Eine langsame Annäherung: Interpretationen des Ersten Weltkriegs in deutschen und französischen Schulbüchern
Der Erste Weltkrieg brachte Deutschen und Franzosen einen nie zuvor erreichten Höhepunkt der Feindschaft. Rainer Bendick analysiert in seinem Beitrag die Darstellung des Krieges in französischen und deutschen Schulbüchern. Und stellt fest, erst nach 1945 näherten sich die Sichtweisen von Deutschen und Franzosen einander an.
Wie war es möglich, dass der Erste Weltkrieg so ungeheuerlich großen Hass und tiefe Feindseligkeit bei Deutschen und Franzosen auslöste und zwar nicht nur während der Kampfhandlungen, sondern auch noch Jahrzehnte nach seinem Ende? Warum löste das Desaster nicht sofort bei allen Völkern ein entschlossenes "Nie wieder" aus? Die Grauen und Schrecken oder die bis dahin nie gekannten Opfer, die der Krieg auf beiden Seiten forderte, können die von ihm verursachte lange Zeit andauernde Feindschaft nicht allein erklären. Deutsche und Franzosen erlebten die jeweilige Gegenwart in den Nachkriegsjahren ganz unterschiedlich und deuteten den Krieg vor deren Hintergrund.
Der Krieg als zivilisatorische Tat

Die deutsche Kriegserklärung und der Einmarsch des kaiserlichen Heeres in Belgien und Nordfrankreich schienen das Bild des Deutschen Reichs als gefährlicher Militärstaat zu bestätigen. So wurde der Krieg gegen Deutschland in ein historisches Verlaufsmodell eingeordnet, das die Prinzipien der Französischen Revolution zum Maßstab der historischen Entwicklung machte und damit den Krieg in eine geradezu eschatologische Perspektive rückte: mit dem Sieg über Deutschland werde eine neue Weltordnung erkämpft, in der alle Kriegsursachen beseitigt, die unterdrückten Völker befreit und die Demokratie siegen würden. Der Krieg wurde zur "guerre civilisatrice" stilisiert, zur zivilisatorischen Tat, weil er mit der Niederwerfung Deutschlands alle Kriegsursachen beseitigen und damit ein neues Zeitalter des Friedens eröffnen werde.
Der Krieg als Kampf gegen eine Welt von Feinden und als nationale Wiedergeburt
In Deutschland wurde der Krieg als ein von langer Hand vorbereiteter Angriff feindlicher Nachbarn gedeutet, die aus "Hass", "Rache" oder "Neid" das Deutsche Reich zerstören wollten. In dieser Perspektive erschien die deutsche Kriegführung als ein Verteidigungskampf, der das Überleben des deutschen Volks und Deutschlands wirtschaftliche Prosperität sicherstellte. Seine Schrecken wurden sehr wohl beim Namen genannt, man klagte aber nicht die Kampfhandlungen als solche an, sondern die Feinde, deren Angriffe Tod und Verwüstung auslösten. In dieser Logik verteidigte das kaiserliche Heer das Deutsche Reich in Frankreich vor Verdun und an der Somme gegen erbarmungslose Feinde.Deutsche Pädagogen, die sich selbst stolz "Kriegspädagogen" nannten, sahen im Krieg noch mehr. Sie beschrieben ihn als eine ontologische, regenerative Autorität, die wie ein "Läuterungsfeuer" die deutsche Gesellschaft aus einer tief empfundenen gesellschaftlich-kulturellen Krise der Friedenszeit erlöse, "die faule Genusssucht und herzlose Selbstsucht" überwinde und "das eigentliche Deutschland" erst erschaffe.
Der Frieden als Fortsetzung des Kriegs
Nach 1918 bestimmten in Deutschland die als unerträglich empfundenen Bestimmungen des Friedensvertrags von Versailles die Deutungen der Kriegsursachen und des Kriegsgeschehens. Die Gegenwartsanalyse war die Matrix einer Vergangenheitsdeutung, die die Kriegsursachen in der angeblichen Einkreisungspolitik der Entente-Mächte sah. So hätten England, Frankreich und Russland 1914 aus "Neid und Rachsucht" den Krieg gegen Deutschland ausgelöst. Kritik am Kaiser und seinen Ministern wurde nur in dem Sinne geübt, dass sie allzu pazifistisch eingestellt gewesen seien und den Krieg schlecht vorbereitet hätten.Der Stellungskrieg in Frankreich war dieser Logik folgend ein deutscher Abwehrkampf gegen die Angriffe der Gegner. Die Betonung der Schrecken und des Grauens der Schlachten gab dem Krieg einen Sinn: Die deutschen Soldaten verhinderten, dass Deutschland zum Kriegsschauplatz wurde. In der Gegenwart, unter den Bedingungen der Friedensordnung von Versailles, schien die Lage des Deutschen Reiches unerträglich geworden zu sein. In dieser Perspektive war nicht der Krieg das Unglück, sondern der Friedensvertrag. Die Wahrnehmung der Gegenwart idealisierte und rechtfertigte rückblickend die Kriegsanstrengungen des Deutschen Reiches. In diesem Deutungshorizont schien es so, als realisierten die Bestimmungen des Vertrages das "Vernichtungswerk" der Feinde, vor dem die deutschen Soldaten das Deutsche Reich vier Jahre lang geschützt hätten.
Die Darstellung der Gegenwart als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln erfuhr im Laufe der 1920er Jahre kaum Modifikationen. Didaktische Bilder und Karten spitzten die Abrüstung des Deutschen Reichs und die Gebietsabtretungen demagogisch zu. Unter dem Eindruck des Versailler Vertrages wurde das Verhältnis der Nachbarstaaten zu Deutschland nur noch als ein Verhältnis grundsätzlicher Feindschaft beschrieben.
Der Krieg als Zerstörung der Zivilisation
In den 1920er Jahren stand in Frankreich die deutsche Verantwortung für den Ausbruch des Weltkriegs und für die ungeheuren Zerstörungen ohne Zweifel fest. Sie gab Anlass zu wahren Verteufelungen des Deutschen Reichs und der Deutschen. Deutschland galt solange als moralisch diskreditiert, wie es die Bedingungen der neuen Friedensordnung nicht anerkannte. Die deutsche Mentalität erschien als eigentliche Ursache des Kriegs, der ganz in der Tradition der Kriegspropaganda als ein Kampf zwischen zwei Zivilisationen gedeutet wurde.Mit dem militärischen Sieg – so die Erwartung – könnten nun die Konfliktpotenziale, die den Krieg ausgelöst hatten, abgebaut und die Schuldigen bestraft werden. Daher wurden die Bestimmungen des Versailler Vertrags zunächst als eine den Deutschen auferlegte "Sühne" gefeiert für die Gründung des Deutschen Kaiserreichs in Versailles 1871 und für den Frankfurter Frieden – so als handele es sich um die Befreiung von einem deutschen Joch, das über Europa gelegen habe. In dem Maße aber, wie die Friedensordnung von Versailles sich als instabil erwies, machte sich eine tiefe Ernüchterung breit.
Frankreichs Kriegsanstrengungen und seine großen Verluste erschienen in Anbetracht des ausbleibenden dauerhaften Friedens zunehmend als sinnlose Opfer. Im Zuge dieser allmählichen Desillusionierung veränderten sich auch die Darstellungen des Kriegs. Wurde in den 1920er Jahren der Kampfeinsatz der französischen Soldaten noch als zivilisatorische Tat beschrieben, die eine deutsche Tyrannei verhindert habe, so waren solche Überhöhungen ein Jahrzehnt später weitgehend verschwunden. Der Krieg erschien nun als Werk der Zerstörung. Zwar wurden die deutsche Invasion von 1914 oder die deutschen Offensiven vom Frühjahr 1918 ausführlich beschrieben. Der Hauptfeind der französischen Soldaten war aber der Krieg an sich. Wenn ihr Leben und Leiden geschildert wurden, tauchten die Deutschen nicht mehr auf. Der Krieg erschien als grausame Vernichtung menschlichen Lebens und menschlicher Umgangsformen. Die Deutung des Krieges als Kampf für Freiheit, Recht und Zivilisation gegen die deutsche Barbarei trat immer mehr zurück hinter der Betonung seiner zivilisationszerstörenden Wirkung. Der Mut, die Opfer und die Tapferkeit der französischen Soldaten wurden hier nicht verneint, aber mit diesen Tugenden gingen für die Zeitgenossen unendliche Zerstörungen einher, gegenüber denen die Zivilisation verblasste, für die doch eigentlich gekämpft wurde. Der Krieg erschien nicht mehr als Wegbereiter des Friedens, sondern als sein Gegenbild, der nur Tod und Zerstörung in die Welt bringt.
Eine Alternative zum friedlichen Ausgleich von Interessengegensätzen konnte es nicht mehr geben – auch in Anbetracht der Bedrohung durch das nationalsozialistische Deutschland. Der Krieg hatte sich als Desaster erwiesen. Alle Hoffnungen, die er einst geweckt hatte, stellten sich in Anbetracht der Nachkriegszeit als Illusionen heraus.
Der Krieg als Geburt eines "neuen Menschen"
Nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten veränderten sich in Deutschland die Darstellungen des Weltkriegs dramatisch . Die Kampfhandlungen wurden nun als Selektionsprozess beschrieben, der einen "neuen Menschen" geschaffen habe. Der Krieg erhielt einen Sinn, der sich nicht mehr auf die Abwehr der Angriffe der äußeren Feinde beschränkte. Unter Hinweis auf das Kriegserlebnis wurde die innere Ordnung des Deutschen Reiches der Vorkriegszeit als anachronistisch abgelehnt: Diese Deutung der Kampfhandlungen korrespondierte mit den Darstellungen, die das Wilhelminische Deutschland der Vorkriegszeit als eine Epoche des "inneren Verfalls" beschrieben. Im Rahmen dieser Geschichtssicht bewirkte der Krieg nun die Wende zum Besseren. Er habe Einstellungen und Haltungen geschaffen, Hoffnungen und Erwartungen geweckt, die den Nationalsozialismus präfigurierten.Solche Zukunftsentwürfe radikalisierten die Erwartungen, die während des Ersten Weltkrieges in Deutschland mit dem Krieg verbunden worden waren. Wie die deutschen Kriegspädagogen verstanden die Nationalsozialisten den Krieg nicht als schreckliche Ausnahme in den zwischenstaatlichen Beziehungen, sondern als heilsamen Prozess, der alles auslösche, was als Dekadenz gedeutet wurde.
Neue Perspektiven nach 1945
Erst nach 1945 näherten sich die Sichtweisen von Deutschen und Franzosen über den Ersten Weltkrieg einander an. Seit 1950 gab es regelmäßige Gespräche zwischen Geschichtslehrern beider Länder. Mit Blick auf die Kriegsursachen 1914 wurde man sich schon 1950 einig, dass kein Volk und keine Regierung 1914 bewusst einen europäischen Krieg ausgelöst habe.Im Vergleich mit der Zwischenkriegszeit vollzogen die französischen Geschichtsbücher einen Paradigmenwechsel. An keiner Stelle behaupteten sie mehr eine spezifisch deutsche Verantwortung für den Kriegsausbruch 1914, sondern betonten die Mechanik der Bündnissysteme und die bei allen Mächten vorhandene Bereitschaft, sich auf einen militärischen Konflikt einzulassen. Die westdeutschen Geschichtsbücher taten sich sehr viel schwerer, ihre traditionelle Sichtweise von der Verantwortung der Entente-Mächte für den Kriegsausbruch zu revidieren. Die Thesen des Hamburger Historikers Fritz Fischer, der die Verantwortung der deutschen Reichsleitung akzentuierte, fanden erst Mitte der 1970er Jahre Eingang in die westdeutschen Schulbücher. Jetzt griffen die fischerkritischen Autoren auf die deutsch-französischen Empfehlungen von 1950 zurück. Baute die deutsch-französische Aussage, keine Regierung habe 1914 einen europäischen Krieg angestrebt, in den frühen 1950er Jahren Feindbilder ab, hatte sie 25 Jahre später eine andere Bedeutung, nämlich die eines international verbürgten Arguments gegen eine allzu kritische Sicht auf die eigene Nationalgeschichte.
Allerdings setzte sich dieser apologetische Missbrauch der deutsch-französischen Empfehlungen nicht durch. Die überwiegende Verantwortung der deutschen Reichsleitung für den Ausbruch des Kriegs 1914 ist in den deutschen Schulbüchern inzwischen Konsens. So unterscheidet heute eine feine aber für den Umgang mit der nationalen Vergangenheit doch signifikante Nuance die Darstellungen deutscher und französischer Schulgeschichtsbücher. Während in Frankreich keiner Macht eine besondere Verantwortung für den Krieg zugeschrieben wird, betonten deutsche Lehrwerke, die deutsche Reichsleitung habe die Julikrise 1914 verschärft. Französische Lehrwerke sind mithin gegenüber dem Deutschen Reich nachsichtiger als die Geschichtsbücher des vereinigten Deutschlands.