Auf den frei werdenden Sendeplätzen strahlten vor allem RTL und Sat.1 ab 1999 so genannte Gerichtsshows aus, die – wieder in einer anderen Form – den Anspruch erhoben, Ausschnitte der Realität zu zeigen. Das Grundprinzip sieht vor, dass vor Richtern, die auch in Wirklichkeit diesem Beruf nachgehen, echte Fälle nachgestellt oder ausgedachte Fälle verhandelt werden.
Diese Sendungen haben im öffentlich-rechtlichen Fernsehen eine lange Tradition, die von der ARD-Sendung "Das Fernsehgericht tagt" (1961–1978) über "Ehen vor Gericht" (ZDF, 1970–2000) bis zum "Verkehrsgericht" (ZDF, 1983–1998) reicht. Weiterhin gab es mit der Serie "Wie würden Sie entscheiden?" (ZDF, 1975–2001) eine Gerichtssendung, die die Zuhörer im Gerichtssaal einbezog und sie mit ihren Urteilsprognosen dem Fernsehzuschauer präsentierte.
Gerichtssendungen in der DDR
Auch das DDR-Fernsehen hatte eine vergleichbare Form (die Pitaval-Reihe nach der von François de Pitaval begründeten, nach ihm benannten Sammlung authentischer Kriminalfälle) entwickelt, in der der Rechtsanwalt Friedrich Karl Kaul und der Drehbuchautor Walter Jupé von 1957 bis 1978 historische Kriminalfälle aufgriffen und sie nachinszenierten. Da nach sozialistischer Vorstellung Kriminalfälle nur in der bürgerlichen Gesellschaft vorkommen konnten, griffen sie besonders häufig Fälle aus der Bundesrepublik auf, die oftmals einen politischen Hintergrund hatten. So thematisierten sie z. B. in fünf Folgen den ersten Auschwitz-Prozess 1964 oder "die Affäre Heyde-Sawade", in der es um den Wiederaufstieg eines SS-Mediziners unter falschem Namen ging, aber auch Fälle wie den des Serienmörders Karl Denke ("Der Fall Denke"). Weniger spektakulär war die Reihe "Der Staatsanwalt hat das Wort" (1965–1991), in der insbesondere die Vorgeschichte der größeren und kleineren Kriminalfälle aufgerollt und damit jeweils der Umstand der Entstehung gezeigt wird.
Einblicke in die Realität der Verbrechensaufklärung?
Die präsentierten 'echten' Konfliktfälle, die zur Verhandlung anstanden, hatten für die Zuschauer einen doppelten Reiz: Zum einen durch die Authentizität der Fälle, die sie – vermeintlich – an der Realität der Verbrechensaufklärung teilhaben ließ, zum anderen dadurch, dass in Deutschland keine Fernsehaufnahmen von realen Gerichtsverhandlungen erlaubt waren und sind. Zudem gibt es eine ebenso lange Tradition fiktionaler Gerichtsfilme und -serien, die teilweise auch im deutschen Fernsehen zu sehen waren, etwa die amerikanische Fernsehserie "Perry Mason" in den 1960er Jahren.
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Die Gerichtsshow etablierte sich in Deutschland 1999 mit der Sendereihe "Richterin Barbara Salesch" (Sat.1, 1999–2012), die anfangs eher geringen Erfolg hatte und nach dem US-Format "Judge Judy" konzipiert war. Im Oktober 2000 verdoppelte Sat.1 die Sendezeit und verlegte sich fortan auf "geschriebene Fälle", also nach Drehbüchern produzierte Fälle, die von Laiendarstellern umgesetzt wurden (vgl. "Interner Link: Scripted Reality") – mit großem Erfolg bei den Zuschauern.
Die Sendung und damit das Format der Gerichtsshow insgesamt wurde vor allem dadurch bekannt, dass der Entertainer Stefan Raab einen echten Konfliktfall um einen Maschendrahtzaun und einen zu dicht daran wachsenden Knallerbsenstrauch zwischen zwei Hausnachbarn aufgriff und daraus mit dem sächsischen Originalton einer Klägerin das Lied vom "Maschendrahtzaun" komponierte. Er präsentierte es immer wieder in seiner Sendung, bis es sich in den Charts zu einem Nummer-eins-Hit entwickelte, so dass auch jüngere Zuschauer die Sendung "Richterin Barbara Salesch" schließlich kannten. 2002 erreichte die Serie dann einen Markanteil von über 30 %.
Der Erfolg führte dazu, dass RTL und Sat.1 mehrere weitere Gerichtsshows in die Programme aufnahmen ("Das Jugendgericht", RTL, 2001–2005 mit Dr. Ruth Herz und 2005–2007 mit Kirsten Erl; "Richter Alexander Hold", Sat.1, 2001–2013; "Das Strafgericht", RTL, 2002–2008 mit Ulrich Wetzel; "Das Familiengericht", RTL, von 2002–2007 mit Frank Engeland).
Bei vielen Fällen handelte es sich um zivilgerichtliche Fälle. Es standen also Beziehungskonflikte im Mittelpunkt und weniger Kapitalverbrechen, wie Mord, Raub oder Vergewaltigung.
Emotionalisierte Darstellungen
Auch hier ging und geht es zunehmend um emotionalisierte Darstellungen, wie sie in dieser Form vor keinem deutschen Gericht stattfinden dürfen, so dass hier ein verfälschtes Bild deutscher Gerichte und Rechtsprechung entsteht. Die Verfahren sind deutlich begrenzt auf eine halbe oder eine ganze Stunde, oft sind die Fälle noch kürzer, weil mehrere Fälle in einer Sendung verhandelt werden. Es gibt immer wieder Geschrei während der Verhandlungen, aus dem Publikum kommen Zwischenrufe, unvermutet platzen Zeugen in die Verhandlung, es gibt private Ermittler, überraschend werden Videokassetten hereingebracht, die heimliche Aufzeichnungen der Beklagten zeigen, aus einer emotionalisierten Stimmung heraus kommt es zu unfreiwilligen Geständnissen.
Kalkulierte Adrenalinschübe
Die Dramaturgie der einzelnen Folgen der Gerichtsshow ist einfach. Sie ist an den fiktionalen Formen des Court Drama (des fiktionalen Gerichtsfilms) orientiert, der der Konvention der Geschlossenheit von Ort, Zeit und Handlung folgt. Es beginnt mit einer Falldarstellung, läuft auf einen Konflikt-Höhepunkt zu und erfährt eine Lösung – hier immer durch die Entdeckung des wahren Täters und durch das Urteil der Richterin. Dabei gibt die Richterin den streitenden Parteien immer noch einige gute Ratschläge und dem Zuschauer eine moralische Botschaft mit auf den Weg. So schrill und bizarr sich die Fälle im Einzelnen auch darbieten, am Ende siegt immer die Normalität, auf die die Fälle 'hingebogen' werden.
Damit entspricht auch dieses Genre dem Prinzip des Fernsehens, an einem Geschehen teilzuhaben und es in einem sehr stark ritualisierten Ablauf problemlos verfolgen zu können. Auch hier ist die Erzeugung und Lenkung von Emotionen beabsichtigt. Geliefert werden für den Zuschauer 'wohlkalkulierte Adrenalinschübe', persönliche Konfrontationen und Attacken, alle Prozessbeteiligten (mit Ausnahme des Richters oder der Richterin) dürfen sich gegenseitig beleidigen. Am Ende wird jedoch durch die berufene Person des Richters bzw. der Richterin Recht und Ordnung wieder hergestellt, werden die geltenden Normen erneut verkündet und damit bestätigt.