Einige ökonomische Daten zeigen nach oben, doch den Portugiesen geht es auch nach Jahren der Krise nicht besser, meint der portugiesische Fernsehjournalist António Perez Metelo. Die Auflagen der rigiden Sparprogramme haben für ihn viel vom Erreichten zerstört.
Portugal wurde während der Griechenlandkrise - wie Spanien und Irland - von der deutschen Regierung als Vorbild dafür bezeichnet, wie ein überschuldetes Land wieder auf den Weg der Gesundung gefunden hat. Dabei musste Lissabon noch im März 2011 angesichts eines drohenden Staatsbankrotts seine ausländischen Partner um Hilfe anbetteln. Die Frage, ob die Austeritätspolitik den erhofften Umschwung gebracht hat, stand vor den Parlamentswahlen am 4. Oktober 2015 im Mittelpunkt der politischen Debatte. Luís Montenegro, Fraktionsführer der bis zu den Wahlen noch größten Koalitionspartei, der liberalkonservativen PSD, brachte das Dilemma auf den Punkt: "Dem Land geht es besser, aber den Portugiesen nicht."
Portugal hat im Mai 2014 den Schutzschirm verlassen und benötigt seither keine Hilfe mehr. Das Land kann sich heute an den Finanzmärkten sowohl mit kurzfristigen als auch mit langfristigen Staatsanleihen finanzieren. Und es zahlt fast die Hälfte seiner Schulden beim Interner Link: Internationalen Währungsfonds (IWF) sogar im Voraus zurück, um Zinsen zu sparen. Das öffentliche Defizit sinkt: Die Regierung glaubt an eine Steigerung von 2,7 Prozent des Interner Link: Bruttoinlandsprodukts (BIP) in diesem Jahr, die Gläubiger sagen etwas mehr voraus (3,2 Prozent). Das BIP ist 2014 sogar real um moderate 0,9 Prozent gewachsen, für 2015 wird ein Plus von 1,6 Prozent erwartet. Nach drei aufeinanderfolgenden Jahren, in denen die Wirtschaftskraft schrumpfte, ist dies ohne Zweifel eine Verbesserung. Die Außenhandelsbilanz ist ausgeglichen - was seit Jahrzehnten nicht mehr der Fall war - und die Exporte machen 41 Prozent des BIP aus. So gesehen geht es dem Land besser.
"Der Trend der letzten 20 Jahre hin zu mehr sozialem Ausgleich wurde umgekehrt, die Ungleichheit im Land hat auf brutale Weise zugenommen."
Das Sparen um jeden Preis hat jedoch deutliche Spuren bei den Menschen hinterlassen: Das BIP ist zwischen 2008 und 2014 um ein Achtel gesunken. Das hat die Arbeitslosigkeit Anfang 2013 auf einen Spitzenwert von 17,6 Prozent katapultiert. Im Sommer 2015 waren es immer noch über zwölf Prozent. Die Jugendarbeitslosigkeit stieg indes auf 36 Prozent - und hat in Portugal die größte Auswanderungswelle von qualifizierten Jugendlichen seit Menschengedenken ausgelöst. Die Geburtenrate ist gleichzeitig stark gefallen.
Die Zahl der Beschäftigten ist um 320.000 zurückgegangen, eine große Zahl bei nur 4,8 Millionen Arbeitenden insgesamt. Die Bevölkerung schrumpft, während die Kinderarmut zunimmt, ebenso wie die Altersarmut und sogar die Armut unter den Beschäftigten. Einige Portugiesen müssen entscheiden, ob sie Essen oder Medizin kaufen. Die Armutsgrenze liegt bei 400 Euro, das Durchschnittsgehalt ist aber zwischen 2010 und 2015 um über acht Prozent auf etwa 700 Euro gesunken. Der Trend der letzten 20 Jahre hin zu mehr sozialem Ausgleich wurde umgekehrt, die Ungleichheit im Land hat auf brutale Weise zugenommen.
"Eine wichtige Ursache für die geringere Produktivität des Landes ist die mangelnde Qualifikation vieler Portugiesen."
Der Schock der großen Rezession von 2008/2009 hat das ohnehin fragile Fundament der portugiesischen Wirtschaft in seinen Grundfesten erschüttert - wie auch das der griechischen. Und natürlich sind auch die Portugiesen keine Faulpelze: Angestellte in Portugal arbeiten pro Jahr im Schnitt 23 Prozent mehr Stunden im Jahr als ihre Kolleginnen und Kollegen in Deutschland. Nur produzieren die deutschen Arbeiter trotzdem durchschnittlich 73 Prozent mehr Waren oder Dienstleistungen.
Staatliche Schuldenstandquote in Portugal 1999-2015
Wie das sein kann? Eine wichtige Ursache für die geringere Produktivität des Landes ist die mangelnde Qualifikation vieler Portugiesen. Kleinunternehmer haben es nicht einfach: Viele von ihnen sind Selfmademen mit geringer Schulbildung. Zur Zeit der Nelkenrevolution, die uns vor 41 Jahren von einem halben Jahrhundert Diktatur befreite, waren noch über ein Drittel der Bevölkerung Analphabeten. Noch in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts hatte bezeichnenderweise ein Bildungsminister unter Diktator Salazar geurteilt, dass "das Volk nur lesen, den Namen schreiben und rechnen lernen sollte, denn das Wissen schafft viel Unglück".
Immer noch ist der Rückstand bei der Qualifikation im EU-Vergleich hoch. Genauso ist es bei der Industrialisierung: Eine ernsthafte Förderung von Forschung und Wissenschaft begann in Portugal vor gerade mal 20 Jahren - inzwischen mit großen Fortschritten, sagen Interner Link: OECD und EU. Außerdem haben seit 2006 mehr als eine Million Erwachsene am Programm „Novas Oportunidades“ (Neue Chancen) teilgenommen, um die Sekundarstufe nachzuholen. Doch diese Erfolge sind noch zu labil, sie brauchen Kontinuität und Ausdauer. Dennoch kürzte die Troika blind viele dieser Errungenschaften weg - mit enthusiastischer Unterstützung seitens des "lusitanischen Musterschülers", denn die Regierung spielte dabei willig mit.
"Das, was die betroffenen Länder am meisten benötigen, nämlich mehr Produktivität und Konkurrenzfähigkeit, ist stark geschwächt worden."
Das Austeritätsdogma ist uns nun vier Jahre lang eingehämmert worden: "There is no alternative" - "Es gibt keine Alternative", huldigt vor allem die deutsche Regierung dem TINA-Prinzip. Die Folgen sind schon abzusehen: Das, was die betroffenen Länder am meisten benötigen, nämlich mehr Produktivität und Konkurrenzfähigkeit, ist stark geschwächt worden. Die Programme mit dem Stempel der Troika machen sich nicht einmal mehr die Mühe, produktive Investitionen als strategisches Ziel zu formulieren.
Der Euro ist ein finanzieller Gigant, steht aber auf Zwergenfüßen in punkto Wirtschaftsunion, beim gemeinsamen Haushalt und bei steuerlicher Angleichung. Deshalb werden die Abstände zwischen den Eurostaaten immer größer. Das Aufholen der Länder der Euro-Peripherie wäre eine Farce, wenn es sich nicht schon bei der Griechenland aufgezwungenen dritten „Rettung“ in eine Tragödie verwandelt hätte. So sind wir letztlich auf dem Weg hin zu einer Festigung der Zone des starken Euro und der Zone des schwachen Euro - mit verzögertem Rausschmiss der Länder, die sich in letzterer befinden.
António Perez Metelo, Jahrgang 1949, ging in Lissabon auf die deutsche Schule, studierte Ökonomie und arbeitet seit 1978 als Wirtschaftsjournalist für verschiedene portugiesische Zeitungen, Radio- und TV-Stationen.