Wie keine andere Revolte jenes Jahres brachte der französische "Mai 68" eine Vielzahl einprägsamer Bilder, Symbole und Slogans hervor: Soyez réalistes demandez l'impossible - "Seid Realisten verlangt das Unmögliche", Il est inderdit d'interdire - "Es ist verboten zu verbieten", Dire NON c'est penser - "NEIN sagen ist denken"! Die Sprache, die der Pariser "Mai" über die Grenzen hinweg in Umlauf setzte, hob sich geradezu heiter von Parolen wie "Alle Macht den Räten" oder "Was wir wollen – Arbeiterkontrollen" ab, auf die beispielsweise Gruppen der westdeutschen außerparlamentarischen Opposition (APO) zurückgriffen.
Das Jahr, das Frankreich veränderte: Der französische Mai '68 In Erinnerung an Lothar Baier (1942-2005)
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1968 war laut dem amerikanischen Journalisten Mark Kurlansky "das Jahr, das die Welt veränderte". Doch obgleich in den Jahren 1967-1968 fast weltweit Jugend- und Studentenrevolten ausbrachen, ist allein die Pariser Revolte unter dem Namen "Mai 68" zur Ikone jener Protestbewegungen geworden. Worauf ist das zurückzuführen? Wo liegen die Unterschiede zum damaligen Westdeutschland? Und was bleibt vom "Mai 68" im heutigen Frankreich?
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Der französische Mai '68
Der "Pariser Mai": Bis heute wird in Frankreich über Jahr 1968 gestritten.
In Paris herrschten 1968 fast bürgerkriegsähnliche Zustände. Entsprechend heftig wird in Frankreich noch heute über '68 gestritten. Foto: AP
Innenhof der Sorbonne am zweiten Tag der Besetzung durch Studenten, 14. Mai 1968
In Paris bauen die Studenten Barrikaden auf und liefern sich Straßenschlachten mit der Polizei. Anders als in Deutschland solidarisieren sich auch
die Arbeiter mit dem Protest der Studenten und rufen zu einem Generalstreik auf. Foto: AP
Mai 1968: Demonstrant wirft Steine auf die Polizei
Paris, 6. Mai 1968: eine Studentendemonstration endete in einer Straßenschlacht mit der Polizei
Polizei schlägt mit Schlagstöcken auf Demonstranten ein.
Mitglieder der französischen nationalen Studentenunion UNEF riegeln den Boulevard Saint-Michel ab.
Straßenschlacht zwischen Studenten und Polizei. Hintergrund ist ein Einreiseverbot für Daniel Cohn-Bendit nach seiner Reise in die Niederlande.
Daniel Cohn-Bendit während einer Pressekonferenz an der Sorbonne am 1. Juni 1968.
Massendemonstration von Studenten und Arbeitern während des Generalstreikes am 13. Mai 1968
1. Juni 1968: Demonstration der französichen Studentenorganisation UNEF gegen die gaullistische Regierung
Im französischen "Mai" wurde, wenn auch nur kurzzeitig, etwas Wirklichkeit, was in anderen Ländern nicht über das Stadium leerer Worte und Parolen hinaus ging: das Zusammentreffen von studentischem Protest mit dem landesweiten Aufbegehren französischer Arbeiter. Eine Verbindung, die überall im Land zu heftigen sozialen Unruhen führte. Die Wirtschaft lag wochenlang lahm, Massendemonstrationen und Barrikaden im Pariser Quartier Latin riefen Erinnerungen an die revolutionäre Geschichte Frankreichs hervor und die gegen Demonstranten vorgehende Bereitschaftspolizei CRS wurde von Sprechchören und in Graffiti mit der SS verglichen.
Vom studentischen Protest zum Generalstreik
Zu Beginn des Jahres 1968 deutete in Frankreich nichts darauf hin, dass binnen weniger Monate der Staat an den Rand des Notstands getrieben würde. Nur vereinzelt wurden wegen der leicht angestiegenen Arbeitslosigkeit Anfang des Jahres Fabriken bestreikt. Ein Ende März an der neuen Universität im Pariser Vorort Nanterre ausgebrochener Konflikt zwischen Studenten und der Universitätsleitung um das Recht auf freie Meinungsäußerung sorgte vereinzelt für Aufsehen. Doch als nach anhaltenden Protesten die literarische Fakultät in Nanterre geschlossen wurde, sprang der Funke nach Paris über. Studenten besetzten die Sorbonne. Am 3. Mai wurde die Universität mit Gewalt von der Polizei geräumt – ein Tabubruch. Binnen kurzem wuchs die allgemeine Empörung über die Brutalität der Einsätze soweit an, dass die Gewerkschaften für den 13. Mai zum eintägigen Generalstreik aufriefen.
Die einmal angelaufene Streikbewegung breitete sich über das ganze Land aus und erfasste nahezu alle Lebensbereiche (Am 24. Mai streikten neun bis zehn Millionen Menschen). Das politische Establishment der Republik war paralysiert. Auch die von Präsident Charles de Gaulle hastig vollzogene Ankündigung von Neuwahlen und eines Referendums über Reformen brachte keine Ruhe ins Land. Gleichzeitig aber begannen sich die Wege der teilweise aufständischen Protestgruppen und die der Gewerkschaften zu trennen. Für Letztere blieben Streiks und Fabrikbesetzungen klassische Druckmittel, um Lohnerhöhungen und andere Forderungen in den Betrieben durchzusetzen. Auf Initiative von Premierminister Georges Pompidou kam es zu Verhandlungen, und am 27. Mai unterzeichneten Arbeitgeber, Gewerkschaften und Regierung die Accords de Grenelle (Abkommen von Grenelle) über eine Erhöhung des Mindestlohns (35%), Tariferhöhungen, Verkürzung der Arbeitszeit, Mitbestimmung und andere arbeitrechtliche Verbesserungen.
Mit den Accords de Grenelle kam die Wende, beschleunigt durch die Auflösung der Nationalversammlung am 30. Mai, durch die Ankündigung von Neuwahlen für den 23. Juni und durch gaullistische Gegendemonstrationen im ganzen Land, die die Revolte erstmals in die Defensive brachten. Im Juni führten die Gewerkschaften, oft nicht ohne Schwierigkeiten, ein Ende der Streikbewegung herbei. Die Wahlen, die als "Angstwahlen" in die Annalen eingingen, bestätigten die konservativen Regierungsparteien an der Macht. Nur in einigen Hochschulen und Fabriken gärte es noch einige Zeit weiter.
Deutungsversuche
War der "Mai" nur ein rasch wieder verschwundener Spuk? Der Schriftsteller Bernard Pingaud, Augenzeuge der Ereignisse, notierte in seinem im Jahr 2000 publizierten Tagebuch: "Mai: es hat sich nichts ereignet." Diesen Eindruck hatte man in der Tat schon zwei Monate danach. Die "große Revolution", die auf so viele rote und schwarze Fahnen geschrieben worden war, hatte nicht stattgefunden. Doch folgenlos ist der "Mai" deshalb nicht geblieben. Nur in der Einschätzung der Folgen wie auch der Ursachen sind sich Beteiligte und Beobachter weiterhin uneins.
Die "funktionalistische" Deutung versteht den Mai als überfälligen Prozess des Nachholens sozialer Reformen in einer blockierten Gesellschaft. Gegenüber vergleichbaren hochindustrialisierten westeuropäischen Ländern wie der Bundesrepublik war das unter de Gaulle in den 60er Jahren beschleunigt modernisierte Frankreich in einen sozialen Rückstand geraten. Die Streiks vom Mai 1968 lagen somit im Interesse des gesamten Wirtschaftssystems, das von außen gezwungen werden musste, sozialen Reformen und einer Kaufkrafterhöhung zuzustimmen. Die heitere Feier der "Wünsche" half demnach einer jungen Konsumgesellschaft zum Durchbruch, was durch das traditionelle Gesellschaftsbild des konservativen Gaullismus zuvor verhindert worden war.
Andere, voran viele Ehemalige der Mai-Revolte, bestehen auf dem vom Mai '68 ausgegangenen Anstoß einer neuen politischen, sozial- und kulturrevolutionären Entwicklung hin zu mehr Demokratie in allen Bereichen der Gesellschaft. Obwohl es der Kommunistischen Partei (PCF) und der mit ihr verbündeten Gewerkschaft Confédération générale du Travail (CGT) gelungen war, eine Verbrüderung zwischen unkontrollierbaren Studentengruppen und den Fabrikbelegschaften zu vereiteln, setzte mit der Mai-Revolte der Niedergang des beträchtlichen kommunistischen Einflusses im Nachkriegsfrankreich ein. Aber auch "grüne" und pazifistische Alternativbewegungen verkümmerten – im Gegensatz zur westdeutschen Entwicklung.
Unbestritten ist, dass sich der französische Mai '68 unmittelbar in einen Umbau der Parteienlandschaft, der politischen Kultur und des Wertegefüges der Fünften Republik einfügte. Er beschleunigte den Niedergang des traditionellen Gaullismus – de Gaulle trat 1969 nach einem gescheiterten Referendum zurück – und zwang die konservativen Eliten sich zu modernisieren. Der Niedergang der Kommunistischen Partei vollzog sich zu Gunsten der Sozialisten, deren Erneuerung unter François Mitterrand zu dessen Wahltriumph 1981 führte. Zugleich öffnete sich die traditionell zentralistisch eingestellte Linke für regionale Belange und Identitäten, was sich ab 1972 exemplarisch in der Bretagne ablesen ließ und in den Dezentralisierungsgesetzen von 1982 seinen gesetzgeberischen Niederschlag fand. Und nicht zuletzt erlangten die Frauen Mitte der 70er Jahre unter dem Einfluss feministischer Bewegungen und der Gesundheitsministerin Simone Veil (UDF) bislang ungekannte Rechte.
Was bleibt vom 'schönen Mai'?
Heute ist der joli mai ("der schöne Mai") von 1968 ebenso Geschichte wie das große Volksfest, mit dem im Mai 1981 die Wahl des Sozialisten Mitterrand zum Staatspräsidenten gefeiert wurde. Doch was schon das Gedächtnis der Französischen Revolution und anderer revolutionärer und sozialer Revolten in Frankreich für sich in Anspruch nahm, gilt auch für den "Mai 68": die Erinnerung an die plötzlich hervorbrechende, durch den gewöhnlichen Gang der Dinge verschüttete Fähigkeit vieler Menschen, im gemeinsamen Nein zum Bestehenden zusammenzufinden und aus der bloßen Vorstellung besserer Zustände ein Fest zu machen. Dass diese Fähigkeit in Frankreich in besonderem Maße vorhanden ist, zeigen Geschichte und Kultur unseres Nachbarlandes. Auch wenn die antinuklearen und ökologischen Protestbewegungen der frühen 70er Jahre ihre erste Blüte nicht überstanden, war man stolz darauf, dass aus dem "Mai '68" unmittelbar kein linksradikaler Terrorismus wie in Westdeutschland hervorgegangen ist.
Einen weiteren deutsch-französischen Aspekt des Pariser Mai '68 gilt es festzuhalten: Wohl kaum ein anderes französisches Ereignis im 20. Jh. hat eine so faszinierende Wirkung auf jüngere Deutsche ausgeübt. Waren die konservativen und älteren Generationen der damaligen Bundesrepublik eher vom Charisma eines Charles de Gaulles fasziniert, so übte der Pariser Mai, dem ein deutsch-französischer Student namens Daniel Cohn-Bendit ein jugendliches Gesicht gab, eine nachhaltige Wirkung auf die damalige westdeutsche studentische Jugend aus. Der Mai '68 prägte ein neues, "linkes" Frankreichbild einer ganzen Generation, zu der nicht zuletzt auch die ersten "Jahrgänge" des Deutsch-Französischen Jugendwerkes gehörten: ein Frankreich der politisch-kulturellen Revolte, des sympathischen Ungehorsams, des kreativen Aufbegehrens. All zu schnell vergaßen spätere westdeutsche (heute etablierte) Protestbewegungen, dass ihre antinuklearen und ökologischen Lehrjahre einst in Frankreich lagen.
Wie in Deutschland ist die 68er-Generation nun auch in Frankreich von der aktiven politischen Bühne abgetreten. Ihr Erbe wird heute kritischer gesehen als vor 20 Jahren, als sie selbst noch über die Deutungshoheit verfügte. Das zeigte nicht zuletzt der Präsidentschaftswahlkampf 2007, in dem der spätere Wahlsieger Nicolas Sarkozy (*1955) mit den "Erben des Mai 68" abzurechnen versuchte: dieses Erbe gelte es ein für allemal zu begraben. Der frühere sozialistische Kulturminister Jack Lang (*1939) protestierte energisch. Das 40-jährige Jubiläum des "Mai 68" setzte diese Polarisierung ein Jahr später mit neuen Nuancen fort.
Auf der einen Seite stehen dabei jene, für die er zusehends ein Symbol für eine "bessere Zeit" (in ihrer Jugend) blieb. Auf der anderen Seite finden sich jene, die ihn immer noch mit Anarchie und Sittenverfall gleichsetzen. Dazwischen jene, die nachdenklich rückfragten: "Was haben wir aus unseren Träumen gemacht?" Dann jene, die wie der heutige Staatspräsident François Hollande (*1954) mit diesem Erbe ihre Karriere begründeten – bespöttelt von dem Alt-Linken André Glucksmann, der in resignativer Satire schrieb: "Ach, ihr braven Kinder von 68, ruht in Frieden. Die dankbare Linke betrachtet in euch ihre extraterrestrische Vorvergangenheit. Sie hat sich die Erbschaft zugeschanzt, lebt von den Zinsen der Erinnerungen und investiert sie in verschiedene globalisierungskritische, ökologische oder Wahlprogramme. Hier stehen wir, zwischen Lenins Mumie und dem Devotionalienkitsch von Lourdes. Uns geht's gut."
Diese mentale Gemengelage wird so lange anhalten, bis der "Mai '68" wie schon das "Fest" der Volksfront 1936 nur noch eine Angelegenheit der Historiker sein wird. Nichtsdestotrotz können wir festhalten: Der "Mai '68" bleibt ein generationsprägendes Ereignis in der französischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Alle seit den frühen 80er Jahren regierenden und kulturell bestimmenden Eliten sind davon geprägt. Aber auch in der jüngeren Geschichte der deutsch-französischen Verständigung nimmt er einen Platz ein, dessen kritische Würdigung noch nicht abgeschlossen ist. Einer allerdings entstieg der Erinnerung an den "Mai '68" wie ein Phönix aus der Asche: Der 1969 gestürzte politische "Übervater" Charles de Gaulle steht bei Umfragen seit Jahren auf Platz 1 in der Liste der 100 "größten Franzosen".
Dieser Text ist eine von I. Kolboom gekürzte, überarbeitete und aktualisierte Fassung eines einst von Lothar Baier (†) und I. Kolboom 2008 im "Handbuch Französisch" (2. Aufl., Erich Schmidt Verlag Berlin) veröffentlichten Artikels über den französischen Mai 68.
Weitere Inhalte
Prof. Dr. Dr. h.c. Ingo Kolboom, geb. 1947, lehrte zuletzt von 1994 bis zu seiner Emeritierung 2012 französische und frankophone Gesellschafts- und Kulturwissenschaften an der TU Dresden. Von 1993 bis 2009 gehörte er dem Deutsch-Französischen Kulturrat an. Er ist heute Assoziierter Forscher am Politikdepartement der Université du Québec à Montréal (UQÀM), Präsident der Sächsisch-Bretonischen Gesellschaft e.V. und freier Publizist.
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