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Terrorismus und innere Sicherheit | Frankreich | bpb.de

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Terrorismus und innere Sicherheit

Sofia Koller Marie-Christine Roux

/ 9 Minuten zu lesen

Islamistischer Terrorismus

Der islamistische Terrorismus, hier als dschihadistisch-salafistischer Terrorismus verstanden, ist in Frankreich kein neues Phänomen. Seit den 1990er Jahren und der Anschlagsreihe des Groupe Islamique Armé (GIA) vor dem Hintergrund des Interner Link: algerischen Bürgerkriegs sowie im Kontext des Bosnienkrieges mit den Aktionen des Gang de Roubaix und später mit den Anschlägen Mohammed Merahs im Jahr 2012 muss sich Frankreich mit einem inländischen islamistischen Terrorismus auseinandersetzen. Die Gefahr, die der islamistische Terrorismus für Frankreich darstellt, hat sich jedoch in den letzten Jahren stark verändert. Seit dem Ende der territorialen Herrschaft des Islamischen Staates (IS) in Syrien und im Irak befindet sich das dschihadistisch-salafistische Milieu in einer Phase der Um- und Restrukturierung.

Trauerfeier für den französischen Geschichts- und Erdkundelehrer Samuel Paty in Paris, 16.10.2021. (© picture-alliance/AP)

Diese Umstrukturierung ist vor allem auf die Zerschlagung der zentralen Rekrutierungsnetzwerke infolge der Inhaftierung beziehungsweise des Todes der Führungsfiguren zurückzuführen. Der Wandel lässt sich auch anhand der Veränderungen in der Natur der Gefahr beobachten. Wenn zuvor von komplexen, zum Teil vom Ausland aus koordinierten Anschlagsplänen die Rede war, wie im Falle der am Interner Link: 13. November 2015 durch ein Himmelfahrtskommando des IS verübten Anschlagsreihe in Paris, besteht die Gefahr im Jahr 2022 vor allem in der Vermehrung inspirierter Angriffe, dschihadistischer ‚Alleingänge‘. Diese können zwar mit wenig Aufwand (hauptsächlich in der Form von Messer- oder Fahrzeugangriffen) und ohne starke organisationale Bindung, jedoch mit großer Wirkung auf die Gesellschaft durchgeführt werden. Die Ermordung des Lehrers Samuel Paty am 17. Oktober 2020 ist ein Beispiel dieser Entwicklung.

Diese aktuelle Tendenz sollte aber nicht zu der voreiligen Schlussfolgerung einer nachlassenden Gefahr führen, auch vor dem Hintergrund der Entwicklungen in der Sahel-Region, vor allem des Endes des französischen Anti-Terror-Einsatzes in Mali und der daraus erfolgenden Signalwirkung für dschihadistische Gruppen in der Region (siehe auch Interner Link: ‚IS-Rückkehrende, Dschihadismus im Sahel und ein Jahrhundertprozess‘ im letzten Abschnitt dieses Textes). Ein Blick in die Vergangenheit unterstreicht die Beständigkeit der dschihadistisch-salafistischen Szene in Frankreich. Im Falle Syriens haben sich die relevanten Netzwerke schon im Kontext der Irak-Invasion formiert. Wie diese Netzwerke ebenfalls zeigen, kann ein Gefängnisaufenthalt eine ausschlaggebende Rolle für zukünftige Entwicklungen spielen. Wie diese Entwicklungen in Frankreich verlaufen werden, insbesondere vor dem Hintergrund der anstehenden Freilassung von 200 verurteilten Dschihadisten bis Ende des Jahres 2022, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch offen.

Rechtsextremer Terrorismus

Das französische rechtsextreme Milieu, im Französischem ultrarechtes Milieu (ultra-droite) genannt, kann in drei ideologische Schichten eingeteilt werden: neofaschistische (nationalrevolutionäre), nationalistisch-traditionalistische (Erbe des Algerienkrieges) sowie identitäre Gruppen (neue Rechte; Anti-Islam-Bewegungen). Neben etablierten neofaschistischen Netzwerken, wie dem White-Wulf-Klan (ehem. Troisième Voie, Jeunesses nationalistes révolutionnaires), dem Bastion Social oder den Zouaves (beides ehem. Groupe Union Défense), die sich vor allem auf subversive Aktionen konzentrieren, wie das Infiltrieren von Protestaktionen (z. B. Gilets jaunes, Corona-Proteste) oder gezielte Angriffe auf die Antifa, entstanden in verstärktem Maße antimuslimische Bewegungen.

So konnten seit den islamistischen Attentaten von Januar und November 2015 vermehrt antimuslimische Anschlagspläne vereitelt werden. Zwischen 2017 und 2018 etwa wurden zwei solcher Pläne aufgedeckt. Tatsächlich fokussieren sich viele der Vorhaben und der Organisationen, die dahinterstecken, auf die „Gefahr der Islamisierung“ Frankreichs und berufen sich auf die Theorie des „grand remplacement“ (des großen Austauschs) des französischen rechtsextremen Denkers Renaud Camus. Auch vor dem Hintergrund einer sich zunehmend militarisierenden Bewegung, mit der systematischen Vorbereitung auf den bewaffneten Kampf (zum Beispiel in der Ostukraine), der wachsenden Nähe zur Survivalist- und Verschwörungsszene und einer größeren Beteiligung ehemaliger und aktiver Sicherheitskräfte geht der französische Inlandsgeheimdienst (DGSI – Direction générale de la sécurité intérieure) von einer steigenden Bedrohung durch den ultrarechten Terrorismus aus.

Linksextremer Terrorismus

Auch das Gewaltpotenzial der linksextremen Szene (auch hier ultralinke Szene im Französischen) wurde in den letzten Jahren von den französischen Geheimdiensten erneut evaluiert, insbesondere nachdem zum ersten Mal seit den 1980er Jahren ein Verfahren wegen Linksterrorismus gegen neun Individuen, die ein Attentat auf Mitglieder der Sicherheitskräfte geplant hatten, eingeleitet wurde. Auch die Teilnahme einiger weniger Mitglieder der linksextremen Bewegung am Syrienkonflikt auf Seiten der Interner Link: PKK/YPG lässt auf eine Radikalisierung in Teilen der Bewegung schließen. In ihrer Mehrheit konzentrieren sich die Aktionen der ultralinken Szene weiterhin auf den Aufbau lokaler autonomer Gemeinschaften (zones à défendre), die Beteiligung an sozialen Bewegungen (Black Blocs) sowie zahlreiche Sabotage-Aktionen gegen staatliche Infrastrukturen (Polizei/Militär).

Ethnonationalistischer Terrorismus

Der separatistische Terrorismus, ob baskischer oder korsischer, hat die französische Gesellschaft besonders in den fünf letzten Jahrzehnten mit seinen subversiven Aktionen und Bombenanschlägen geprägt. Während der Friedensprozess zwischen der spanischen Regierung und der wichtigsten baskischen Terrororganisation – der Euskadi ta Askatasuna (ETA), „Freiheit für die baskische Heimat“ – zu deren Auflösung und einem Ende der Anschläge (auch französischer Gruppierungen) geführt hat, ist der Hauptakteur des korsischen Separatismus, der Front de libération nationale corse (FLNC), weiterhin aktiv. 2021 kündigte der FLNC die Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes an und versuchte im September einen Anschlag auf die korsische Villa eines Bekannten des französischen Präsidenten zu verüben.

Terrorismus bekämpfen, Extremismus verhindern

Frankreich ist vor allem einer anhaltenden Bedrohung durch islamistischen Extremismus ausgesetzt. Terrorismusbekämpfung und andere Themen der inneren Sicherheit sind deshalb von großer gesellschaftlicher und politischer Bedeutung, wie auch in Wahlkämpfen immer wieder deutlich wird.

Gendarmerie, Polizei und die Nachrichtendienste

Anders als in Deutschland gibt es in Frankreich zwei unabhängige Sicherheitsbehörden für den Schutz des französischen Staatsgebiets. Die Gendarmerie nationale ist für ländliche Regionen zuständig und untersteht als Teil der französischen Streitkräfte dem Verteidigungsminister. Teil der Gendarmerie ist auch die Eingreiftruppe Groupe d'intervention de la gendarmerie nationale (GIGN), die zum Beispiel bei Geiselnahmen eingesetzt werden kann. Für die Sicherheit in den Städten ist hingegen die Police nationale zuständig. Sie untersteht dem Innenministerium und wird von der Generaldirektion der Nationalpolizei (DGPN) geleitet.

Teil der Polizei ist auch die Kriminalpolizei, Direction centrale de la police judiciaire (DCPJ), die organisierte oder grenzüberschreitendende Kriminalität, darunter auch Terrorismus, verhindert und bekämpft. Neben den Spezialeinheiten Recherche, Assistance, Intervention, Dissuasion (RAID) und Brigade de recherche et d’intervention (BRI) ist ein weiterer wichtiger Akteur die Koordinationsstelle für Terrorismusbekämpfung UCLAT. Sie versammelt Vertreter/-innen aus allen Abteilungen der Polizei und verfasst zum Beispiel tägliche Einschätzungen. Als Teil der Polizei bei der UCLAT vertreten ist außerdem der Inlandsnachrichtendienst DGSI, dessen Ziel es ist, „alle Aktivitäten zu bekämpfen, die den grundlegenden Interessen der Nation und der nationalen Sicherheit schaden könnten“. Der Auslandsnachrichtendienst DGSE soll hingegen aus dem Ausland geplante Anschläge verhindern und untersteht deshalb dem Verteidigungsministerium. DGSE und DGSI bilden mit vier weiteren Diensten den so genannten „ersten Kreis“ der nachrichtendienstlichen Arbeit in Frankreich. Auf internationaler Ebene engagiert sich Frankreich unter anderem für die Bekämpfung von Terrorismusfinanzierung und die Löschung von terroristischen Inhalten im Netz, zum Beispiel über Interpol.

Erweiterte Befugnisse und gesellschaftliche Spaltung

Während sich Frankreich in den letzten Jahren bemüht hat, Terrorismusbekämpfungsmaßnahmen effektiver zu koordinieren, dominiert in Justiz und Politik weiterhin ein zentralisierter Ansatz. Eine Besonderheit bei terroristischen Straftaten ist, dass sowohl bei der Ermittlungsarbeit als auch bei der Strafverfolgung besondere Maßnahmen angewandt werden, nicht das ‚normale‘ Strafrecht. So wurde im Sommer 2019 als Reaktion auf die wachsende Anzahl von strafrechtlich relevanten Fällen im Bereich Terrorismus eine eigene Nationale Antiterrorismus-Staatsanwaltschaft (PNAT) mit 26 spezialisierten Untersuchungsrichtern (magistrats) geschaffen.

Die ursprüngliche französische Gesetzgebung zur Terrorismusbekämpfung stammt aus dem Jahre 1968 und wird seitdem vor allem nach Anschlägen weiter ausgebaut. Der Ausnahmezustand nach den Anschlägen vom 13. November 2015 verlieh den Sicherheitsbehörden erweiterte Befugnisse, um zum Beispiel Hausdurchsuchungen und Hausarrest ohne vorherige richterliche Zustimmung durchzuführen (Gesetz vom 20.11.2015, Nr. 2015-1501). Ein neues Anti-Terrorismus-Gesetz überführte in 2017 einen Großteil dieser außergewöhnlichen Maßnahmen in ständiges Recht (Gesetz vom 30.10.2017, Nr. 2017-1510). Weitere Gesetze erweiterten auch die Befugnisse von Richtern/-innen und Staatsanwälten/-innen oder erleichtern die Internetüberwachung. Diese Fülle an Gesetzgebungen führt zu lautstarker Kritik in der Zivilgesellschaft: Es wird vor einer Einschränkung von Rechten und Freiheiten gewarnt. In den letzten Jahren hat sich der Sicherheitsdiskurs zudem auf den Umgang mit extremistischen, aber nicht gewaltorientierten Akteuren erweitert. Nach jedem Anschlag nehmen, angefacht durch den politischen und medialen Diskurs, die Spannungen in der Bevölkerung und die Spaltung zwischen gesellschaftlichen Gruppen zu. Die Sorge wächst, dass auch das Vertrauen in die Demokratie und ihre Institutionen weiter nachlässt.

Radikalisierungsprävention in Frankreich

Während Frankreich weiterhin auf einen sicherheitsfokussierten Ansatz, das heißt vor allem auf polizeiliche und nachrichtendienstliche Mittel, setzt, gewinnt vor allem seit dem Anschlag von Mohammed Merah im Jahr 2012 die Frage der Prävention von Interner Link: Radikalisierung an Bedeutung. Koordiniert werden die zahlreicher werdenden Maßnahmen vor allem durch das Interministerielle Komitee zur Prävention von Radikalisierung und Kriminalität (CIPDR), auf lokaler Ebene sind seit 2014 die Präfekturen in den Départements zuständig. Neben Koordinierungseinheiten für die (Risiko-)Einschätzung, Überwachung und Strafverfolgung (GED und CLIR) stehen vor allem die Betreuungsstellen für die Radikalisierungsprävention und Familienbegleitug (CPRAF) im Zentrum der Präventionsarbeit in den Präfekturen. Multidisziplinäre Betreuung soll radikalisierte beziehungsweise sich radikalisierende Personen bei der Distanzierung und Reintegration sowie ihre Familien unterstützen.

Für die Rehabilitierung von für terroristische Straftaten Inhaftierten (sogenannten TIS) sowie von radikalisierten, aber nach normalem Strafrecht verurteilten Personen (als DCSR bezeichnet) sind die Justizvollzugsanstalten zuständig. Seit etwa 2016 hat sich dabei ein System entwickelt, bei dem in separaten Einheiten (QER) zuerst das Profil und die potenzielle Sicherheitsbedrohung relevanter Inhaftierter eingeschätzt wird und diese anschließend entweder im regulären Strafvollzug oder in separaten Einrichtungen (QPR) untergebracht werden. In beiden Fällen werden individualisierte und multidisziplinäre Distanzierungsprogramme von unterschiedlicher Länge angeboten. Die gefährlichsten Fälle kommen in Isolationseinheiten (QI). Als Teil der Bewährungsauflagen und um Rückfälligkeit zu verhindern, können TIS und DCRS sowie Angeklagte verpflichtend oder auf freiwilliger Basis an individualisierten Begleitungsprogrammen für den sozialen Wiederanschluss (Externer Link: PAIRS) teilnehmen.

IS-Rückkehrende, Dschihadismus im Sahel und ein Jahrhundertprozess

Bei der Verhinderung und Bekämpfung von islamistischem Extremismus und Terrorismus verschwimmen auch in Frankreich die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit. Zum einen waren beispielsweise fast 2.000 Franzosen, davon etwa 20 Prozent Frauen, seit 2012 nach Syrien und in den Irak gereist, um sich dem IS und anderen dschihadistischen Organisationen anzuschließen. Nach dem Fall des „Kalifats“ befinden sich weiterhin mehrere hundert französische Männer und Frauen sowie (kleine) Kinder in Lagern oder Gefängnissen in Nordsyrien und dem Irak und warten größtenteils vergeblich auf ihre Rückführung durch die französische Regierung. Internationale Organisationen und Experten/-innen warnen vor humanitären Verstößen und langfristigen Sicherheitsrisiken. Eine weitere Herausforderung ist die Strafverfolgung, Rehabilitierung und Reintegration der mehreren hundert Personen, die bereits nach Frankreich zurückgekehrt sind.

Zweitens wurde im September 2021 mit dem Beginn des Prozesses um die Anschläge vom 13. November 2015 das größte Kriminalverfahren der Geschichte Frankreichs eröffnet. Dieser Prozess ist von besonderer Bedeutung, da er nicht nur eine große logistische Herausforderung bedeutet, sondern auch die französische Gesellschaft und insbesondere die direkt Betroffenen mit dem Trauma des tödlichsten Attentats auf französischem Boden erneut konfrontiert. Den Schilderungen der Opfer wird im Prozess viel Raum gegeben, und die Anhörung der vierzehn Angeklagten – unter ihnen der einzige überlebende Attentäter – soll auch zu einem kollektiven Heilungsprozess, gefördert durch ein besseres Verstehen des Phänomens, beitragen. Wiederum bietet das mögliche Vakuum, das der angekündigte weitgehende Rückzug Frankreichs (im Rahmen des Endes der Opération Barkhane) aus dem Nord-Sahel hinterlassen wird, eine Chance zur Remobilisierung für lokale dschihadistische Akteure.

Wie im Falle Syriens könnte die Eroberung und Kontrolle über Teile der Region zur Attraktivität lokaler Gruppen auch für Dschihadisten außerhalb des Kontinents beitragen. Vor allem Gruppen wie der IS im Großen Sahel oder die direkte Konkurrenz, die Al-Qaida-nahe Gruppe für die Unterstützung des Islams und der Muslime (DMG), könnten von dieser Situation profitieren. Die Instabilität in der Region könnte dann in Form eines neuen ‚safe haven‘ für dschihadistische Gruppen auch Frankreichs innere Sicherheit vor die Herausforderung einer neuen Mobilisierungswelle stellen. Die aktuellen Spannungen zwischen den ehemaligen Partnerregierungen Mali und Frankreich im Kampf gegen den Terrorismus in der Region und ihre Konsequenzen für die Zukunft des EU-Einsatz-Mandates lassen auch ähnliche Entwicklungen in weiteren Teilen des Sahels befürchten.

Weitere Inhalte

Sofia Koller ist seit Juni 2018 Projektleiterin des International Forum for Expert Exchange on Countering Islamist Extremism und wissenschaftliche Mitarbeiterin für Terrorismusbekämpfung und Prävention von gewalttätigem Extremismus.

Marie-Christine Roux ist Doktorandin und unabhängige Beraterin. Ihre Forschungsinteressen konzentrieren sich auf dschihadistisch-salafistische Radikalisierungsphänomene in Europa und Nordafrika. Derzeit beschäftigt sie sich mit den unterschiedlichen Formen des Phänomens in Frankreich und Deutschland.