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"Nous" – Filmbesprechung | Frankreich | bpb.de

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"Nous" – Filmbesprechung

Marguerite Seidel

/ 4 Minuten zu lesen

Die Linie B der Pariser Stadtbahn ist etwa 80 Kilometer lang. Zwischen dem Flughafen Charles de Gaulle im Norden und dem verschlafenen Örtchen Saint-Rémy-lès-Chevreuse im Süden durchquert der RER B die gesamte Stadt. Entlang der Bahnlinie porträtiert die Filmemacherin Alice Diop Menschen und Orte, die jenseits der weltberühmten Sehenswürdigkeiten im Zentrum die Geschichte der Metropole von den Rändern aus schreiben.

Filmstill aus "Nous" (© Totem Films)

Beobachtung und Empathie

Nous beginnt mit einem Sinnbild für Diops dokumentarische Herangehensweise: Im Morgengrauen sucht eine Familie den Waldrand mit dem Fernglas ab. Zeitgleich wie die Spähenden erblickt ein in der Ferne vorbeiziehender Hirsch die Menschen. Zwei Welten halten kurz inne, um sich gegenseitig zu betrachten. Irgendwo rattert ein Zug. Sowohl die Beobachtungen der Mitwirkenden im Film als auch die der Kamera auf ihr Sujet sind von Geduld und Genauigkeit geprägt. Dadurch, dass sie sich in Nous die Zeit nehme, Protagonistinnen und Protagonisten in Alltagsgesten und Nahaufnahmen zu entdecken, betont Alice Diop in einem Interview, entstehe eine Empathie, welche diese erst zu Individuen mache.

Geschichte "von unten"

Filmstill: Der Automechaniker Ismaël, ein Protagonist von "Nous" (© Totem Films)

Der Tag bricht auch auf den Parkplätzen im nördlichen Vorort La Courneuve an, wo der Automechaniker Ismaël lebt. Aufnahmen vom ersten Kaffee, vom Herumschrauben unter Motorhauben, vom Frieren nachts im Camper und von einem Telefonat mit seiner Mutter, die Ismaël seit seiner Ausreise aus Mali vor über 20 Jahren nicht mehr gesehen hat, legen Bild für Bild einen mehrdimensionalen Menschen frei. Dessen Lebensalltag erzählt nebenbei kritisch von europäischer Migrationspolitik – von Zugezogenen, die sich, um zu bleiben, jahrzehntelang ohne Papiere durchschlagen. Indem der Film systematisch die Perspektive der petits gens, der kleinen Leute, einnimmt, die lediglich die Nähe zur Bahntrasse und das wiederkehrende Geräusch des vorbeifahrenden Zuges verbindet, greift Diop den wissenschaftlichen Ansatz der Geschichtsschreibung "von unten" auf. Nach und nach entwirft sie in Porträts ein Mosaik von Leben und Landschaften am Stadtrand des heutigen Paris und liefert damit einen Gegenentwurf zu geläufigen Medienbildern, die häufig die sogenannte Banlieue auf ein "Problemgebiet" reduzieren.

Orte als Schauplätze des Lebens

Filmstill: Die Kathedrale von Saint-Denis, einer der Schauplätze von "Nous" (© Totem Films)

Momentaufnahmen von verschiedensten Orten ergänzen das Mosaik. Luftbilder von Parkplätzen verdeutlichen Ismaëls einbetonierten Lebensraum. Die dunkle Ödnis gesäumt von Fabrikschloten frühmorgens auf dem Vorplatz des Bahnhofs Sevran-Beaudottes steht im Kontrast zur schweigenden Masse der Berufspendelnden auf dem überfüllten Bahnsteig – beides in fixen Einstellungen aufgenommen, wie festgefahrene Routinen. Während der jährlichen Verlesung des Testaments Ludwigs XVI. in der Kathedrale von Saint-Denis wirken die eingestreuten Nahaufnahmen bewegter Betender erstaunlich angesichts dessen, dass einem vor rund 250 Jahren verstorbenen König gedacht wird, der das absolutistische Frankreich von einst repräsentiert. In Drancy hingegen, in der Shoah-Gedenkstätte an ein dortiges Sammel- und Durchgangslager zur Deportation von Juden zwischen 1941 und 1944, nimmt die Kamera die Exponate in den Fokus. Das Ineinanderwirken von traumatischer Vergangenheit und der davon gezeichneten Gegenwart verdeutlicht die Tonebene, die die filmische Besichtigung mit eindringlichen Zeitzeugenberichten aus dem Off begleitet. Gegen Ende des Films bringt das gleißende Sonnenlicht Gräser, spielende Kinder und plappernde Mädchengesichter zum Leuchten, die im Niemandsland der Bahntrasse einen unbeschwerten Sommertag verbringen. Die Beschaffenheit der einzelnen Orte, scheint es, gibt Diop jeweils die filmsprachlichen Mittel zu ihrer Darstellung vor.

Familiengeschichten als Stadtgeschichte

Filmstill: Der Vater von Regisseurin Alice Diop auf alten Videoaufnahmen aus "Nous" (© Totem Films)

Diops eigene Familie ist Teil dieses Mosaiks und die Integration von unscharfen Amateurvideos aus ihrer Jugend in Aulnay-sous-Bois nahe des Flughafens Charles de Gaulle markiert zugleich einen ästhetischen Bruch – nicht nur visuell, sondern unter die anfängliche soziologische Distanz mischt sich persönliche Involviertheit. In den schwesterlichen Aufnahmen von Familienfesten sucht Diop vergebens nach Bildern von Bedeutung, aber präsentiert dadurch exemplarische Normalität. Ihre eigenen ersten filmischen Gehversuche zeigen den inzwischen verstorbenen Vater, der von seinem Weg von Senegal nach Frankreich berichtet. Er fungiert als Stellvertreter einer älteren Generation Einwanderer, die – im Unterschied zu Ismaël heute – durch harte Arbeit im neuen Land ein Zuhause und eine Familie schaffen konnten. Anders als Diop, die als junge Erwachsene die Vorstadt verlassen hat, ist ihre Schwester bis heute geblieben. Sie kümmert sich als mobile Pflegerin um ältere Menschen und nimmt wie eine Chronistin bei jedem Besuch autobiografische Erinnerungen ihrer Patientinnen und Patienten auf.

Vom Sichtbarmachen des Wirs

Schließlich rückt Diop selbst ins Bild und unterhält sich mit dem Schriftsteller Pierre Bergounioux über sein Werk, um einen künstlerischen Anspruch offenzulegen, der sie sich selbst verpflichtet fühlt. So wie Bergounioux durch sein Schreiben das Leben in der strukturschwachen ländlichen Gegend Corrèze für das kollektive Bewusstsein erst sichtbar macht, stellt sich auch Diop mit Nous gegen das Übersehen der Menschen an der Peripherie. Die Schlussszenen von Handgriffen und konservativen Ritualen rund um eine Treibjagd, mit denen der Film zur Familie der ersten Sequenz zurückkehrt, mag auf die einen vertraut, auf die anderen befremdlich wirken – wie alles andere, was es entlang des RER B zu beobachten gibt. Dabei sind die erzählerische Kreisbewegung und das titelgebende Wir des Films stets buchstäblich zu verstehen und fordern dazu auf, in kleinen Geschichten die große Geschichte zu entdecken, die uns alle verbindet.

Weitere Inhalte

Video Dauer
Dokumentarfilm

Nous

Der RER B verläuft quer durch Paris und seine Außenbezirke. Vor diesem Hintergrund zeichnet „Nous“ ein ebenso ungeschöntes wie poetisches Bild verschiedener Menschen, die entlang der Zuglinie leben.

Arbeitsblatt / Arbeitsheft

"Nous" – Fiche de travail

Arbeitsblatt zum Dokumentarfilm "Nous" für den Französisch-Unterricht ab Klasse 11. // Fiche de travail sur le documentaire "Nous" pour le cours de français à partir de la première.

Dossier

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Und was macht die deutsch-französische Beziehung so besonders in Europa? Hintergrundtexte, Interviews und Infotexte beleuchten diese und viele andere Fragen zu Frankreich.

Marguerite Seidel hat Film- und Literaturwissenschaft in Berlin, Paris und Montpellier studiert. Als freie Autorin und Redakteurin arbeitet sie im Bereich Film, Filmvermittlung und Fremdsprachen. Sie unterrichtet zudem Deutsch als Fremdsprache an einem Hamburger Gymnasium.