Beobachtung und Empathie
Nous beginnt mit einem Sinnbild für Diops dokumentarische Herangehensweise: Im Morgengrauen sucht eine Familie den Waldrand mit dem Fernglas ab. Zeitgleich wie die Spähenden erblickt ein in der Ferne vorbeiziehender Hirsch die Menschen. Zwei Welten halten kurz inne, um sich gegenseitig zu betrachten. Irgendwo rattert ein Zug. Sowohl die Beobachtungen der Mitwirkenden im Film als auch die der Kamera auf ihr Sujet sind von Geduld und Genauigkeit geprägt. Dadurch, dass sie sich in Nous die Zeit nehme, Protagonistinnen und Protagonisten in Alltagsgesten und Nahaufnahmen zu entdecken, betont Alice Diop in einem Interview, entstehe eine Empathie, welche diese erst zu Individuen mache.
Geschichte "von unten"
Filmstill: Der Automechaniker Ismaël, ein Protagonist von "Nous" (© Totem Films)
Filmstill: Der Automechaniker Ismaël, ein Protagonist von "Nous" (© Totem Films)
Der Tag bricht auch auf den Parkplätzen im nördlichen Vorort La Courneuve an, wo der Automechaniker Ismaël lebt. Aufnahmen vom ersten Kaffee, vom Herumschrauben unter Motorhauben, vom Frieren nachts im Camper und von einem Telefonat mit seiner Mutter, die Ismaël seit seiner Ausreise aus Mali vor über 20 Jahren nicht mehr gesehen hat, legen Bild für Bild einen mehrdimensionalen Menschen frei. Dessen Lebensalltag erzählt nebenbei kritisch von europäischer Migrationspolitik – von Zugezogenen, die sich, um zu bleiben, jahrzehntelang ohne Papiere durchschlagen. Indem der Film systematisch die Perspektive der petits gens, der kleinen Leute, einnimmt, die lediglich die Nähe zur Bahntrasse und das wiederkehrende Geräusch des vorbeifahrenden Zuges verbindet, greift Diop den wissenschaftlichen Ansatz der Geschichtsschreibung "von unten" auf. Nach und nach entwirft sie in Porträts ein Mosaik von Leben und Landschaften am Stadtrand des heutigen Paris und liefert damit einen Gegenentwurf zu geläufigen Medienbildern, die häufig die sogenannte Banlieue auf ein "Problemgebiet"
Orte als Schauplätze des Lebens
Filmstill: Die Kathedrale von Saint-Denis, einer der Schauplätze von "Nous" (© Totem Films)
Filmstill: Die Kathedrale von Saint-Denis, einer der Schauplätze von "Nous" (© Totem Films)
Momentaufnahmen von verschiedensten Orten ergänzen das Mosaik. Luftbilder von Parkplätzen verdeutlichen Ismaëls einbetonierten Lebensraum. Die dunkle Ödnis gesäumt von Fabrikschloten frühmorgens auf dem Vorplatz des Bahnhofs Sevran-Beaudottes steht im Kontrast zur schweigenden Masse der Berufspendelnden auf dem überfüllten Bahnsteig – beides in fixen Einstellungen aufgenommen, wie festgefahrene Routinen. Während der jährlichen Verlesung des Testaments Ludwigs XVI. in der Kathedrale von Saint-Denis wirken die eingestreuten Nahaufnahmen bewegter Betender erstaunlich angesichts dessen, dass einem vor rund 250 Jahren verstorbenen König gedacht wird, der das absolutistische Frankreich von einst repräsentiert. In Drancy hingegen, in der Shoah-Gedenkstätte an ein dortiges Sammel- und Durchgangslager zur Deportation von Juden zwischen 1941 und 1944, nimmt die Kamera die Exponate in den Fokus. Das Ineinanderwirken von traumatischer Vergangenheit und der davon gezeichneten Gegenwart verdeutlicht die Tonebene, die die filmische Besichtigung mit eindringlichen Zeitzeugenberichten aus dem Off begleitet. Gegen Ende des Films bringt das gleißende Sonnenlicht Gräser, spielende Kinder und plappernde Mädchengesichter zum Leuchten, die im Niemandsland der Bahntrasse einen unbeschwerten Sommertag verbringen. Die Beschaffenheit der einzelnen Orte, scheint es, gibt Diop jeweils die filmsprachlichen Mittel zu ihrer Darstellung vor.
Familiengeschichten als Stadtgeschichte
Filmstill: Der Vater von Regisseurin Alice Diop auf alten Videoaufnahmen aus "Nous" (© Totem Films)
Filmstill: Der Vater von Regisseurin Alice Diop auf alten Videoaufnahmen aus "Nous" (© Totem Films)
Diops eigene Familie ist Teil dieses Mosaiks und die Integration von unscharfen Amateurvideos aus ihrer Jugend in Aulnay-sous-Bois nahe des Flughafens Charles de Gaulle markiert zugleich einen ästhetischen Bruch – nicht nur visuell, sondern unter die anfängliche soziologische Distanz mischt sich persönliche Involviertheit.
Vom Sichtbarmachen des Wirs
Schließlich rückt Diop selbst ins Bild und unterhält sich mit dem Schriftsteller Pierre Bergounioux über sein Werk, um einen künstlerischen Anspruch offenzulegen, der sie sich selbst verpflichtet fühlt. So wie Bergounioux durch sein Schreiben das Leben in der strukturschwachen ländlichen Gegend Corrèze für das kollektive Bewusstsein erst sichtbar macht, stellt sich auch Diop mit Nous gegen das Übersehen der Menschen an der Peripherie. Die Schlussszenen von Handgriffen und konservativen Ritualen rund um eine Treibjagd, mit denen der Film zur Familie der ersten Sequenz zurückkehrt, mag auf die einen vertraut, auf die anderen befremdlich wirken – wie alles andere, was es entlang des RER B zu beobachten gibt. Dabei sind die erzählerische Kreisbewegung und das titelgebende Wir des Films stets buchstäblich zu verstehen und fordern dazu auf, in kleinen Geschichten die große Geschichte zu entdecken, die uns alle verbindet.