethnischen Vielfalt dieser Nation.
Kritischer Blick auf die Expansion gen Westen
Zu zeigen, dass Literatur auch in einer Demokratie möglich sei, motivierte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. eine neue Generation amerikanischer Schriftsteller dazu, schöpferische Originalität mit dem Anspruch auf kulturelle Selbstbehauptung zu verbinden: den Essayisten Ralph Waldo Emerson mit seiner Forderung nach kreativer Unabhängigkeit des Individuums; Walt Whitman, der in seinem "Song of Myself" (1856) die sprachschöpferische Identifikation des lyrischen Ich mit der neuen amerikanischen Wirklichkeit als symbolische Einlösung ihres demokratischen Potentials zelebrierte; Henry David Thoreau, der in seinem Essay "Walden" (1854) den Nachweis erbrachte, dass – als Entwurf gegen den Konformismus seiner Zeit – ein individuelles Leben in und aus der Natur möglich sei; Herman Melville, der mit "Moby Dick" (1850) einen Roman schrieb, dessen Genialität erst das 20. Jahrhundert entdeckte, weil es sich in der Gestalt des besessenen Kapitän Ahab und seiner Jagd auf den Weißen Wal wieder erkannte; den Romancier Nathaniel Hawthorne, der noch zu Lebzeiten zum Klassiker der jungen amerikanischen Literatur wurde und in seinen Romanen und Kurzgeschichten die schuldbesetzte Vergangenheit des puritanischen Neuengland aufarbeitete; schließlich der erste Theoretiker der Kurzgeschichte und ihr brillantester Vertreter, Edgar Allan Poe, dessen genial-exzentrische Radikalität nicht in das amerikanische Kulturleben passte und der seine Wiederentdeckung daher dem Europäer Charles Baudelaire verdankteDie Werke dieser Periode geben einem unbedingten Individualismus Ausdruck, der das soziale und ökonomische "laissez-faire"-Denken wie auch die Expansion Amerikas nach Westen begleitete, diese aber zugleich auch kritisch hinterfragte. Zentral war ebenso die Auseinandersetzung mit der Sklaverei, am wirkungsvollsten in Harriet Beecher Stowes "Uncle Tom´s Cabin" (1852) und in den Autobiographien geflohener Sklaven wie von Frederick Douglass (1849) und Harriet Jacobs (1861).

Erforschung neuer urbaner Lebenswelten
Der Bürgerkrieg (1861-1866) markierte einen tiefen Bruch in der Geschichte der USA. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurde die ehemals agrarische Republik zur Kontinentalnation und industriellen Weltmacht. In die expandierenden Städte strömten Millionen von Einwanderern aus allen Teilen Europas. Dazu kamen um die Jahrhundertwende weitere Millionen ehemaliger Sklaven, die der wachsenden Rassendiskriminierung des Südens entgehen wollten und sich im Norden ein freieres Leben erhofften. Diese Verschiebungen innerhalb der Gesellschaft schlugen sich in zunehmenden sozialen und ethnischen Konflikten nieder. Obwohl in dieser Zeit Emily Dickinson in der Abgeschiedenheit von Amherst Gedichte schrieb, deren sprachliche Hermetik die Moderne vorwegnahm, war das eigentliche Medium dieser Periode der realistische Roman, der mit begrenztem Erfolg versuchte, zwischen der Perspektive des "alten" Amerika und der neuen gesellschaftlichen Wirklichkeit zu vermitteln. Er stellte das Ich in soziale Zusammenhänge und Verpflichtungen, erforschte aber zunehmend auch subjektive Wahrnehmungs- und Reflexionsprozesse.So registrierte Mark Twain in "The Adventures of Huckleberry Finn" (1886) die visuell wahrgenommene Welt seines ungebildeten Kind-Helden mit großer sprachlicher Präzision, während Henry James vor allem in seinen späten Romanen (etwa in "The Ambassadors", 1903) Wirklichkeit als Strom reflektierter Erfahrung gestaltete. Dieser Wendung nach Innen begegnete der naturalistische Roman mit der Erforschung neuer urbaner Lebenswelten. In seinem Roman "Sister Carrie" (1900) verwandelte Theodore Dreiser die Großstadt in einen Möglichkeitsraum, in dem seine junge Protagonistin als Broadway-Star ihr Glück macht, während ihr alternder Liebhaber in der Gosse endet. Angetrieben von der produktiven Kraft ihres Verlangens nach Dingen, die das Herz begehrt, überlassen sich Dreisers Helden ganz der Dynamik und sinnlichen Übermacht der Metropole.