Das Wunder an der Oder
Grenze. Welche Grenze? Schon vor dem Fall der Mauer sind sich Ostdeutsche und Polen zwischen 1972 bis 1980 näher gekommen. Nach dem Ende der europäischen Teilung knüpfte man an dieses erste Wunder an.In der politischen Geographie nehmen Flüsse eine trennende Funktion wahr, oft werden sie bereits als Grenzen, als sogenannte "natürliche Grenzen" wahrgenommen. Manchmal kann an diesen trennenden Flüssen aber auch ein "Wunder" geschehen, etwas ganz Außergewöhnliches. In diesem Fall wird dem Fluss eine besondere, eine verbindende Funktion zugeschrieben. Ein solches Ereignis geschah an der Oder – ein Grund, warum in Verbindung mit dem Fluss von einem "Wunder" gesprochen wurde. Dieses Wunder passierte sogar zweimal. Darum verdient diese Grenze eine besondere Aufmerksamkeit.
Vertreibung und Teilung der Städte
Vertreibung und Neuansiedlung prägten in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg die Bevölkerung beiderseits der Oder-Neiße-Grenze. Auf der deutschen Seite der Grenze stellten Vertriebene aus dem heutigen Polen vielfach die Hälfte der Einwohner. Sie kamen zu Fuß und mit Handwagen, fast ohne alle Habe. Nicht weniger schwierig war die Lage auf der polnischen Seite. Während man die Deutschen über Nacht aus ihren Häusern warf, verfrachtete man die polnischen Vertriebenen aus dem Osten ebenso rücksichtslos in die deutschen Ostgebiete, um dort den polnischen Bevölkerungsanteil zu erhöhen. So war das Schicksal der deutschen und der polnischen Vertriebenen sehr ähnlich. Doch das wussten beide Seiten zum damaligen Zeitpunkt noch nicht.Quadratkilometer groß ist das Einzugsgebiet der Oder. Der größte Nebenfluss ist die Warthe mit 808 Kilometern Länge
Deutsche Städte wurden in einen deutschen und einen polnischen Teil aufgespalten. Infolgedessen wurde aus einem Teil von Frankfurt an der Oder, der vor dem Krieg die Vorstadt Frankfurts gewesen war, das polnische Słubice. Die Grenze blieb in den ersten Nachkriegsjahren hermetisch geschlossen, sie war schlicht unpassierbar. Am Ende der Kampfhandlungen wurde nicht nur die Stadtbrücke, sondern auch die Eisenbahnbrücke gesprengt. Aber nicht nur dieser Abbruch von tatsächlichen Brücken machte den Spaziergang auf die andere Stadtseite unmöglich. Auch aus ideologischen Gründen sollte die Grenze geschlossen und unpassierbar bleiben. Jeglicher Kontakt zwischen den Bewohnern der beiden Stadtteile war verboten.
Die Grenzöffnung im Januar 1972
Vor diesem Hintergrund sprach man von einem "Wunder", als gerade diese Grenze am Neujahrstag 1972 geöffnet wurde. Mit der Grenzöffnung begann die deutsch-polnische Nachbarschaft an der Oder. Die Annäherung zwischen Deutschen aus der DDR und Polen verlief überraschend gut. Erste Kooperationen im Kultur- und Wirtschaftsbereich wurden vereinbart. Im Grenzgebiet bildete sich eine Gruppe der Aktivisten zugunsten der deutsch-polnischen Freundschaft heraus; sie bestand überwiegend aus akademisch gebildeten Funktionären des Staates, der Wirtschaft und der Kultur. Bald schon entwickelte sich der ursprünglich politische "Freundschafts"-Auftrag zur Herzenssache.Mit der Zeit entstanden persönliche Bekanntschaften und Freundschaften, es kam auch immer häufiger zu deutsch-polnischen Eheschließungen. Besonders wichtig war die Versöhnung zwischen den deutschen und polnischen Vertriebenen, die in dieser Zeit der ersten Grenzöffnung vorankam. Für die deutschen Vertriebenen bot sich zum ersten Mal nach 27 Jahren die Möglichkeit, die alte Heimat zu besuchen. In vielen Fällen entschied man sich tatsächlich für diese bewegende Reise in die Vergangenheit. Anfangs wurden die neuen Bewohner der nunmehr polnischen West- und Nordgebiete von diesem Besuch völlig überrascht. Doch nach kurzer Unsicherheit, gewiss auch einem gewissen Unbehagen, luden sie die Vorbewohner ihrer Häuser und Gärten zu einem Imbiss ein. Nicht selten reagierten die Deutschen angesichts des vernachlässigten Zustands ihrer früheren Besitztümer enttäuscht. Oft aber zeigten sie auch Verständnis für die schwierige finanzielle Situation und boten ihre Hilfe an, etwa indem sie Farbe mitbrachten, damit die verwitterten Zäune endlich gestrichen werden konnten.
Im Allgemeinen lässt sich feststellen, dass die Besuche aus der DDR in Polen immer dann einen positiven Verlauf nahmen, wenn die neuen Bewohner den Eindruck gewannen, dass es sich lediglich um einen Besuch und nicht um eine Rückkehr handelte. Die gelegentlich gegebenen Hinweise der Deutschen auf eine bessere Bewirtschaftung wurden hingegen nicht mit Dankbarkeit aufgenommen. Prüften sie gar, ob sich das ehemalige Haushaltsgerät noch am alten Platz befand, reagierten die neuen Besitzer verlegen. Im Unterschied zu den älteren DDR-Bewohnern interessierten sich die deutschen Jugendlichen nicht dafür, in welchem Zustand sich die Häuser ihrer Eltern befanden. Die jungen Deutschen fragten vor allem nach den Plänen und Interessen der polnischen Jugend oder nach Möglichkeiten, ihre Freizeit auf der polnischen Seite zu verbringen.
Grenzschließung im Oktober 1980
Im Oktober 1980 wurde auf Wunsch der DDR-Behörden – wegen der Solidarność-Bewegung in Polen sowie der wirtschaftlichen Schwierigkeiten in beiden sozialistischen Ländern – der visafreie Personenverkehr zwischen Polen und der DDR eingestellt. Damit erschwerten die Behörden den Kontakt zwischen den deutschen und polnischen Bewohnern der Grenzregion.Die erneut geschlossene Grenze war für die einfachen Bürger unpassierbar geworden; man konnte sie nur noch mit einer speziellen Erlaubnis oder einem Visum überqueren. Die in den siebziger Jahren geknüpften Beziehungen wurden auf eine harte Probe gestellt. Die Einführung der Visumspflicht schuf auch eine erhebliche Barriere für die freie Gestaltung der Zusammenarbeit zwischen den geteilten Städten an Oder und Neiße. Obwohl das in den siebziger Jahren Erreichte nicht einfach annulliert und die einmal geweckte Neugier auf die "andere Seite" nicht mehr unterdrückt werden konnten, muss man feststellen, dass die achtziger Jahre zur Dekade der Stagnation im Bereich der grenzüberschreitenden Kontakte wurden. Doch zahlreiche in den siebziger Jahren geknüpfte Bekanntschaften und Freundschaften überlebten die schwierige Periode der geschlossenen Grenze (1980-1991) und konnten nach der zweiten Grenzöffnung im Jahr 1991 weitergeführt und fortentwickelt werden.
Das Beispiel Viadrina
Nach der Grenzschließung und einer weiteren zehnjährigen Trennung zwischen den deutschen und polnischen Städten verloren die Einwohner allmählich die Hoffnung, dass sich abermals und bleibend etwas verändern könnte. Zur vollkommenen Überraschung beider Seiten kam es dennoch zum zweiten Mal zu diesem "Wunder". Nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende der Teilung in Europa wurde im April 1991 die deutsch-polnische Grenze erneut für den visafreien Reiseverkehr geöffnet. Für die Region und die Menschen beiderseits der Oder eröffnete sich eine neue Chance, das bestehende Nachbarschaftsverhältnis zu gestalten. Sogleich nahmen deutsche und polnische Kultureinrichtungen die Zusammenarbeit auf; sie organisierten deutsch-polnische Konzerte, Theatervorstellungen, Ausstellungen und zahlreiche weitere Veranstaltungen. Deutsche und polnische Geschäftsleute begannen, auf der anderen Seite der Grenze zu investieren oder sogar gemeinsame Firmen zu gründen.„Die Passagierboote gehen von Frankfurt aus zweimal wöchentlich, Mittwoch und Sonnabend, und machen die Fahrt nach Küstrin in zwei, nach Schwedt in acht, nach Stettin in zehn Stunden. Die Benutzung erfolgt mehr stationsweise und auf kleineren Strecken als für die ganze Tour. Schon deshalb, weil die Eisenbahnverbindung die Reisenden eher und sicherer ans Ziel führt. Eher und allen Umständen, und zwar umso mehr, als es bei niedrigem Wasserstande vorkommt, dass die Fahrt auf Stunden unterbrochen oder gar wohl ganz eingestellt werden muss. (…) Flussregulierungen sind nicht unsre starke Seite.“
„Die Oder ist ein edles Bauernweib. Mit stillen, sicheren Schritten geht sie durch ihre Lande. Kalk- und Kohlestaub liegen manchmal auf ihrem Kleid, zu ihrem einförmigen Lied klopft der Holzschläger den Takt. Sie hat immer Arbeit, schleppt ihren Kindern Kohle und Holz, Getreide und hundertfachen Lebensbedarf ins Haus. Zu Grünberg nippt sie ein gutes, bescheidenes Haustränklein. Die bei ihr wohnen, sind geborgen und glücklich, und wenn sie ans Meer kommt, breitet sie angesichts der Ewigkeit weit und fromm ihre Arme aus.
„Die Oder, der Fluss, der von weither kommt (…) Hier geschieht das Vollkommene nicht, hier bändigt niemand zu edlem Maße das Ungebärdige, und das Dunkle ist wie vor der Schöpfung ungeschieden vom Hellen.“
„Ich ging weiter über die Brücke. Rechts neben mir war ein Gitter. Unter mir war ein Fluss. Ich ahnte sofort, dass der Fluss Oder hieß, und ich stellte mich erst mal an das Gitter, um in die Oder zu spucken. Nach Möglichkeit spucke ich von jeder Brücke, vorausgesetzt, unter der Brücke ist Wasser.“
„Die Oder ist wie eine Enzyklopädie. Zwischen Mährischer Pforte und Oderhaff bekommt man fast alles zu sehen, was die Welt Mitteleuropas zu bieten hat.“
„Es flanieren viele Leute entlang der Oder. In Frankfurt sind das eher Rentner, die viel Zeit haben und die schönen Aussichten und den schönen Boulevard genießen. In Slubice sind es eher Leute, die Hunde haben, da der Oderdamm eine hervorragende Hundespazierstätte ist. Mit der Zeit wird es sich so entwickeln, nehme ich an, dass die Strecken sich verzweigen werden. Die Rentner werden über die Brücke gehen und ihren Spaziergang auf der polnischen Seite fortsetzen. Und die Hundefreunde werden in den Hundeladen in den Oderturm gehen, wo sie gutes Futter kaufen können. Und das ist auch richtig so.“
Wenn man die Viadrina Universität mit anderen grenzüberschreitenden Universitäten vergleicht, erscheint auch diese Entwicklung wie ein Wunder. Zum Vergleich könnte beispielsweise die deutsch-dänische Grenzregion herangezogen werden, die seit langer Zeit eine offene und friedliche Grenze besitzt. Wohl gibt es zwischen der Universität in Flensburg und der Süddänischen Universität in Sønderborg ein Kooperationsabkommen für den bilateralen Studiengang Europastudien. Aber der gemeinsame Wunsch, dass die Studierenden beiderseits der Grenzen das Fach an beiden Universitäten studieren, ist bis heute nicht eingelöst. Vielmehr sind die meisten Studierenden aus Flensburg noch kein einziges Mal in Sønderborg gewesen. Flensburg und Sønderborg liegen fast 40 Kilometer auseinander – eine Barriere, die für die meisten Studierenden, auch wegen der unzureichenden Infrastruktur, kaum zu überwinden ist.
Trotz der widrigen Vorgeschichte hatte es die Europa-Universität Viadrina hier leichter. Dank des politischen Willens sowie der Offenheit der Bevölkerung und der Studierenden konnte sie zum Vorbild für andere grenzüberschreitende Universitäten werden.
Jenseits der Wunder
Trotz positiver Beispiele über eine gelungene deutsch-polnische Zusammenarbeit an der Oder bleibt festzuhalten, dass die deutsch-polnische Grenzregion kein Grenzen überschreitender Erinnerungsort ist, weil sich die Erinnerungen der deutschen und der polnischen Einwohner voneinander unterscheiden. Es gibt auch keine gemeinsame Identität. Während sich die meisten deutschen Einwohner der deutsch-polnischen Grenzregion dieser Region zugehörig fühlen, identifizieren sich beinahe alle polnischen Einwohner mit Polen.Überraschend ist auch die Tatsache, dass sich ältere Menschen, die den Krieg und die Vertreibung erlebt haben, auf dem Gebiet der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit engagierter verhalten als jüngere Einwohner der Grenzregion. In den meisten Fällen handelt es sich bei den Älteren um jene oben angesprochenen Aktivisten der 70er Jahre, die sich nach der ersten Grenzöffnung für die deutsch-polnische Zusammenarbeit engagierten. Womöglich sind diese frühen persönlichen Erfahrungen ein Grund für die ältere Generation, sich für engere nachbarschaftliche Verhältnisse einzusetzen. Die Älteren haben gelernt, dass man an bilateralen Beziehungen ständig arbeiten muss, dass man für stabile friedliche Verhältnisse beiderseits der Grenzen permanent etwas tun muss. Nur auf diese Weise wird uns das Wunder an der Oder erhalten bleiben.