Die Proteste gegen die "Ehe für alle": Anzeichen eines neuen Konservatismus in Frankreich?
Seit April 2013 dürfen homosexuelle Paare in Frankreich heiraten und die Ehe eingehen. François Hollande hatte die rechtliche Gleichstellung im Wahlkampf versprochen. Doch trotz der Ankündigung erregte das Gesetz über die "Ehe für alle" die Gemüter der Franzosen auf beispiellose Art und Weise. Dies hat viel mit der Beziehung von Staat und Kirche, alten Konflikten und auch etwas mit dem französischen Staatsverständnis zu tun, das auf der Trennung von allgemeinen und individuellen Interessen beruht.
Nach insgesamt fast 200 Stunden Parlamentsdebatten hat die französische Nationalversammlung in Paris am 23. April 2013 mit 331 gegen 225 Stimmen in zweiter Lesung die bislang wichtigste gesellschaftspolitische Reform von Präsident François Hollande beschlossen. Mit der Abstimmung über die umstrittene "Ehe für alle" ("mariage pour tous") werden homosexuelle künftig heterosexuellen Paaren weitestgehend gleichgestellt.[1] Damit öffnet Frankreich als weltweit vierzehntes Land die Ehe für homosexuelle Paare.
Ein bitterer Nachgeschmack jedoch bleibt: Nach Monaten der politischen Auseinandersetzung drängt sich die Frage auf, wie es dazu kommen konnte, dass sich die Gemüter innerhalb der Debatte derart erhitzten. Großdemonstrationen mit Hunderttausenden von Teilnehmern, Gewaltandrohungen gegen prominente Befürworter, offen vorgetragene homophobe Äußerungen und Diffamierung sowie Handgreiflichkeiten im Parlament stehen wohl kaum im Einklang mit dem Image Frankreichs einer aufgeklärten, modernen und laizistischen Republik, einer Nation, die sich selbst gern als die Verfechterin universeller Menschenrechte versteht. Wie konnte es passieren, dass sich die Debatte derart radikalisiert, während zeitgleich ähnliche Gleichstellungsgesetze in Ländern wie Großbritannien oder Neuseeland kaum für Aufsehen gesorgt haben?
Die Öffnung der Ehe als Wahlkampfthema

Nach seiner Wahl zum Präsidenten begann François Hollande damit, sein Versprechen einzulösen. Die sozialistische Regierung und Homosexuellen-Aktivisten hielten die rechtliche Lösung, die der PaCS mit sich brachte, für unzureichend. Die Befürworter der "Ehe für alle" argumentierten, Homosexuelle hätten ein Recht auf eine vollständige Gleichbehandlung mit Heterosexuellen. Auch Schwule und Lesben sollten heiraten und Kinder adoptieren können. Zudem wurde auf Studien verwiesen, aus denen hervorging, dass Kinder homosexueller Eltern auf gleiche Weise aufwüchsen wie jene heterosexueller Paare. Ebenso hätten andere europäische Länder die Ehe längst für homosexuelle Paare eingeführt. Die "Ehe für alle" wurde so zum Maßstab einer liberalen Gesellschaft erhoben.
Die Reformgegner, darunter die katholische Kirche und andere Religionsgruppen, störten sich vor allem am Adoptionsrecht. Sie argumentierten, nicht die Paare, sondern die Kinder müssten in den Fokus der Gesetzgebung gestellt werden. Sie verwiesen darauf, dass Heranwachsende für ihre Entwicklung Vater und Mutter bräuchten. So dürfe man in dieser Frage "naturgegebene Grundlagen" nicht ignorieren. Des Weiteren führten die Gegner des Gesetzes ins Feld, dass eine dermaßen grundlegende gesellschaftspolitische Reform durch ein Referendum legitimiert werden müsse, zumal der Gesetzentwurf lediglich eine kleine Minderheit der Bevölkerung betreffe.
Gegen die republikanischen Spielregeln
Dieser Vorwurf der Privilegierung von Einzelinteressen gegenüber dem Gemeinwohl ist für ein besseres Verständnis der Debatte um die "Ehe für alle" von großer Bedeutung. Schon bei der Gestaltung des PaCS 1999 hatten sich die Befürworter bewusst auf eine solche Argumentation eingestellt und diese von Beginn an versucht zu entkräften: Nahezu alle Vorschläge, die diesbezüglich geäußert wurden, bezogen sich in ihrer gesetzlichen Reichweite immer sowohl auf hetero- als auch auf homosexuelle Paare. Die Strategie der Befürworter, die rechtliche Situation Homosexueller an die heterosexueller nichtehelicher Partnerschaften zu koppeln, war also letztlich verantwortlich für den Erfolg des PaCS. Eine rechtliche Lösung, wie das Lebenspartnerschaftsgesetz in Deutschland, das sich ausschließlich auf homosexuelle Partnerschaften bezieht, wäre in Frankreich nicht mehrheitsfähig gewesen.Die Berufung auf allgemeingültige Werte ermöglichte also die Einbettung von Anliegen, die ursprünglich nur eine Minderheit betrafen, in einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs. Die Forderung nach rechtlicher Gleichstellung Homosexueller ließ sich so mit ur-republikanischen Prinzipien verzahnen – konform mit einem französischen Staatsverständnis, das auf der Trennung von übergeordnetem Gemeininteresse und persönlichem Privatinteresse beruht. In diesem Sinne stoßen Gesetzentwürfe in Frankreich traditionell auf weniger politischen Widerstand, wenn sie sich an diese republikanischen Spielregeln halten. So spielt diese Strategie auch in der aktuellen Debatte eine Rolle: Sowohl Gegner ("Demo für alle") als auch Befürworter des Gesetzes ("Ehe für alle") bedienen sich einer Rhetorik, die ein Handeln im Sinne des Gemeinwohls suggeriert. Doch kann dies kaum als Erklärungsansatz für die Radikalisierung der Debatte dienen. Denn auch wenn die Gesetzesgegner während der Proteste zu keiner Zeit die Mehrheit der französischen Bevölkerung hinter sich hatten, (nach allen Umfragen sind knapp zwei Drittel der Franzosen für die "Ehe für alle", etwas geringer scheint die Zustimmung für ein Adoptionsrecht für schwule und lesbische Paare zu sein) kam es zu einer beispiellosen Mobilisierung, deren Ausmaß und Dauer nationale wie internationale Beobachter überrascht hat.
Vorboten eines neuen Rechtsrucks?

Schon im Vorfeld schien die Debatte zu einer Neuauflage eines typisch französischen Schulstreits zu werden. Der sozialistische Erziehungsminister Vincent Peillon hatte in einem Rundschreiben die Leiter der etwa 8.500 meist katholischen Privatschulen in Sachen der "Ehe für alle" zu Neutralität gemahnt, was ihm von der konservativen Opposition als Zensur und Provokation ausgelegt wurde und alte Wunden eines langen Kulturkampfes um Schule und Kirche aufzureißen drohte. Seit Frankreich zunächst die Kirche vom Schulwesen (1882) und dann vom Staat (1905) trennte, schwelt der Konflikt zwischen den Anhängern einer laizistischen und einer von Gott geprägten Gesellschaftsordnung. Eine traditionelle Sollbruchstelle: 1984 wollte die Linksregierung die staatlichen Subventionen für konfessionelle Schulen einstellen. Aufgrund von Massendemonstrationen zur Verteidigung der Privatschulen zog sie letztlich ihr Gesetzvorhaben zurück.

Diese integrierende Strategie scheint bei all jenen den richtigen Ton zu treffen, die generell von der Politik Hollandes enttäuscht und von der Wirtschaftskrise betroffen sind oder ihre Unzufriedenheit mit der "Gesamtsituation" Frankreichs zum Ausdruck bringen wollen. Die Protestbewegung richtet sich gegen die Politik der Linken und gegen die Homosexuellen als deren sichtbarstes Symptom. Denn seit seinem Amtsantritt hat François Hollande keine andere grundlegende wirtschaftliche und soziale Reform auf den Weg gebracht, an der sich die Geister derart scheiden. Entsprechend provoziert die Debatte um die umstrittene "Ehe für alle" den Ausbruch traditionell schwelender Konflikte zwischen "mehreren" Frankreichs: zwischen Staat und Kirche, zwischen Moderne und Tradition, zwischen Elite und Masse und nicht zuletzt zwischen Links und Rechts.