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Meine Donau

Ivan Ivanji

/ 14 Minuten zu lesen

Ich bin ein Donauanrainer. Schon als Kind habe ich Europas Karten nach den Flüssen gezeichnet. Der Badestrand von Novi Sad war der schönste, den es gab. Nur waren meine Eltern so ungeschickt, als Juden auf die Welt zu kommen.

Die Donau mit der neuen Freiheitsbrücke in Novi Sad (Ivan Aleksic; Externer Link: Wikimedia Commons) Lizenz: cc by/2.0/de

Landkarte mit Flüssen

Mein Geburtsort liegt an einem Wasserlauf, der so oft von Menschenhand verändert worden ist, dass man ihn nicht als Fluss, sondern als Kanal bezeichnet. Er heißt Bega und mündet in den aus Ungarn kommenden Strom Theiß, die Theiß danach in die Donau. Deshalb darf ich mich einen Donauanrainer nennen.

Auf der ersten Landkarte, die ich in der Schule für den Geographieunterricht erhielt, ist der Doppelkanal Bega mit zwei ganz dünnen blauen Strichen eingetragen, die schräg von rechts oben – dem Nordosten – nach links unten – Südwesten – führen. Dort begegnen sie einer etwas dickeren blauen Linie, der Theiß, die sich fast geradeaus von oben nach unten erstreckt. Die Donau ist ein viel besser bemerkbarer, dicker, manchmal verkrampfter, sich verdünnender oder verdickender Strich. Der fällt Richtung Nord-Süd in Jugoslawien ein, macht dann einen Knick nach rechts, fährt dem Osten zu, mit wieder einem Knick läuft er nach unten, sucht kurz wieder den Süden und macht einen weiteren Knick endgültig nach rechts, obwohl er noch verschiedene komplizierte Schlingen weiter bis zur blauen Fläche des Schwarzen Meeres ziehen wird. Ziemlich genau an der Mitte zwischen den beiden Knicks liegt die Stadt Novi Sad, auf Deutsch Neusatz, auf Ungarisch Ujvidék.

Die Landkarte mit diesen Flüssen kann ich jederzeit ziemlich genau zeichnen. Ich musste sie als zehnjähriger Schüler auf Pauspapier kopieren. Auf ihr beruht heute noch mein Bild von meiner Heimat. Die blauen Flusslinien wirken wie Adern in einem anatomischen Atlas. Die Donau als Schlagader?

Der Badestrand von Novi Sad

Meine wichtigsten Erinnerungen an die Donau stammen aus dem Sommer 1941. Damals waren meine Eltern, die so ungeschickt gewesen sind als Juden zur Welt zu kommen, schon verhaftet. Meine Tante, die Frau des älteren Bruders meines Vaters, die vernünftigerweise Deutsche war, nahm mich zu sich nach Novi Sad. Die Region Batschka, deren Hauptstadt Novi Sad ist, war von Horthys faschistischen Ungarn besetzt.

Der Badestrand von Novi Sad ist weltweit einer der schönsten Flussstrände, die es gibt. Dachte ich damals und glaube es immer noch. Er ist mehrere Kilometer lang, ausgestattet mit seltsam gebauten, architektonisch verschieden gestalteten Umkleidekabinen aus solidem Holz, manche von ihnen mit kleinen, überflüssigen Türmen. Entlang des Strandes befanden sich mehrere Cafés und Restaurants auf feinem, aber festen, hellbraunen Sand, der kein Staub, sondern grobkörnig ist, so dass man ziemlich feste Sandburgen bauen kann.

In einem Bootshaus hatte mein Onkel einen Platz für sein Ruderboot mit Rollsitz gemietet und seine Familie, zu der ich jetzt auch gehörte, konnte dort eine große Kabine zum Umziehen benutzen. Ich durfte manchmal auch allein auf den Fluss hinausrudern, weil ich in meiner Heimatstadt an der Bega schon so einen ähnlichen Kahn gehabt habe.

Als Knabe allein auf der breiten Donau habe ich mich trotz allem frei gefühlt.

Die Strömung der Donau bei Novi Sad ist so stark, dass kaum jemand fähig ist flussaufwärts zu schwimmen, aber man spaziert, so lange man Lust hat, in diese Richtung, steigt dann ins Wasser und lässt sich bequem flussabwärts treiben. Oder man spielt im Sand. Wenn man ein Kind ist. Ich war damals zwölf Jahre alt. Die Erwachsenen tranken Bier und spielten Karten.

Mein Onkel hatte mir einen Taschenkalender aus dem vorigen Jahr geschenkt, in dem Verkehrszeichen in Farbe abgebildet waren. Ich klebte sie auf ein Stück Karton, schnitt vorsichtig die Gebots- und Verbotszeichen aus und befestigte sie an Streichhölzern. Dann machte ich Berge aus Sand, führte Straßen mit vielen Kurven durch diese Landschaft und bestückte sie mit meinen Tafeln. Winzige Zweige pflanzte ich als Bäume am Straßenrand. Mitunter führte der Weg durch Tunnels, der vorsichtig benetzte Sand hielt das aus.

Nun wäre das Spielfeld für Spielzeugautos gefahrlos zu befahren gewesen. Tatsächlich hoffte ich jeden Abend, mein Werk am nächsten Morgen ausnahmsweise heil wieder vorzufinden, aber anstatt erfüllter Hoffnungen erlebte ich Enttäuschungen, meine Landschaft im Sand wurde immer wieder von achtlosen Menschenfüßen zertrampelt. Freilich war ich immer vorsichtig genug, wenigstens die Verkehrszeichen einzusammeln und mit nach Hause zu nehmen. Die Sandwelt konnte ich ja wieder aufbauen, aber wenn die selbstgebastelten Verkehrszeichen verloren gegangen wären, hätte ich für sie keinen Ersatz gefunden.

Wo sind meine Eltern?

Ich kann mich nicht erinnern, wer mir gesagt hat, dass meine Eltern in Belgrad in einem Lager seien. Auch nicht, was ich mir damals unter einem Lager vorgestellt habe. An manchen Tagen pflückte ich Feldblumen am Donauufer und ging zum Hafen, um auf Schiffe aus Belgrad zu warten. Vielleicht würden sie ankommen und ich stünde da, um sie zu begrüßen. Das wäre eine große Überraschung für sie gewesen. Schiffe legten an, Menschen stiegen aus und gingen achtlos an mir vorbei. Zwischen Bootsrand und Steg plätscherte die Donau. Am späten Nachmittag, wenn keine Schiffe mehr erwartet wurden, warf ich die Blumen weg. Ich hätte sie für meine Tante mit nach Hause bringen können, die hätte sich gefreut, aber ich konnte nicht, sie waren nicht für sie bestimmt.

Dann wieder am Strand, der schon seit Jahrzehnten, seit 1911, eine offizielle Badeanstalt war. In Österreich-Ungarn. Danach im Königreich Jugoslawien. Jetzt von ungarischen Truppen besetzt. Der Donau scheint das gleichgültig zu sein.

Manchmal lag ich einfach nur im heißen Sand und beobachtete den Himmel mit seinen verspielten Wolken. Und die Bäume. Auch heute noch wird der Badestrand in Novi Sad von Spalieren hoher, wunderbarer Pappeln bewacht. Im Krieg sind sie, Gott sei dank, trotz Frost und Tod nicht abgeholzt worden. Gezählt habe ich sie nie. Es müssen viele Hunderte sein, kilometerlang mehrere Reihen von Pappeln.

Mir fehlt ein Wort

Viel später habe ich einen Aufsatz von Kurt Tucholsky mit dem Titel Mir fehlt ein Wort gelesen. Mir fehlt hier eben dasselbe Wort. Freilich wusste ich damals nichts von diesem Dichter und dass er sich wegen der Leute, die ein Hakenkreuz auf dem Rockärmel trugen, umgebracht hatte, obwohl er schon in Sicherheit in Schweden war. Dazu muss ich feststellen, dass ich im Sommer 1941 genau so wenig wusste, wo meine Eltern waren, und dass man sie vielleicht im diesem selben Augenblick folterte, erniedrigte oder umbrachte, während ich…

Ich beobachtete faul und gedankenlos die schiefergraue Donau und die Pappeln. Tucholsky hatte eigentlich über Birken geschrieben, aber was ist das schon für ein Unterschied?

"Ich werde ins Grab sinken", heißt es bei ihm, "ohne zu wissen, was die Blätter tun. Ich weiß es, aber ich kann es nicht sagen. Der Wind weht durch die jungen Äste; die Blätter zittern so schnell hin und her, dass sie… was? Man kann allenfalls sagen: die Blätter flimmern… aber es ist nicht das. Es ist eine nervöse Bewegung, aber was ist es? Was man nicht sagen kann, bleibt unerlöst. Steht bei Goethe. Blattgeriesel? Ich mag nicht aufstehen, es ist so weit zu diesen Bänden, vier Meter und hundert Jahre…", schrieb Tucholsky, ist aber bei mir genau so der Fall, auch meine großen Bücherregale sind so weit vom Schreibtisch entfernt. "Ich werde sterben", sagt Tucholsky, "und es nicht gesagt haben…" Ich werde auch nicht sagen können, was ich jetzt gerade so gerne sagen möchte.

Die Donau, im Sommer 1941 mit meinen zwölfjährigen Augen gesehen, ist genau so schwierig, so unmöglich zu beschreiben wie die Birken- oder Pappelblätter und ihre Bewegung. Mächtig wälzt sie sich dahin. Kein Wellengang wie am Meer, aber um nichts weniger kräftig. Viele Nuancen von Grau. Ich habe schiefergrau gesagt, aber möglicherweise wäre taubengrau besser? Mausgrau nicht. Je nach dem, wie die Sonne steht, leuchtet Grünliches, manchmal doch auch Bläuliches auf. Es funkelt. Oder es vibriert, glänzt, gleißt. Wenn die Abendsonne auf die müde Donau hinunterstrahlt, lodert es manchmal feuerrot auf, aber nur für eine Sekunde.

Über den breiten Fluss streichen weiße Möwen. Wo kommen die her? Wo fliegen sie hin?

Das Massaker von Novi Sad

Das war im Sommer. Im Herbst ging ich zur Schule, ich besuchte das ungarische Gymnasium und hatte nur noch wenig mit der Donau zu tun. Wir wohnten nahe an der im Krieg gesprengten Donaubrücke, und manchmal ging ich hin, um dieses nutzlose Eisengebälk, das in das Wasser gestürzt war, zu beobachten. Es zog mich irgendwie an.

Der Donau schien das nichts anzuhaben. Wie gesagt, es war September 1941. Oktober, November. Wer konnte ahnen, dass die nach dem Krieg aufgebaute Brücke im Frühjahr 1999 wieder - in Stücke zerbombt - in die Donau stürzen würde? Nicht von faschistischen Bomben. Auch die Bomben der NATO, die friedliche Brücken zerschlagen, gehören zur Geschichte über der Donau, wie sie durch serbisches Land strömt, aber nicht zum Bericht, den ich jetzt schreibe.

Das Denkmal zu Ehren der Ermordeten während des Massakers in Novi Sad vom Januar 1942. (Pokrajac; Externer Link: Wikimedia Commons) Lizenz: cc by-sa/3.0/de

Dann folgte der Winter, diesmal ein besonders strenger Winter. Die Donau trug viel Eis und fror an den Rändern sogar ganz zu. Dezember. Weihnachten. Silvester. Krapfen. In einen Krapfen hatte meine Tante ein Goldstück gebacken und fand es zufällig selber. Es gibt seltsame Zufälle. Mehrmals würde es bald Zufall sein, dass ich am Leben geblieben bin.

Am 21. Januar 1942 gingen die beiden Söhne meines jüdischen Onkels und meiner deutschen Tante, Ötschi und der jüngste, Sascha, und ich wie jeden Tag pünktlich um viertel vor acht in die Schule. Unser Weg führte durch eine Grünanlage. Krähen. Hoher Schnee. Sehr kalt. Ein Plakat: Razzia! Jedermann habe in seiner Wohnung zu bleiben. Also schulfrei. Hurra! Zurück nach Hause. Mensch ärgere dich nicht haben wir gespielt. Oder Halma. Schach oder Mühle. Zweimal kamen Polizisten vorbei. "Wer wohnt hier? Ausweise bitte!" Die Schulausweise genügten. Mehr ordnungshalber, als interessiert, öffneten sie einige Schränke und Schubladen und verabschiedeten sich höflich.

Ich kann mich nicht erinnern, wie sich mein Onkel damals verhalten hatte, wie viel er vom Massaker, vom Mord an Hunderten, Tausenden von Menschen in der unmittelbaren Nachbarschaft wusste. Hat er es überhaupt schon gewusst, als Polizisten an der Tür klopften? Wie hatte er es erfahren? Wir Kinder wussten nicht, dass man einige hundert Meter weiter von uns Juden, Serben und Zigeuner aus den Häusern gejagt, auf der Straße erschossen oder zum wunderbaren Strand getrieben hat.

Vor dem modernen Palast der Regierung am Boulevard, der direkt zur Donau führt, fand jeden Abend ein feierlicher Zapfenstreich statt. Ich mochte den Klang der hellen Trompeten und habe mit anderen Leuten und Kindern da herumgestanden, obwohl es doch eine Feier der verhassten Besatzungsmacht war. Vor und nach dem Massenmord. Fast jeden Abend.

Nach dem Krieg habe ich erfahren, dass der Kommandeur des Massakers einen wunderschönen, magyarischen Namen hatte: Generalmajor Ferenc Feketehalmy-Czeydner. Im Laufe des Krieges wurde er zum Generaloberst befördert. Am Ende trat er der SS bei. Er fiel in amerikanische Gefangenschaft, wurde aber an Ungarn und von Ungarn an Jugoslawien ausgeliefert. Seine Tat nannte er eine berechtigte Vergeltungsaktion. Während des Prozesses gegen ihn und einige seiner Kumpanen saß ich im Publikum. Als ehemaliger KZ-Häftling hätte ich seiner Hinrichtung beiwohnen können, aber das mochte ich dann doch nicht. Er wurde am 5. November 1946 im Dorf Žabalj, wo die Razzia begonnen hatte, gehenkt. Žabalj ist etwa dreißig Kilometer von der Donau entfernt.

Es sind ungefähr 1.300 Namen Ermordeter aus Novi Sad bekannt geworden, aber man hat nach dem Krieg von bis zu 4.500 gesprochen. Die Namen vieler, sehr vieler getöteter Menschen blieben unbekannt, entweder weil niemand aus ihrer Familie überlebt hatte oder weil es Juden aus anderen Teilen des Landes waren, die sich in der Großstadt versteckten, Menschen, die fast niemand kannte. Ich persönlich kann nur bezeugen, dass ich überlebt habe und dass die Razzia an meinem dreizehnten Geburtstag, am 24. Januar, beendet wurde. Das wäre mein Bar Mizwa gewesen, wenn jemand von uns daran gedacht hätte.

Warum nicht ich?

Nicht erinnern kann ich mich, wie ich Einzelheiten über den Massenmord erfahren habe. Ich glaube: nach und nach. Erst nach dem Krieg, als ich aus dem Konzentrationslager in Deutschland zurückgekommen war. Was war geschehen? In der Nähe von Novi Sad waren Freiheitskämpfer aufgetaucht. Die ungarischen Sicherheitskräfte suchten nicht sehr eifrig nach den etwaigen Verbündeten der Aufständischen, vielleicht hatten sie Angst vor ihnen. Anstatt dessen begannen sie Juden, Serben und Zigeuner zu morden. Willkürlich wurden einige Stadtteile ausgesondert, andere blieben verschont. Mein Onkel wohnte in so einer guten Gegend, in der man wenig Übles anrichtete. Ungarische Gendarmen mit Federn auf ihren schwarzen Hüten und Bajonetten auf den Gewehren trieben anderswo, unweit von uns, ihre Opfer aus ihren Wohnungen in die Kälte hinaus. "Nichts mitnehmen! Los! Los!"

Man führte die erschrockenen Menschen zum selben Donaustrand, an dem sie vor einigen Monaten noch fröhlich badeten und in der Sonne lagen. Sie mussten sich am Ufer der zugefrorenen Donau aufstellen, Männer mit Äxten Löcher in das Eis schlagen. Kaum jemand hatte die Kraft zu wimmern oder zu beten. Auf den kahlen Ästen der Pappeln Krähen, keine Möwen schwangen wie vor kurzem im Sommer ihre Flügel über dem Fluss. Es war keine schöne, blaue, es war das Eisbett einer hässlichen, dunklen, schmutziggrauen Donau.

Ich habe in Novi Sad eine Frau Doktor gekannt. Ärztin, wie meine Mutter. Sie hätte meine Mutter sein können, ich ihr Sohn. Diese Frau war nie eine besonders zärtliche Mutter gewesen, zumindest hatte sie es nie verstanden, ihre Liebe in Gesten auszudrücken, aber jetzt umarmte sie ihre beiden Kinder so fest, dass ihre Tochter Laura aufschrie, weil es ihr weh tat. Ihr Sohn Leo hörte ein Gespräch auf Ungarisch. Es klang nicht aufgeregt, keineswegs gereizt, fast geschäftlich, ein wenig eintönig, wirkte auf ihn irgendwie beruhigend, obwohl er den Sinn genau verstand: "Müssen wir tatsächlich auch die Kinder?" "Aber sicher! Was sollten wir denn sonst mit ihnen anfangen? Als Erwachsene würden sie zu Rächern werden…"

"Macht die Augen zu!" sagte Frau Doktor. Laura war folgsam, Leo nicht, er sah, wie vor ihnen Menschen mit Gewehrkolben und Äxten erschlagen und in die Löcher im Eis der Donau geworfen wurden. Man wollte Gewehrkugeln sparen – und so viele Leichen begraben hätte zu viel Aufwand gefordert. Ich glaube, Leo hatte keine Angst. Dann kamen sie an die Reihe.

Wenn meine Mutter mit nach Novi Sad gekommen wäre, hätten wir sicher nicht beim Onkel gewohnt, Leos Schicksal wäre das meine geworden, und hier würde jemand anderes über die Razzia von Novi Sad schreiben.

Das mit der Frau Doktor und ihren Kindern mag wie eine Erfindung wirken, ist aber hundert- und tausendmal so, oder so ähnlich, geschehen. Am Sandufer der Donau. Versichern kann ich, dass wir, meine Cousins und ich und viele, viele brave Bürger im Sommer 1942 wieder ruhig und unbekümmert am selben Strand gebadet haben, wo einige Monate vorher andere Menschen ihr Leben ließen.

Die flinken Wellen der Donau tragen recht schnell alles weg, was zwischen Schwarzwald und Schwarzem Meer ihre Beute wird. Unsere Abfälle. Und unsere Leichen auch.

Wirklich ewig sind nicht einmal so riesige Flüsse wie die Donau. Wo sich heute und seit Jahrtausenden der Strom durch Ungarn und Jugoslawien wälzt, gab es vor Zeiten, die für uns unermesslich sind, für die Geschichte dieser Erdkugel, die wir bewohnen dürfen, jedoch nur ein Augenblinzeln, anstatt der Krähen und Möwen neugierige Fische, auch Haie mit Säbelzähnen, die durch das Pannonische Meer geschwommen sind. Immer wieder muss ich, alt geworden, daran denken, was für ein Nichts von einem Staubkorn wir doch vor dem Antlitz der Geschichte sind und was für ein Nichts die Menschheit im Vergleich zum Bestand der Donau, und sie wieder ein Nichts verglichen mit der Lebenszeit unseres Planeten. Ein Nichts für den Weg der Donau vom Schwarzwald zum Schwarzen Meer sind die drei Tage vom 21. bis zum 24. Januar 1941 am Strand in Novi Sad. Das alles ist genauso unbeschreiblich wie das, was die Blätter der Pappeln tun oder Menschen, wenn sie andere Menschen morden.

Auschwitz statt Donaustrand

Im Laufe der Sommer 44 und 45 konnte ich leider nicht zum Strand gehen. Nicht weil mich der Gedanke an den Massenmord gestört hätte, sondern weil ich aus anderen Gründen verhindert war. 1944 war ich in Auschwitz und Buchenwald. 1945 wartete ich auf die Heimfahrt am Ufer eines anderen Stroms, der in Europa in die entgegengesetzte Richtung, nämlich nach Norden, fließt, die Mündung in ein ganz anderes Meer sucht, an der Elbe. Die Russen und Amerikaner begegneten einander an diesem Fluss, und ich musste mich gedulden, bis sie sich einigten, wer von ihnen für meinen Transport nach Hause zuständig war. Das dauerte bis zum Herbst.

Zurück aus dem Konzentrationslager habe ich in Novi Sad eine technische Oberschule besucht und im Sommer 1946 wieder in der Donau bei Novi Sad gebadet. Ich bin den Sandstrand hinaufspaziert und habe mich bequem flussabwärts treiben lassen. Warm die Sommerluft, kühl der Strom. Das Lichtgefunkel der Sonne auf dem Rücken der im Sommer trägen, grauen Donau war dasselbe, wie früher. Wie immer…

Sandburgen habe ich keine mehr gebaut, und nicht an das Massaker gedacht, nicht einmal an meine toten Eltern. Ich bereitete mich auf erfreulichere Geschichten vor. Im Sand lagen junge Mädchen in sehr knappen Badeanzügen. Dort lagen sie bestimmt auch im Verlauf der früheren Sommer, aber ich hatte sie nicht zur Kenntnis genommen. Da waren sie nun, reglos, aber sehr lebendig.

Am Ufer der Donau in Novi Sad wurde ein Denkmal des Bildhauers Jovan Soldatović errichtet. Es sind drei magere Gestalten in Bronze – Mann, Frau und Kind – die sich an den Händen halten. Tafeln auf Serbisch und Hebräisch. Jedes Jahr finden an dieser Stelle im Januar Gedenkfeiern statt, aber man kann sich nicht auf ein gemeinsames Zeremoniell einigen. Die Serbische Orthodoxe Kirche besteht auf ihrer Totenmesse, die Nachfahren der Kommunisten wollen ihre eigene Reden halten und nicht den Popen zuhören. Die Juden, die die meisten Opfer zu beklagen haben, nehmen an beiden Trauerfeiern teil. Am Ende werden Kränze und Blumen in das Wasser geworfen. Die Donau hält auch das stoisch aus.

Über die Donaubrücken in Novi Sad bin ich im Laufe des letzten halben Jahrhunderts im Auto oder im Eisenbahnzug mehrere dutzendmal gefahren und habe dabei nicht immer an die Razzia im Januar 1942 gedacht. Nicht immer, aber oft.

Einmal war ich mit meinem Sohn in Novi Sad und habe ihm alles noch einmal erzählt und gezeigt, wo was war, und er hat "Aha!" gesagt. Hätte er mehr sagen sollen?

Goethe hat recht und Tucholsky auch, wenn er ihn zitiert: "Was man nicht sagen kann, bleibt unerhört!"

Chronologie

1911: Eröffnung der Badeanstalt an der Donau in Novi Sad.

1918: Nach dem Ersten Weltkrieg wird das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen gegründet.

1929: Umbenennung in Königreich Jugoslawien.

1941: Am 6. April marschiert Deutschland in Jugoslawien ein. Beginn der Judenverfolgung. Die südliche Batschka mit der Hauptstadt Novi Sad wird von Ungarn besetzt.

1942: Von 21. bis 23. Januar wurden 1.246 Zivilisten erschossen, unter ihnen 809 Juden. Die Toten wurden in die Donau geworfen. Kommandeur der Aktion war Ferenc Feketehalmy-Czeydner.

1944: Vertreibung der Deutschen aus Novi Sad und der Batschka, die in Titos Jugoslawien Vojvodina heißt.

1946: Ferenc Feketehalmy-Czeydner wird wegen des Massakers von Novi Sad hingerichtet.

1999: Die Nato bombardiert Novi Sad und zerstört die Donaubrücke. Die Ruinen bildeten jahrelang ein Hindernis für die Donauschifffahrt.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Ivan Ivanji wurde 1929 in Veliki Bečkerek in der Vojvodina in Jugoslawien als Sohn einer jüdischen Ärztefamilie geboren. Er ist Schriftsteller, Übersetzer und Journalist. In Deutschland bekannt wurde er mit zahlreichen Romanen, zuletzt Schattenspringen (2009), Geister aus einer kleinen Stadt (2010) und Buchstaben von Feuer (2011), Picus Verlag, Wien, und mit dem Buch Titos Dolmetscher, Promedia, Wien 2007, über seine Erfahrungen als Übersetzer von Josip Bros Tito. Seine Werke sind in mehrere Sprachen übersetzt. Ivanji lebt in Belgrad und Wien.