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Wie bilden sich (Tarif-)Löhne? | Arbeitsmarktpolitik | bpb.de

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Wie bilden sich (Tarif-)Löhne?

Guido Zinke

/ 23 Minuten zu lesen

Wie sich Löhne bilden, welchen Einfluss das sogenannte Insider-Outsider-Phänomen auf die Lohnbildung und mögliche Arbeitslosigkeit hat, wie sich Tarifauseinandersetzungen gestalten, wie tarifliche Vereinbarungen durchgesetzt werden und mit welchen Herausforderungen der Tarifertrag heute konfrontiert ist, stellen die folgenden Ausführungen vor.

Gebäudereiniger bei der Arbeit (© AP)

Die Lohnbildung ist ein wichtiger Prozess für die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft. Er qualifiziert in seiner Höhe die Knappheit des Produktionsfaktors Arbeit. Nicht allein, sondern im Zusammenspiel mit den weiteren Faktorpreisen Zins (für den Produktionsfaktor Kapital) und Bodenrente (Boden), ist daher die Höhe der Löhne eine entscheidende Determinante der betriebswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit eines Unternehmens bzw. ein volkswirtschaftlicher Entwicklungsparameter einer Region, einer Branche oder eines ganzen Landes.

Freie Lohnbildung: Das theoretische Grundgerüst

Existieren kein Mindestlohn oder sonstige Regulierungen des Arbeitsmarktes, ist der Lohn, also die Höhe der Vergütung des Arbeitnehmers durch den Arbeitgeber, gemäß des Grundsatzes der Vertragsfreiheit völlig frei gestalt- und offen vereinbar. Entscheidend für die Höhe der Vergütung sind die Qualität der Angebotsseite (Qualifikation, berufliche Erfahrungen und weitere Eigenschaften des Arbeitnehmers) und der Nachfrageseite (Arbeitsplatzbedingungen, die der Arbeitgeber anbietet) - sowie die aus diesem Zusammenwirken von Angebot und Nachfrage resultierende Marktsituation. Dazu stelle man sich einen Arbeitsmarkt vor,

  • auf dem vollkommener Wettbewerb und vollständige Konkurrenz herrscht,

  • ein Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage gefunden wird,

  • ein funktionierender Preismechanismus existiert und deshalb

  • Markträumung möglich ist

In einer solchen Situation kann es zu einer völlig freien Lohnbildung kommen. Das vollkommene Wechselspiel von Angebot und Nachfrage sorgt dafür, dass leistungsgerechte Löhne angeboten und auch gezahlt werden, schafft Vollbeschäftigung und sichert daher die volkswirtschaftliche Effizienz. Auf diesem Arbeitsmarkt wären die Arbeitnehmer in der Lage, zwischen Freizeit und Arbeitszeit abzuwägen, hieraus einen exakten Lohn zu finden und diesen auch gegenüber den Arbeitgebern durchzusetzen. Letztere würden wiederum den "richtigen" Preis akzeptieren. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, dann stellt sich durch den Prozess der freien Lohnbildung Vollbeschäftigung ein. Gleichzeitig sind die Unternehmen in der Lage auf dem vollkommenen Gütermarkt ihre Produktionsleistung abzusetzen, somit Auslastung für ihre Beschäftigten zu schaffen und dadurch die Lohnsätze zu zahlen.

Die folgende Grafik illustriert den Prozess der freien Lohnbildung zwischen Arbeitsnachfrage (durch die Arbeitgeber) und Arbeitsangebot (durch die Arbeitnehmer) auf diesem Arbeitsmarkt. Dargestellt ist das Gleichgewicht im Punkt A, in dem sich die Arbeitsnachfrage- und -angebot bei einem Reallohnsatz von W0 kreuzen. An diesem Punkt sind sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber über Umfang der Arbeit (A0) und Entlohnung (W0) einig. Der Lohnmechanismus funktioniert also. Gesamtwirtschaftlich besteht in Punkt A eine Vollbeschäftigung.

Freie Lohnbildung zwischen Arbeitsnachfrage und Arbeitsangebot auf einem vollkommenen Arbeitsmarkt (Interner Link: Grafik zum Download 51 KB) (© bpb)

Diese Situation könnte sich im Zeitverlauf natürlich ändern. Zum Beispiel, weil sich das Arbeitsangebot vergrößert (AS1), da das unveränderte Potenzial Arbeitskräfte entscheidet, Freizeit zu Gunsten einer größeren Arbeitszeit zu reduzieren oder weil schlichtweg die Zahl der Arbeitskräfte steigt. In beiden Fällen käme es zu einer Ausweitung des Arbeitspotenzials, wodurch sich die Arbeitsangebotskurve nach rechts von AS0 auf AS1 verschiebt. Dies würde – bei gleichbleibendem Lohnsatz W0 - zunächst zu einer unfreiwilligen Arbeitslosigkeit im Umfang der Strecke AB führen. Denn die Arbeitgeberseite steigert nicht ihre Nachfrage zum konstanten Lohn. Es werden keine weiteren Beschäftigungsverhältnisse aufgebaut. Die hieraus resultierende Arbeitslosigkeit wird deshalb einen Lohndruck auslösen, der zu einem neuen gleichgewichtigen Reallohnsatz W1 führt. Durch das Absinken des Reallohnsatzes wurde die Arbeitsnachfrage wieder ausgeweitet. Auf diese Weise würde die Arbeitslosigkeit abgebaut, der Arbeitseinsatz auf A1 gesteigert und gleichzeitig der Reallohnsatz auf W1 gesenkt werden. Aus einer weiteren Ausweitung des Arbeitspotenzials sind daher auch weiter sinkende Reallohnsätze zu erwarten, um eine gleichgewichtige Situation zu erreichen.

Tariflohnbildung: Lohnfixierung als Ergebnis von Tarifverhandlungen

Der Prozess der freien Lohnbildung unterstellt, dass ein vollkommener Arbeitsmarkt besteht und jeder Marktakteur (Arbeitnehmer und Arbeitgeber) hinreichend informiert ist, vollständig rational entscheidet und flexibel agiert. Auf diesem Wege kommt es zu einem Gleichgewicht zwischen Nachfrage und Angebot. Also zu einer Situation, die in der Realität nur selten anzufinden ist.

Auf Arbeitsmärkten bestehen zwischen der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite erhebliche Machtasymmetrien, da typischerweise eine strukturelle Unterlegenheit einzelner Arbeitnehmer gegenüber den Unternehmen besteht. Diese asymmetrischen Konstellationen führen im Rahmen einer uneingeschränkten Vertragsfreiheit zu einem ständigen Absinken der Löhne. Um die Rolle der Arbeitnehmer zu stärken, entwickelte sich im Zeitverlauf das tarifpolitische Instrumentarium heraus. In Tarifverhandlungen zwischen Gewerkschaften, die die Angebotsseite vertreten und Arbeitgeberverbänden bzw. einzelnen Unternehmen, wird das Machtungleichgewicht zwischen Arbeitsnachfrage und –angebot minimiert. Deren Ergebnisse werden in verbindlichen Tarifverträgen zwischen der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite festgelegt. Zwar sind diese in erster Linie nur für Gewerkschaftsmitglieder wirksam aber sie gewinnen nicht selten durch die Allgemeinverbindlichkeitserklärung eine gesamtwirtschaftliche Wirkung.

Wesentliche Aspekte von Tarifverhandlungen und Tarifverträgen sind die Vereinbarungen über die Höhe der Löhne. Dahingehend ersetzen also Tarifverhandlungen den Prozess der freien Lohnbildung, indem konkrete Lohnhöhen miteinander verhandelt und letztlich für einzelne Unternehmen, Branchen oder auch landesweit vereinbart werden. Es findet eine Lohnfixierung als Ergebnis von Verhandlungen statt. Das marktseitige Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage wird durch diese Verhandlungen außer Kraft gesetzt und der Lohnmechanismus eingeschränkt. Da die Lohnbildung abhängig von den volks- und betriebswirtschaftlichen Entwicklungen ist, hat die Nominallohnfixierung auch Auswirkungen auf das Produktionsniveau der Unternehmen, der Branche und mithin auf die gesamte Volkswirtschaft. Die tarifvertragliche Festlegung von Nominallöhnen gilt für die Dauer der Gültigkeit des Tarifvertrages.

Lohnfixierung: Nominallohnbildung (Interner Link: Grafik zum Download 49 KB) (© bpb)

Die folgende Abbildung illustriert den Prozess der Nominallohnfixierung. Es sei dafür zunächst angenommen, dass stets ein ausreichendes Arbeitspotenzial (Angebot) vorhanden ist, um die Nachfrage seitens der Unternehmen zu befriedigen. Werden die Gleichgewichtsbedingungen für Angebot und Nachfrage für die Lohnbildung nicht berücksichtigt, hat dies Arbeitslosigkeit zur Folge. Das bereits in der vorangegangenen Abbildung hergeleitete Gleichgewicht (A) wird durch die Festlegung eines fixierten Lohnes (WF) verlassen. Dies führt dazu, dass sich das Arbeitsangebot (AS) bis zum Punkt C ausweiten wird - das Potenzial steigt also, während gleichzeitig die Arbeitsnachfrage auf Punkt B absinkt, da die Arbeitgeber nicht bereit sind oder sein können, mehr Beschäftigung aufzubauen. In der Folge entsteht Arbeitslosigkeit in Umfang der Strecke BC.

Dieser Fall wird allerdings nur dann eintreten, wenn die Produktivität der Unternehmen unter der Lohnanpassung signifikant eingeschränkt wird. Das heißt also, es kommt vor allem nur dann zu derartigen Entwicklungen, sollten die gezahlten Löhne den Reservationskosten der Unternehmen für eine Beschäftigung entsprechen, wobei durch eine Erhöhung der Reallohnsätze sofort Entlassungen notwendig würden, um noch rentabel agieren zu können. Üblicherweise verfügen die Unternehmen allerdings noch über eine gewisse Verhandlungsmasse für Lohnsteigerungen im Maße ihrer Renditen. Zudem zeigt die Empirie, dass der überwiegende Teil der Beschäftigten – insbesondere in Deutschland – deutlich über dem Niveau der Tariflöhne entlohnt wird.

Insider-Outsider-Phänomen: Persistente Arbeitslosigkeit als Ergebnis von Lohnbildungsprozessen

Unter rein theoretischen Gesichtspunkten kann – wie die vorangegangenen Ausführungen zeigten - allein die Nominallohnfixierung, die durch Tarifverhandlungen entsteht, zu Arbeitslosigkeit führen. Allerdings kann auch das tarifpolitische Handeln der Beschäftigten selbst zu Arbeitslosigkeit führen, die dann nicht nur kurzfristig durch Produktionsausweitung reduziert werden könnte, sondern persistent (fortdauernd) ist. Ursächlich ist hierfür aus Sicht der neueren Makroökonomie das sogenannte Insider-Outsider-Phänomen.

Dieses wäre dann zu beobachten, wenn sich ein Unternehmen durch ungünstige Marktentwicklungen gezwungen sähe, einen Teil seiner Beschäftigten zu entlassen, um wieder profitabel zu werden. Die noch verbliebenen Beschäftigten hätten die sich verbessernde Unternehmenssituation beobachtet und dies zum Anlass genommen, allein oder vertreten durch die Gewerkschaften, Lohnerhöhungen durchzusetzen. Und zwar in dem Maße, dass das Unternehmen auf einem niedrigeren Produktionsniveau profitabel bleibt, bei Beibehaltung der nunmehr vorhandenen Beschäftigtenzahl. Gegenüber dem Ausgangszustand blieb das Unternehmen zwar profitabel, jedoch wurde das Beschäftigungsniveau gesenkt. Die zuvor entlassenen Beschäftigten (Outsider) werden nicht wieder eingestellt, dafür die weiterhin Beschäftigten (Insider) höher entlohnt.

Es ist daher zu fragen,

  1. wie und warum es den Insidern gelingt, dies in dieser Weise durchzusetzen, und

  2. wieso es den Outsidern nicht gelingt, den neu gefunden betrieblichen Lohnsatz zu unterbieten und dadurch erneut beschäftigt zu werden.

Das Vorgehen der Insider gleicht einem Vabanquespiel: Sie werden einen Lohn fordern, der einerseits knapp unter dem Niveau bleibt, ab dem sich das Unternehmen gezwungen sieht, statt des Insiders einen Outsider einzustellen und andererseits hoch genug ist, um Neueinstellungen zu verhindern. Durch den Austausch von Insidern durch Outsidern bzw. durch Neueinstellungen entstehen dem Unternehmen typischerweise Fluktuationskosten für die Entlassung der Insider und Einstellungskosten für die Outsider. Diese sind ein entscheidendes Element in der Verhandlung der Insider. Denn immerhin steigern die Fluktuationskosten den Verhandlungsspielraum für die Lohnforderungen der Insider. Zudem können sie selbst die Fluktuationskosten durch geschicktes Verhandeln in die Höhe treiben, indem sie etwa drohen, nicht mit den neu eingestellten Outsidern zusammen zu arbeiten, woraus dem Unternehmen wiederum Beeinträchtigungen der Profitabilität entstünden. Hierdurch ist es den Outsidern gleichzeitig beinahe unmöglich, die Insider im Lohnwettbewerb zu verdrängen. Das Unternehmen wird also durch die Insider massiv beeinflusst und von der Einstellung von Outsidern abgebracht.

Problematisch ist das Auftreten des Phänomens allein schon im Einzelfall – besonders aber dann, wenn es durch das Handeln von Gewerkschaften entsteht. Vertreten die Gewerkschaften lediglich die Interessen der Insider, bleiben die Outsider weiterhin arbeitslos. Aus Sicht der politischen Theorie wäre ein solches gewerkschaftliches Handeln begründbar, zum Beispiel durch das Median-Wähler-Modell. Der Medianwähler ist in diesem Fall der beschäftigte Arbeitnehmer (Insider), seine Interessen gilt es aus Sicht der Gewerkschaften zu vertreten. Dass es dadurch zu Arbeitslosigkeit kommt, wäre in diesem Fall auf den individuellen Egoismus zurückzuführen, nicht aber auf das institutionelle Gebilde der Gewerkschaft.

Zu berücksichtigen ist allerdings, dass die aufgebaute 'Drohkulisse' der Insider, nicht mit Neubeschäftigten kooperieren zu wollen, sich auch nachteilig auf den Nutzen der Insider selbst auswirkt. Und es zeigt sich, dass es tendenziell weniger um die Frage geht, inwieweit alle Insider durch Outsider austauschbar sind, sondern mehr um die Frage, wie viele arbeitslose Outsider neben den vorhandenen Insidern neueingestellt werden können und wie viele Personen gewerkschaftlich organisiert sind.

Aus Sicht von Solow sehen sich die Unternehmen mit der Situation konfrontiert, dass durch das Ausscheiden von Insidern Humankapital und Produktivität verlorengeht. Beides müsste möglichst schnell wieder zurückgewonnen werden. Hieraus folgt, dass die Insider gegenüber jeglichen Neueinstellungen einen Produktivitätsvorsprung haben. Über diesen Produktivitätsvorsprung können die Gewerkschaften argumentieren, dass es aufgrund der verbesserten Geschäftslage zu Lohnerhöhungen kommen müsste. Und zugleich die Lohnforderungen so gestalten, dass die Profitabilität der Unternehmen insoweit reduziert wird, dass eine Produktionsausweitung und die Einstellung von Outsidern unterbleibt. Denn die Insider haben prinzipiell kein Interesse daran, dass der nun gefundene Lohnsatz in wieder schlechteren Zeiten dank der Produktionsausweitung und Einstellung von Outsidern sinkt.

Kurzum: Kommt es zu einem Insider-Outsider-Phänomen, wie es hier dargestellt wird, entsteht aufgrund der Macht der Insider Arbeitslosigkeit, die auch dann nicht abgebaut wird, wenn sich die Geschäftslage der Unternehmen verbessert. Diese Arbeitslosigkeit ist persistent, da das Handeln der Insider langanhaltend ist. Auch wenn es nachvollziehbar erscheint, dass die Insider letztlich nur Lohnerhöhungen und ein stabiles Beschäftigungsverhältnis anstreben, wird das Insider-Outsider-Phänomen gerade unter sozial- und arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten kritisch debattiert.

Kann man das Insider-Outsider-Phänomen überhaupt in Lohnbildungsprozessen in Deutschland beobachten? Hierfür ist zum einen auf den typischen Lohnbildungsprozess zu verweisen. Üblicherweise finden Tarifverhandlungen nicht dezentral zwischen einzelnen Unternehmen und den Gewerkschaften statt, sondern sektoral, also die gesamte Branche umfassend. Auch verhindern die stark unterschiedlichen Kostenstrukturen der Unternehmen, dass es zu einem Insider-Outsider-Phänomen über die gesamten Sektoren kommen kann. Durch die Tarifverhandlungen wird üblicherweise ein einheitlicher branchenweiter Lohnsatz definiert, auf Basis dessen kaum für alle Unternehmen eine Beschäftigung der Insider gesichert wäre – außer wenn die Branche nur aus einem oder sehr wenigen sehr großen Unternehmen bestehen würde.

Zum anderen ist natürlich die Frage nach dem Verhalten der Gewerkschaften zu stellen. Denn eine Facette des Insider-Outsider-Phänomens ist die strukturelle Nicht-Berücksichtigung von Arbeitslosen (Outsidern) gegenüber den beschäftigten Insidern. Lediglich Gewerkschaftsfunktionäre und –mitglieder aus den Betrieben nehmen an den Tarifverhandlungen teil, Arbeitslose hingegen nicht. Aus diesem Grund könnte argumentiert werden, dass die Interessen der Arbeitslosen nicht durch die Gewerkschaften berücksichtigt werden. Diesem Argument widersprechen die vielzähligen Streiks mit dem Ziel, etwa durch Arbeitszeitverkürzung, einen Beitrag zum Abbau der Arbeitslosigkeit zu leisten.

Es zeigt sich also, dass das Insider-Outsider-Phänomen ausgehend von den strukturellen Gegebenheiten in Deutschland und auch angesichts des realen Agierens der Gewerkschaften im Rahmen von Lohnbildungsprozessen nicht per se unterstellt werden kann. Auch konnte bislang die angenommene Macht der Insider in Lohnbildungsprozessen in empirischen Untersuchungen (noch) nicht eindeutig nachgewiesen werden.

Urabstimmung der IG Metall zur 35-Stunden-Woche 1984. (© AP)

Anatomie der Tarifauseinandersetzung: Das Beispiel der baden-württembergischen Metall- und Elektroindustrie 2012

Tarifverhandlungen in Deutschland sind äußerst komplexe und mitunter langwierige Verfahren. Verhandelt wird im Regelfall auf sektoraler, aber auch auf betrieblicher Ebene. Ergebnisse beider Verhandlungsebenen wirken sich direkt auf die Lohnbildung aus. Insofern sind sie für hochindustrialisierte Volkswirtschaften von erheblicher Bedeutung. Dies trifft im besonderen Maße auf Deutschland zu. Jedes Jahr – meist bereits in der ersten Jahreshälfte – finden daher die Tarifverhandlungen zwischen den Gewerkschaften und Arbeitgebern statt.

Wie es zu einem Tarifvertrag kommt, illustriert in sehr guter Weise das Beispiel der Tarifauseinandersetzung zwischen der Industriegewerkschaft (IG) Metall Baden-Württemberg und der Südwestmetall (Arbeitgeberseite) aus dem Jahre 2012. In dieser Tarifverhandlung für die Beschäftigten der baden-württembergischen Metall- und Elektroindustrie einigten sich Südwestmetall und die IG Metall Baden-Württemberg auf eine Steigerung der Entgelte um 4,3 Prozent ab dem 1. Mai 2012 bis zum 30. April 2013. Zudem wurden Vereinbarungen zur Berufsausbildung und zur Leiharbeit getroffen.

Kündigung des Tarifvertrages aus 2011 und Verhandlungseinstieg durch die IG Metall

Fristgerecht hatte die IG Metall Baden-Württemberg zum 31.3.2012 die Entgelttarifverträge sowie die Ausbildungsvergütungen und Regelungen zur Übernahme von Auszubildenden gekündigt. Daraufhin wurde die Tarifverhandlung eingeleitet. Vorangegangen waren Diskussionen und Sondierungen in den Betrieben als auch in der Gewerkschaft selbst, in denen man sich über die Forderungen einig wurde und auf dessen Grundlage die durch die Gewerkschaft eingesetzte Tarifkommission (Betriebliche Gewerkschaftsfunktionärinnen und –funktionäre der relevantesten Betriebe des Tarifbereichs) zur Beschlussfassung kam.

Die IG Metall fundierte ihre Verhandlungsposition auf drei Forderungen:

  • Erhöhung der Entgelte und Ausbildungsvergütung um 6,5 % bei einer Laufzeit von 12 Monaten.

  • Unbefristete Übernahme von Ausgebildeten, einschließlich der dual Studierenden, sowie die Verbesserung des Ausbildungszuganges für benachteiligte Jugendliche.

  • Schaffung von Regelungen zur Ausweitung der Rechte der Betriebsräte beim Einsatz von Leihbeschäftigten in Betrieben der Metall- und Elektroindustrie (wirksames Zustimmungsverweigerungsrecht und Abschluss von freiwilligen Betriebsvereinbarungen).

Diese Forderungen wurden der Südwestmetall übermittelt, die die Arbeitgeber der Metall- und Elektroindustrie im Tarifbezirk Baden-Württembergs vertritt. Zwischen beiden sogenannten Tarifparteien begann nun die Tarifverhandlung. Der Staat greift nicht in die Verhandlung ein und gewährt damit die sogenannte Tarifautonomie der Verhandlungspartner. Wenngleich er natürlich die Mindestnormen für Arbeitsbedingungen gesetzlich definiert – also einen Rahmen vorgibt.

Reaktion der Südwestmetall

Südwestmetall lehnte die Forderungen, in Übereinstimmung mit den Interessen ihrer Mitgliedsunternehmen, ab. Sie argumentierten, dass die Forderungen jeder Grundlage entbehrten und sich nachteilig auf die weitere Produktivität der Metallindustrie Baden-Württembergs auswirken würden. Konkret wurde den Forderungen entgegengehalten, dass

  • das Ausmaß der Forderungen für die wirtschaftliche Entwicklung der Unternehmen in den letzten Jahren zu hoch und daher nicht nachvollziehbar sei,

  • gesamtwirtschaftliche Risiken der Metallindustrie nicht berücksichtigt würden, so wären die Forderungen der IG Metall vergangenheitsbezogen und sie würden nicht die zukünftigen Erwartungen für die Branche berücksichtigen,

  • zudem seien die Forderungen nach unbefristeten Übernahmen von Auszubildenden, als auch die Verstärkung der Beteiligungsrechte des Betriebsrates hinsichtlich des Einsatzes von Leiharbeitnehmern nicht passfähig mit der aktuellen und erwarteten Entwicklung der Branche.

Aufruf zu Demonstrationen und Warnstreiks

Durch diese Entgegnung sah sich die IG Metall Anfang Mai 2012 – unter Wahrung der mindestens einmonatigen Friedenspflicht nach Auslaufen des alten Tarifvertrages - veranlasst, zu Demonstrationen aufzurufen, denen sich Warnstreiks in den Betrieben anschlossen, um Druck auf die Unternehmen der Südwestmetall auszuüben.

Einlenken der Südwestmetall und Gegenvorschläge

Die Demonstrationen und Warnstreiks führten zu Störungen in den Unternehmen und hatten entsprechende Wirkungen auf die Arbeitgeberseite. Um keinen Arbeitskampf seitens der IG Metall zu provozieren, durch den die Betriebsabläufe der Unternehmen sicher weitaus stärker beeinträchtigt worden wären, lenkte Südwestmetall in der dritten Tarifrunde ein und unterbreitete der IG Metall folgende Vorschläge:

  • Reallohnsteigerung für die Beschäftigten durch eine Tabellenerhöhung um 3 Prozent für eine Laufzeit von 14 Monaten,>

  • Zustimmung dafür, die Situation der Leiharbeiter durch branchenspezifische Vergütungszuschläge zu verbessern. Allerdings wurden weitere Einschränkungen abgelehnt.

  • Ausweitung der tariflichen Begrenzung der 40-Stunden-Quote um 12 Prozentpunkte und der gesetzlichen Optionen für sachgrundlose Befristungen per Tarifvertrag um jeweils 12 Monate.

  • Verbesserung der Einstiegsmöglichkeiten für benachteiligte Jugendliche in eine Berufsausbildung und eine mit der IG Metall gemeinsame Entwicklung von Modellen durch praktische und schulische Förderung von Ausbildungsmöglichkeiten, die konkret in den regionalen Kontext eingepasst sind.

  • Stärkung des auch arbeitgeberseitigen Ziels, Ausgebildete wie bisher möglichst auch unbefristet einzustellen, aber Ablehnung eines Anspruchs auf unbefristete Übernahme.

  • Eintritt in gemeinsame Gespräche zwischen Südwestmetall und IG Metall zu den zukünftigen Herausforderungen der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württembergs nach Ende dieser Tarifrunde. Themen: demografische Entwicklung, Fachkräfteknappheit, branchenweiter Strukturwandel.

In diesen Vorschlägen sah die IG Metall allerdings keine Lösungen, sprach von einer "Verzögerungshaltung" und "Mogelpackung" der Südwestmetall und lehnte die Vorschläge allesamt ab. Für die Arbeitgeberseite wäre nun zu befürchten gewesen, dass die Gewerkschaft zu einem Arbeitskampf aufruft. Dies ist jedoch in Deutschland, so auch in diesem Beispiel, tatsächlich eher unüblich. Stattdessen wird parallel zu den Verhandlungen Druck aufgebaut, indem es zu kurzfristigen Arbeitsniederlegungen und Warnstreiks kommt, um somit die Verhandlungsbereitschaft der Arbeitgeberseite zu erhöhen.

Verhandlungsrunde 5 und Pilotabschluss

Nachdem nun beide Seiten Vorschläge und Gegenvorschläge eingebracht hatten, traf man sich am 15. Mai 2012 zur 5. Verhandlungsrunde. In dieser 20-stündigen Verhandlung näherte man sich zwar in einigen wichtigen Punkten an, jedoch konnte kein tragfähiges Gesamtergebnis erreicht werden.

Deshalb wurde für den 18. Mai 2012 die 6. Verhandlungsrunde vereinbart. Diese führte nach intensiven Verhandlungen zu einer Kompromisslösung und einem Pilotabschluss.

Ergebnisse des Pilotabschlusses

  1. Vereinbarungen zu Entgelten und Ausbildungsvergütungen
    Zunächst einigte man sich (mit Wirkung ab dem 01. Mai 2012) auf eine Erhöhung der Tariftabellen um 4,3 Prozent. Bis zum 01. Mai 2012 galten die Tabellen aus dem vorangegangenen Tarifvertrag weiter. Die Laufzeit dieser Vereinbarung betrug 13 Monate (1. April 2012 bis 30. April 2013). Der neue Tarifvertrag wurde damit nicht nur zukünftig wirksam, sondern trat auch rückwirkend in Kraft. So knüpft er direkt an den vorangegangenen Vertrag an. Um die "tarifliche" Lücke zu überbrücken, die während der Verhandlungszeit entstanden ist, vereinbarten die Verhandlungsparteien für April 2012 einen sogenannten "Nullmonat", in dem die bisherige Tarifvergütung unverändert gezahlt wurde.

    In den Regelungen über die Entgelthöhen wurde also ein Kompromiss beider Seiten, leicht zu Gunsten der Forderungen der Südwestmetall gefunden. Die Forderung der IG Metall belief sich auf 6,5 Prozent, die der Südwestmetall auf 3 Prozent und das Ergebnis war eine Steigerung der Tariftabellen um 4,3 Prozent. Auf Seiten der Unternehmen führte diese Vereinbarung zu einer Steigerung der Lohnkosten um 3,43 Prozent für 2012 bzw. vier Prozent für die Gesamtlaufzeit.

  2. Vereinbarungen zur Übernahme Ausgebildeter
    Im zweiten Punkt wurde vereinbart, dass im Rahmen der betriebsspezifischen Personalplanungen zwischen Betriebsrat und Betriebsleitung grundsätzlich über den Ausbildungsplatzbedarf beraten wird. Ein ohnehin typisches und nach dem Betriebsverfassungsgesetz vorgesehenes Verfahren der Personalplanung. Dies wurde allerdings nun tarifvertraglich weiter ergänzt: Betriebsleitung und Betriebsrat hatten nunmehr eine freiwillige Betriebsvereinbarung abzuschließen, in der noch vor Beginn der Ausbildung der voraussichtliche Auszubildendenbedarf definiert wird. Die Zahl der bedarfsspezifisch Ausgebildeten hatte hieraus einen Anspruch auf unbefristete Übernahme. Keinen Anspruch hatten jene Auszubildenden, die über den betrieblichen Bedarf ausgebildet wurden.

  3. Vereinbarungen zum Förderjahr und zur Sozialpartnervereinbarung
    Angesichts der wachsenden Fachkräfteknappheit und der notwendigen Förderung benachteiligter Jugendlicher einigten sich die Tarifparteien auf ein Fördermodell, bestehend aus dem sogenannten Tarifvertrag "Förderjahr" und der Sozialpartnervereinbarung "Vom Einstieg zum Aufstieg". Dieses sollte auch jenen Jugendlichen eine Ausbildung in der Metall- und Elektroindustrie ermöglichen, die sonst keine Chance auf Berufsausbildung in dieser Branche hätten. Der Tarifvertrag regelte die Bedingungen (Dauer der Maßnahmen, Vergütung) für die Umsetzung der in der Sozialpartnervereinbarung detailliert dargelegten Überlegungen und Maßnahmen. Für die Betriebe war die Vereinbarung eine offene Regelung, sie konnten sich also freiwillig am Förderjahr für einen Zeitraum von 12 Monaten beteiligen, und ihnen wurde freigestellt, ob sie die betreffenden Jugendlichen in ein Ausbildungsverhältnis übernehmen.

  4. Vereinbarungen über den Einsatz von Leiharbeitnehmern in den Betrieben
    Die bisherigen tarifvertraglichen Vereinbarungen zur Leiharbeit blieben weitgehend unangetastet. Zulässig blieben die Regelungen zum vorübergehenden Einsatz von Leiharbeitnehmern im Rahmen des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes.

    Neu war allerdings, dass die Nutzung zeitlich eingeschränkt wird, sollten sich die Betriebsparteien auf betrieblicher Ebene nicht über den Einsatz von Leiharbeit einigen können. Sollten also zum Beispiel Leiharbeitnehmer über 24 Monate beschäftigt werden, hatten sie auf Grundlage des neuen Tarifvertrages zumindest den Anspruch auf ein Übernahmeangebot in ein festes Arbeitsverhältnis. Dieses Angebot müsste sechs Monate vor Ablauf der 24-monatigen Beschäftigung durch das entleihende Unternehmen geprüft werden.

    Neu war darüber hinaus, dass durch den neuen Tarifvertrag definiert wurde, dass Leiharbeitnehmer nur nach Zustimmung durch den Betriebsrat (gem. § 99 BetrVG) beschäftigt werden dürfen. Auch dies galt nur dann, wenn keine freiwillige Betriebsvereinbarung über den Einsatz von Zeitarbeitskräften besteht, die dies anders regelte.

  5. Vereinbarung über eine beiderseitige Gesprächsverpflichtung zum demografischen Wandel und zum Fachkräftemangel
    Mit der Vereinbarung über eine beiderseitige Gesprächsverpflichtung zum demografischen Wandel und zum Fachkräftemangel wurde vor allem der Forderung der Südwestmetall gefolgt. Vereinbart wurde hierbei, dass sich Vertreterinnen und Vertreter der IG Metall und der Südwestmetall zusammenfinden, um sich über die Herausforderungen des demografischen Wandels und der zunehmenden Fachkräfteknappheit zu verständigen und hierüber Implikationen auf die Unternehmenssituationen und Entwicklung der Metall- und Elektroindustrie in Baden-Württemberg und Deutschland zu diskutieren. Vorgeschlagene Themen waren unter anderem:

    • Sicherung einfacher und Förderung qualifizierter Tätigkeiten in Deutschland

    • Zukunft industrienaher Dienstleistungen sowie

    • altersgerechte, differenzierte und flexible Arbeitszeitmodelle unter Berücksichtigung der demografischen Entwicklung.

Zusammenfassend zeigt sich, dass der Prozess der Tarifverhandlungen 2012 in der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württembergs zu einem beiderseitig zufriedenstellenden Ergebnis führte. Damit war gerade dieser Prozess beispielhaft für die typischerweise in Deutschland stattfindenden Tarifverhandlungen. Rein tarifrechtlich hat der Tarifvertrag für 2012/2013 allerdings nur Wirkung für die Mitglieder der Vertragsparteien. Faktisch finden seine Inhalte aber auch auf alle Nichtmitglieder der verhandelnden Gewerkschaft und Arbeitgeberverbände Anwendung. Denn es werden in den Tarifverträgen ja die Höhen und Strukturen von Löhnen und Gehältern, aber auch Arbeitszeiten, Urlaubsaspekte sowie der Inhalt, Abschluss oder die Beendigung von Arbeitsverhältnissen, sonstige Arbeitsbedingungen, Laufzeit des Tarifvertrags geregelt.

Ausgehend von den Vereinbarungen auf der sektoralen Ebene bestehen selbstverständlich auf der betrieblichen Ebene große Handlungsspielräume. Die auf sektoraler Ebene definierten Lohnsteigerungsraten sind nur das Mindestmaß. Den Betriebsparteien steht es frei, in ihren Verhandlungen höhere Raten zu vereinbaren. In Deutschland war dies über lange Zeit üblich. Die sogenannte Lohndrift (Differenz zwischen Tarif- und Effektivlohn) war bis in die 1990er Jahre noch spürbar – und auch heute zahlen viele deutsche Unternehmen noch weit über dem Tariflohn, gerade auch in der süddeutschen Metall- und Elektroindustrie. Allerdings fand eben auch in den 1990er Jahren eine Trendumkehr statt. Immer weniger Unternehmen zahlen übertarifliche Löhne. Die Effektivlöhne nähern sich folglich immer weiter den Tariflöhnen an.

Durchsetzung tariflicher Lohnvereinbarungen: das Instrument der Vergütungsordnung

Vergütungsordnungen sind die Grundlagen der betrieblichen Arbeitsbewertung. Kommt es zum Abschluss eines Tarifvertrages, werden tarifliche Vergütungssysteme in den Betrieben aufgebaut und der Arbeitgeber kann sich betriebsverfassungsrechtlich verpflichten, die Vergütungsordnung anzuwenden. Auf dieser Grundlage erfolgt eine Eingruppierung der Arbeitnehmer in das vorhandene Vergütungssystem. Der Arbeitgeber hat auch dann die Vergütungsordnung aufrechtzuerhalten, wenn zum Beispiel keine Tarifbindung des Unternehmens mehr besteht. Nur im Falle, dass der Betriebsrat zustimmt, dürfte die Vergütungsordnung außer Kraft gesetzt werden.

In den Tarifverträgen werden dazu Allgemeine Bestimmungen über Eingruppierung und Eingruppierungsgrundsätze im Rahmen der Vergütungsordnung definiert. Während die allgemeinen Bestimmungen auf den gesetzlichen Rahmen der Vergütung abstellen und die Bedeutung des Betriebsrates im betriebsverfassungsrechtlichen Rahmen betonen, definieren die Eingruppierungsgrundsätze explizit, wie die Vergütungsordnung betrieblich anzuwenden ist. Darüber hinaus finden sich ebenso die Entgeltgruppen des Vergütungssystems, um die qualifikationsspezifische Bewertung der Arbeitsleistungen kriteriengeleitet vorzunehmen und letztlich sind die Entgeltstufen definiert, die die Höhe der Entgelte festlegen.

In den vorangegangenen Ausführungen wurde bereits dargestellt, dass der Tarifvertrag rein tarifrechtlich nur für Gewerkschaftsmitglieder gilt. Faktisch allerdings auch Nicht-Gewerkschaftsmitglieder durch die Regelungen beeinflusst werden. Dies ist auch angesichts der Ausgestaltung der Regelungen nachvollziehbar. Allerdings hebelt gerade die Frage nach der Eingruppierung von Beschäftigten in die Vergütungsordnung diesen Punkt häufig aus. So haben in der Vergangenheit etliche Unternehmen mit dem Verweis auf das Tarifrecht versucht, Beschäftigte, die nicht Mitglied der tarifschließenden Gewerkschaften waren, nicht in das tarifliche Vergütungssystem einzugruppieren. Stattdessen wurden diesen Beschäftigten frei getroffene Vergütungsformen angeboten. Wird so in breiter Weise verfahren, werden die tarifvertraglichen harten Regelungen (Entgelthöhen) letztlich ausgehebelt, da sie nur noch Anwendung für die Gewerkschaftsmitglieder finden. Die Vermutung, das Unternehmen den Regelungen des Tarifvertrages mit einer zunehmenden Einstellung von Nicht-Gewerkschaftsmitgliedern prinzipiell auszuweichen versuchen, wäre dahingehend naheliegend.

Im Jahre 2011 wandte sich ein Betriebsrat eines Unternehmens, in dem exakt so verfahren wurde, an das Bundesarbeitsgericht (BAG). Das Unternehmen hatte versucht, einen neu eingestellten Beschäftigten außerhalb der geltenden Vergütungsordnung zu vergüten und dies mit dem Hinweis auf die Nicht-Mitgliedschaft der Neueinstellung begründet. Da allerdings eine Vergütungsordnung existierte, hätte der Arbeitgeber aus Sicht des Betriebsrates die Neueinstellungen gemäß des Gehaltstarifvertrages vergüten und in die tarifliche Vergütungsordnung eingruppieren müssen, auch wenn diese kein Mitglied der tarifschließenden Gewerkschaft ist. Zudem sah der Betriebsrat auch sein nach §99 Abs. 1 BetrVG bestehendes Mitbestimmungsrecht verletzt, das vorsah, dass der Betriebsrat bei einer Eingruppierung anzurufen sei.

Vor dem BAG erhielt der Betriebsrat Recht, nachdem das zuständige Arbeitsgericht und auch das Landesarbeitsgericht den Antrag abgewiesen hatten. Das BAG berief sich in seiner Urteilsfindung auf §87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG, wonach der Arbeitgeber gegenüber dem Betriebsrat verpflichtet ist, sämtliche Beschäftigte in die existierende Vergütungsordnung einzugruppieren. Auch gab das BAG dem Betriebsrat Recht, dass der Arbeitgeber gemäß §99 BetrVG das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates missachtet hatte (BAG, Beschluss vom 18. Oktober 2011, 1 AZR 25/10). Damit ist der BAG von seiner bisherigen Rechtsprechung abgewichen.

Bedeutungszunahme von Leistungskomponenten in Tarifverträgen

Neben der Entgelthöhe und Regelungen zur Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen finden sich in Tarifverträgen, insbesondere in jenen für den öffentlichen Sektor, zunehmend häufiger Aspekte zur Ausgestaltung von Leistungskomponenten. Ziel der Leistungskomponenten ist es, Leistungsbereitschaft, Motivation und das Verantwortungsbewusstsein der Arbeitnehmer zu steigern – sowie überdurchschnittlich Leistungsfähige entsprechend zu entlohnen. Es werden finanzielle Leistungsanreize gesetzt, um überdurchschnittliche Leistungen anzuerkennen. Solche Instrumente sind in der Privatwirtschaft nicht unbekannt und finden sich in einer Vielzahl von Vergütungssystemen wider. Mit dem wachsenden Eingang in Tarifverträgen – insbesondere im öffentlichen Sektor - gewinnen sie nun auch zunehmend im tariflichen Bereich an Bedeutung.

Klassisch sind drei Arten von Leistungskomponenten, die sich in Tarifverträgen finden lassen:

  1. Leistungsentgelt: Leistungsbezogener Entgeltanteil, der in Form einer jährlich einmaligen Leistungsprämie, einer befristeten Leistungszulage oder einer ertragsabhängigen Erfolgsprämie an die Beschäftigten ausgeschüttet wird. Hiermit werden also überdurchschnittliche Leistungen der Beschäftigten variabel und leistungsorientiert vergütet.

  2. Leistungsbezogener Stufenaufstieg: Eine dauerhaft erhebliche Leistung wird durch einen beschleunigten Aufstieg (Verkürzung der erforderlichen Zeit, um eine Entgeltstufe zu erreichen) in den Entgeltstufen angereizt. Denkbar ist hierbei umgekehrt auch, dass es zu einem Stufennichtaufstieg kommt, wenn die Leistung unterdurchschnittlich ist. Insofern ein sehr wirksames bonus-malus-System.

  3. Darüber hinaus werden gerade im öffentlichen Bereich "Führung auf Probe" und "Führung auf Zeit" angewendet, um Leistungsanreize für eine stärkere Verantwortungsübernahme durch die Beschäftigten zu setzen.

Natürlich sind mit dem Einsatz von Leistungskomponenten Risiken verbunden. So ist es fraglich, ob eine hinreichende Verteilmasse zur Verfügung steht, um das Leistungsentgelt zu entrichten. Nicht selten ist es in den Unternehmen zu beobachten, dass es zwar überdurchschnittliche Leistungsträger gibt, dennoch die Verteilmasse aufgrund ungünstiger Geschäftslage zu gering ist, um eine adäquate leistungsorientierte Bezahlung zu gewährleisten. Dies würde mit großer Wahrscheinlichkeit demotivieren und hätte dann den gegenteiligen Effekt dessen, was eigentlich durch die Leistungskomponenten erreicht werden soll. Von der Größe der Verteilmasse ist letztlich also die Wirkung abhängig. Kritisch ist auch der Punkt zu sehen, wie die überdurchschnittliche Leistung gemessen wird, welches Bewertungssystem zu Grunde liegt und wie dies gegenüber den Beschäftigten kommuniziert wird. Sind die Bewertungen nicht nachvollziehbar, entstehen Fragen und ggfs. fühlen sich die Beschäftigten in ihrer Leistungsbereitschaft nicht hinreichend reflektiert.

Zukunft der des Tarifvertrages in einer globalisierten Welt

Das vorangegangene Kapitel zeigte, dass Tarifverträge nach wie vor eine hohe Bedeutung für die betriebliche und branchenspezifische Lohnbildung besitzen. Obgleich festzustellen ist, dass die Bedeutung von Flächentarifverträgen in den letzten Jahren sank. Besonders trifft dies auf die sogenannten "harten" Regelungen im Tarifvertrag, wie der Lohnbildung zu, während die "weichen" Regelungen in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewannen.

Warum ist das so? Die insbesondere in den letzten 20 Jahren mit großer Dynamik entwickelten und angewendeten Öffnungs- und Härtefallklauseln führten dazu, dass von den einheitlichen Regelungen des Tarifvertrages abgewichen werden konnte. Im Ergebnis existiert nun ein kaum überschaubares Spektrum von höchst ausdifferenzierten Regulierungen und betrieblichen Umsetzungsverfahren. Dieser gewollten Flexibilisierung trat mit den betriebsspezifischen "Standortpakten" eine weitere, jedoch ungesteuerte Form hinzu, die die Bedeutung von Tarifverträgen reduziert. Während im oben beschriebenen Fall eine starke Differenzierung der Regulierungen ursächlich war für den Bedeutungsverlust von Tarifverträgen, ist hierfür in erster Linie eine starke Dezentralisierung hinunter auf die betriebliche Ebene anzuführen. "Standortpakte" werden auf betrieblicher Ebene verhandelt. Sie sind so angelegt, dass ganz bewusst gegen tarifliche Vereinbarungen verstoßen wird, indem den Beschäftigten angetragen wird, auf Lohn zu verzichten und Arbeitszeit zu erhöhen, um den Standort und damit die Arbeitsplätze zu sichern.

Angesichts dessen kamen in den letzten Jahren verstärkt Diskussionen auf, wie Arbeitsverhältnisse und Entgelthöhen für Beschäftigte zukünftig geregelt werden sollten. Diskutiert wird einerseits, das Tarifkartell aufzulösen und die Interessenvertretung auf Ebene der Beschäftigten zu individualisieren. Dadurch würde der Tarifvertrag nur ein absolutes Minimum an Regelungen und betrieblichen Vereinbarungen enthalten. Andererseits besteht der klare Wille, den Tarifvertrag in seiner jetzigen Form und Bedeutung beizubehalten, zu modernisieren und zu stärken.

Allerdings sind nicht nur die deutschen bzw. nationalen Entwicklungen für den Bedeutungsverlust von Tarifverträgen verantwortlich zu machen. Vielmehr fordert eine zunehmend globalisierte Welt das tarifpolitische System Tarifverhandlung heraus. Wenn, wie etwa in Europa, ökonomische Integrationsprozesse vollzogen werden, die Austauschbeziehungen auch in politischer Hinsicht immer intensiver und dichter werden und sich harmonisieren, dann liegt der Schluss nahe, dass auch die Tarifpolitik harmonisiert werden müsste. Zudem verweisen die Arbeitgeber auf die zunehmenden internationalen Verflechtungen ihrer Markt-, Wettbewerbs- und Unternehmensstrukturen, wodurch aus ihrer Sicht eine höhere Flexibilität in der Tarifgestaltung angezeigt wäre.

In den Tarifauseinandersetzungen zwischen den Gewerkschaften und den Unternehmen wird von Seiten der Arbeitgeber genau dieser Punkt gern und häufig mit Verweis auf die Sicherung des Standortvorteils und der Wettbewerbsfähigkeit angeführt. Im Wettbewerb mit angeblich günstigeren Produktionsbedingungen im Ausland könnte man nur dann durch geringere Entgelthöhen, flexiblere Arbeitszeitregelungen und einen stärkeren Abweichen von tariflichen Vereinbarungen bestehen. Diese Argumente nutzen die Unternehmen auch, um gegenüber den Beschäftigten vor Ort Zugeständnisse in der Entlohnung und Arbeitszeitvereinbarung abzuringen ("Standortpakte"). Verschärft hat sich diese Problematik noch seit der Einführung des Euros, da die nationalen Tarifstandards unter Druck geraten sind, wodurch sich die Lohn- und Arbeitszeitkonkurrenz erhöhte. Insofern wäre eine Reform des Tarifvertrages auch nicht nur national beschränkt, sondern müsste supra- bzw. international erfolgen.

Aufgrund dessen europäisierte sich die gewerkschaftliche Arbeit in den letzten Jahren erheblich. Die deutschen Gewerkschaften gingen zum Beispiel länderübergreifende Zusammenarbeiten mit französischen, belgischen, niederländischen oder polnischen Gewerkschaften ein. Ein gutes Beispiel ist die Initiative von Doorn, in der sich der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) gemeinsam mit dem belgischen und niederländischen Gewerkschaftsbünden für ein Abschlussvolumen einsetzte, um Preisanstiege und Produktivitätszunahme über entsprechende Lohnerhöhungen zu kompensieren. Die stärkere Vernetzung der Gewerkschaften über Landesgrenzen hinweg, ist sicher ein erstes probates Mittel, um auf den Einfluss der Globalisierung angemessen zu reagieren und so Harmonisierungen in der Tarifpolitik herbeizuführen, die grenzüberschreitendes Lohndumping verhindern und eine angemessene Sicherung der Arbeitsverhältnisse zwischen den Ländern sichern.

Trotz dieser Entwicklungen wird die Tarifpolitik auch zukünftig überwiegend national gestaltet werden. Zwar ist eine internationale Koordinierung möglich, aber aktuell sind noch keine Ansätze für grenzüberschreitende Tarifvereinbarungen in Sicht. Gründe liegen vor allem in der Verschiedenheit der nationalen Tarifsysteme – auch und gerade zwischen den europäischen Staaten. So gesehen steht die Tarifpolitik vor zwei großen Herausforderungen, will sie ihre Bedeutung auch in einer globalisierten Welt wahren. Einerseits sind die Gewerkschaften gezwungen, sich international zu koordinieren, andererseits geht der aktuelle Trend eher zu einer tarifpolitischen Verbetrieblichung mit Haus- und Firmentarifverträgen.

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Guido Zinke ist als Seniorberater für den öffentlichen Sektor bei Kienbaum Management Consultants in Berlin tätig. Im Auftrag der EU-Kommission, verschiedener Bundes- und Landesministerien sowie von Kommunen und Verbänden berät, evaluiert und forscht er vor allem zu wirtschafts-, arbeitsmarkt- sowie umwelt- und technologiepolitischen Fragestellungen.