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Hintergrund: Berufliche Bildung | Arbeitsmarktpolitik | bpb.de

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Hintergrund: Berufliche Bildung

Kathrin Schultheis Stefan Sell Lena Becher

/ 10 Minuten zu lesen

Eine qualifizierte Berufsausbildung erhöht die Chance auf eine gut bezahlte Beschäftigung und langfristige Aufstiegschancen. Berufliche Qualifizierung kann durch betriebliche sowie schulische Berufsausbildung, durch "training on the job" oder durch eine akademische Ausbildung an Hochschulen erreicht werden. Die sektorale Wirtschaftsstruktur Deutschlands hat zur Folge, dass grundsätzlich eine ausgeprägte Nachfrage an ausgebildeten Fachkräften in allen Wirtschaftssektoren vorhanden ist. Das deutsche Ausbildungssystem ist ein kollektives Ausbildungssystem: Ein hohes Engagement der öffentlichen Hand trifft auf ein ebenso starkes betriebliches Engagement.

Im Berufsschulzentrum "August von Parseval" in Bitterfeld erhalten 4.500 Schüler/Auszubildende Unterricht in verschiedenen Fachrichtungen und Schulformen. (© AP)

Eine systematische Berufsausbildung hat in Deutschland traditionell einen hohen Stellenwert. Derzeit (2020) existieren 325 staatliche anerkannte Ausbildungsberufe in Deutschland. Während die Berufsausbildung in Betrieben auf die längste Tradition zurückblicken kann, hat sich auch die vollzeitschulische Berufsausbildung – vor allem in den Berufen des Gesundheits- und Sozialwesens – seit Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend etabliert. Heute stehen die duale Berufsausbildung und die Berufsausbildung im Schulberufssystem ebenbürtig nebeneinander. Erst seit relativ kurzer Zeit, nämlich seit 2006, gilt das Übergangssystem als dritte Säule der Berufsausbildung. Das Übergangssystem umfasst dabei alle (Berufs-)Bildungsmaßnahmen, die für Personen angeboten werden, die die allgemeine Schulpflicht beendet haben und (noch) nicht in eine Berufsausbildung einmünden konnten. Im so genannten Übergangssystem wird eine Vielzahl von Bildungsgängen angeboten, die eine berufliche oder persönliche Qualifizierung vermitteln sollen und die Eingliederung in eine Berufsausbildung zum Ziel haben. Der Gesetzgeber sieht hierzu auch finanzielle Fördermöglichkeiten vor. Sie führen die Teilnehmenden jedoch nicht zu einem vollwertigen Berufsabschluss.

Kennzeichnend für das deutsche Berufsausbildungssystem ist das hohe öffentliche Engagement. Die öffentliche Hand trägt nicht nur einen Großteil der Kosten für die vollzeitschulischen Berufsausbildungsgänge, sondern beteiligt sich auch maßgeblich an der dualen Berufsausbildung. Das öffentliche Engagement drückt sich überwiegend durch die Bereitstellung finanzieller Mittel aus: Berufsschulen, Lehrpersonal und Unterrichtsmaterial sowie die dazugehörige Infrastruktur werden den Betrieben und Auszubildenden kostenlos zu Verfügung gestellt. Die Betriebe übernehmen die Kosten der praktischen Berufsausbildung in ihren eigenen und externen Betriebsstätten und die Personalkosten (inkl. der Kosten für Auswahl der Auszubildenden sowie für Ausbildungsvergütungen). Zudem stellen sie sicher, dass die Ausbildungsinhalte den zentral festgelegten Standards entsprechen, die der Sicherung einer bundesweiten Vergleichbarkeit der durch die Berufsausbildung erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten und somit der Einhaltung von Qualitätsstandards dienen. Das duale System der Berufsausbildung wird aufgrund der Kooperation von Unternehmen und öffentlicher Hand auch als kooperatives System bezeichnet, welches in Deutschland durch das Berufsprinzip geprägt ist: Auszubildende werden frühzeitig in einem konkreten Berufsbild ausgebildet und spezialisieren sich auf ebendieses. Gleichermaßen erhalten die Auszubildenden aufgrund der zu großen Teilen bundesweit einheitlichen Zertifizierung der Berufsausbildung betriebsübergreifende Kenntnisse, sodass nach Berufsabschluss eine Mobilität der Nachwuchsfachkräfte innerhalb ihres erlernten Berufs betriebsübergreifend weitestgehend hindernisfrei möglich ist. 2020 hat die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in ihrem Bildungsbericht Externer Link: Bildung auf einen Blick 2020 der dualen Berufsausbildung einen besonderen Stellenwert zugemessen. Sie erhalte „ein starkes berufspraktisches Element, das den Absolventen im Allgemeinen die besten Arbeitsmarktergebnisse garantiert.“ Verbesserungsbedarf gibt es nach Ansicht der OECD bei den vergleichsweise geringeren Verdienstmöglichkeiten im Vergleich zu einer akademischen Qualifikation. Das duale System der Berufsausbildung eröffnet insbesondere Personen mit niedrigen und mittleren Schulabschlüssen berufliche Perspektiven, die idealtypisch auf die dauerhafte Integration in einem Betrieb ausgerichtet sind. Es verfügt also über eine besondere Integrationsfunktion.

Besondere Integrationsfunktion der dualen Berufsausbildung

Dem dualen System der Berufsausbildung wird eine besondere Integrationskraft zugeschrieben. Dies wurde seitens der OECD im Bericht “Externer Link: Unlocking the Potential of Migrants in Germany” zuletzt in Hinblick auf die Integration von Migranten und Geflüchteten in den deutschen Arbeitsmarkt erneut bestätigt: Auch im Vergleich mit anderen Ländern habe sich die Praxisnähe im deutschen dualen System als positiver Faktor herausgestellt. Forschungsberichte aus dem Bereich der "Varieties of Capitalism"-Forschung, die sich mit den unterschiedlichen Spielarten des Kapitalismus beschäftigt, machen zudem deutlich, dass das Innovationsvermögen des deutschen Produktionssystems in erheblichem Maß auf das System der dualen Berufsausbildung zurückzuführen sei.

Die Integrationsfunktion des dualen Ausbildungssystems lässt aber mit sinkendem Qualifikationsniveau der Schulabsolventinnen und -absolventen nach: Die Schülerschaft gewinnt zunehmend an Heterogenität und Jugendliche mit einer bestimmten sozialen oder kulturellen Sozialisation können in Verbindung mit schwierigen Bildungskarrieren kaum noch eine Berufsausbildung aufnehmen, weil sie keinen Ausbildungsbetrieb finden. Dies führt Manfred Kremer, ehemaliger Präsident des Bundesinstituts für berufliche Bildung (BiBB), mitunter auf das selektive Schulsystem zurück. Möglicherweise muss die erzieherische Funktion der Berufsausbildung in den Ausbildungsbetrieben wieder hervorgehoben werden, die sie in Zeiten eines Überangebots (guter) Ausbildungsbewerber/-innen in der Vergangenheit vernachlässigen konnten. Manfred Kremer schlägt vor, das deutsche Ausbildungssystem durch eine Höherbewertung der vollzeitschulischen Berufsausbildung konjunkturresistenter zu gestalten.

Eine nachlassende Integrationsfunktion bescheinigt auch der Deutsche Gewerkschaftsbund dem dualen System. In seinem Ausbildungsreport 2020 konstatierte er: "Im letzten Jahr hatten 2,12 Millionen Jugendliche im Alter zwischen 20 und 34 Jahren keinen Berufsabschluss. Doch ohne Berufsabschluss drohen oftmals prekäre Beschäftigung und Niedriglöhne. Fatal ist zudem, dass nur noch knapp jedes fünfte Unternehmen in Deutschland überhaupt ausbildet. Binnen eines Jahrzehnts sind mehr als 50.000 Ausbildungsbetriebe verloren gegangen. Auch die DAX-30-Konzerne haben die berufliche Ausbildung zurückgefahren."

Das duale System der Berufsausbildung zeichnet sich auch durch eine Trägheit gegenüber Fortschritt und Anpassung aus. Eben gerade weil jeder Ausbildungsberuf bundesweiten Standards entspricht, ist eine Anpassung von Ausbildungsinhalten nicht in den Betrieben möglich. Weiterführende Lehrgänge zur Vermittlung spezifischer Kenntnisse können von den Ausbildungsbetrieben zwar durchgeführt und angeboten werden, jedoch werden sie nicht im Rahmen des Ausbildungsberufes sondern gesondert zertifiziert. Um die Berufsausbildung zu flexibilisieren wurden bereits in der Vergangenheit Ausbildungsordnungen prozessorientierter gestaltet. Um diese Entwicklung weiter und effektiver voranzutreiben schlugen Brötz et al. bereits 2008 vor, Ausbildungsberufe zusammenzufassen und anhand von Berufsfamilien zu ordnen. Auf diese Weise sollen Auszubildende einer Berufsfamilie gemeinsam unterrichtet werden können und die Berufsausbildung von den Betrieben besser koordiniert werden. Ziel ist es auch, dass Ausbildungsabsolventinnen und -absolventen leichter Berufe ergreifen können, die der gleichen Berufsfamilie angehören, wie der von ihnen erlernte Beruf. Bisher ist die berufsübergreifende Berufsausbildung innerhalb von Berufsfamilien jedoch nur wenig verbreitet.

Die Entscheidung zu einer Berufsausbildung oder zu einem Studium nimmt hat einen starken Einfluss auf die durchschnittlichen Verdienste nach Eintritt in die Erwerbstätigkeit. Marc Piopiunik, Franziska Kugler und Ludger Wößmann berechneten 2017 auf Basis des Mikrozensus die durchschnittlichen Lebensverdienste abhängig vom höchsten formalen Bildungsabschluss. Sie stellten fest, dass die höchsten Durchschnittseinkommen von Personen mit einem Hochschulabschluss erzielt wurden. Absolventen von Fachhochschulen liegen dem zweiten Platz. Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung erzielen durchschnittlich das geringste Einkommen: Sie erzielten weniger als die Hälfte des durchschnittlichen Lebensverdienstes der Absolventen von Hochschulen (siehe Abbildung). Wie sich die Einkommenssituation langfristig bei steigenden Akademikerzahlen und einer abnehmenden Zahl von Auszubildenden entwickeln wird bleibt offen.

Berufsprinzip

Die berufliche Bildung in Deutschland folgt dem Berufsprinzip. Es ist ein Konzept, auf dem Ausbildungsberufe beruhen. Auszubildende werden in vertraglich festgelegten Berufen ausgebildet und erlernen die für den jeweiligen Ausbildungsberuf verbindlich festgelegten Fertigkeiten. Nach der Ausbildungszeit sind die Fachkräfte dazu in der Lage, eine Tätigkeit auszuüben, die (überwiegend bundesweit) standardisierte Kenntnisse erfordert. Diese Fachkenntnisse können sie betriebsübergreifend anwenden. Absolventen einer Berufsausbildung, die dem Berufsprinzip folgt, verfügen also einerseits über spezielle Fachkenntnisse, andererseits jedoch auch über generalisierte (standardisierte) Kenntnisse, die es ihnen ermöglichen, ihre Berufstätigkeit bei verschiedenen Arbeitgebern auszuüben. Durch den Nachweis ihres Berufsabschlusses erkennen Arbeitgeber, über welche Kenntnisse eine Bewerberin oder ein Bewerber verfügt und können daher den Wert der Arbeitskraft relativ gut einschätzen ohne sie individuell feststellen zu müssen.

Sengenberger (1987) hat die Theorie eines dreigeteilten Arbeitsmarkts entwickelt. Der deutsche Arbeitsmarkt zeichnet sich durch das Vorherrschen des berufsfachlichen Segments aus. Das bedeutet, dass der überwiegende Teil des Arbeitsmarktes den Nachweis von zertifizierten Belegen über die beruflichen Kenntnisse der Arbeitnehmer/-innen erfordert. Arbeitnehmer/-innen, die über ein solches Zertifikat, z.B. einen Gesellenbrief verfügen, können im Bereich ihres Spezialgebiets, also im Bereich eines Teilarbeitsmarktes, weitgehend mobil agieren und ihre Arbeitskraft unterschiedlichen Unternehmen anbieten, die diese auch nachfragen und verwerten können. Der unstrukturierte Arbeitsmarkt stellt ein anderes Segment dar. Ein unstrukturierter Arbeitsmarkt ist von unqualifizierter Tätigkeit geprägt. Das dritte Segment nach Sengenberger stellt das betriebsinterne Segment dar. Das betriebsinterne Segment zeichnet sich durch das Vorhandensein von überwiegend betriebsspezifischen Fachkenntnissen aus, die nur durch einen geringen Mobilitätsgrad gezeichnet sind. Die betriebsspezifischen Kenntnisse werden von anderen Betrieben nicht oder nicht in der vorhandenen Form nachgefragt, sodass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer keine Betriebswechsel anstreben.

Recht auf Ausbildung

In Deutschland herrscht Schulpflicht. Damit soll gewährleistet werden, dass Kinder und Jugendliche eine allgemeinbildende Schule besuchen und grundlegende Kenntnisse und Fertigkeiten erlernen. Die Schulpflicht wird staatlich sichergestellt und durchgesetzt. Der Zugang zur Berufsausbildung wird im Gegensatz zur Schulpflicht zu großen Teilen marktlich organisiert. Das heißt, dass sich die Schüler/-innen auf dem Ausbildungsmarkt um Lehrstellen bewerben und gegen Mitbewerber/-innen durchsetzen müssen. Ein individuelles Recht auf Berufsausbildung existiert in Deutschland hingegen nicht. Allerdings besteht die (gesellschaftliche und wirtschaftliche) Erwartung, dass alle Gesellschaftsmitglieder den eigenen Neigungen und dem Leistungsvermögen entsprechend eine Berufsausbildung absolvieren. Zweifelsohne ist die Berufsausbildung – wie bereits dargelegt – ein Grundstein des deutschen Arbeitsmarktsystems. Die Implementation eines Rechts auf berufliche Erstausbildung wird dennoch gefordert: Selbst bei guter wirtschaftlicher Lage und einem Ausbildungsstellenangebot, das das Bewerberangebot quantitativ übersteigt, gelingt es nicht allen Ausbildungssuchenden, eine Berufsausbildung aufzunehmen. Dafür lassen sich vielzählige Gründe annehmen. So könnten beispielsweise Angebot und Nachfrage inhaltlich nicht übereinstimmen: dDie Berufsbilder der angebotenen Ausbildungsstellen entsprechen nicht den von den Ausbildungssuchenden angestrebten Ausbildungsberufen. Möglich ist auch, dass Betriebe Ausbildungssuchenden fehlende Ausbildungsreife unterstellen, weshalb sie trotz vakanter Ausbildungsstellen nicht ausgebildet werden könnten. Gerade, wenn Ausbildungsstellen unbesetzt bleiben und gleichzeitig Ausbildungssuchende keine Ausbildungsstelle finden können, wird die Einführung eines individuellen Rechtsanspruchs auf berufliche Erstausbildung diskutiert. Volkmar Herkner, Professor für Berufspädagogik an der Universität Flensburg, hat die Möglichkeit zur Einführung eines solchen Rechtsanspruchs untersucht. Um ein Recht auf Berufsausbildung durchsetzen zu können, bedarf es seinen Ausführungen nach vier Kriterien:

  1. Availability: Das Ausbildungsplatzangebot muss ausreichen, um allen Ausbildungsplatzsuchenden eine Ausbildungsstelle bieten zu können.

  2. Accessibility: Der Zugang zu den Ausbildungsstellen muss gewährleistet sein. Hier ist insbesondere die individuelle Mobilität der Ausbildungssuchenden anzuführen, das Lehrstellenangebot muss also geografisch weitestgehend zur Nachfrage passen. Zudem müssen die angebotenen Lehrstellen diskriminierungsfrei und unentgeltlich zur Verfügung gestellt werden (physischer, psychischer und ökonomischer Zugang).

  3. Acceptability: Das Ausbildungsstellenangebot muss mindestens annähernd der Nachfrage entsprechen, d.h. die angebotenen Ausbildungsstellen müssen zumindest in der Nähe der gesuchten Wunschberufe liegen und die Ausbildungsbedingungen zumutbar sein.

  4. Adaptability: Ausbildungsberufe müssen individuell wahrgenommen werden und adaptierbar sein. So kann etwa das Angebot von Berufsausbildung in Teilzeit oder individueller ausbildungsbegleitender Unterstützung Ausbildungssuchenden in besonderen Lagen die Integration in Berufsausbildung und den erfolgreichen Berufsabschluss ermöglichen.

Anhand dieser Kriterien wird klar, dass selbst eine gute Arbeitsmarkt- und Ausbildungsmarktlage nicht ausreichend ist, um ein individuelles Recht auf Ausbildung durchsetzen zu können. Die Leitfragen müssen deshalb selbst bei quantitativ ausreichendem Ausbildungsangebot sein: Ist der Ausbildungsplatz erreichbar und inwieweit kann von Auszubildenden eine bundesweite (europaweite) Mobilität verlangt und unterstellt werden? Passt das Ausbildungsplatzangebot zu den Neigungen und Fähigkeiten der Ausbildungsplatzsuchenden und wie kann ein passgenaues Angebot gestaltet werden, dass gleichzeitig dem Fachkräftebedarf entspricht? Wie können Ausbildungsplatzsuchende, die eine Berufsausbildung nicht in Vollzeit aufnehmen können (z.B. Alleinerziehende, körperlich und/oder psychisch weniger belastbare Personen) oder die besondere ausbildungsbegleitende Hilfen für den erfolgreichen Berufsabschluss benötigen (z.B. Kurse zur Verbesserung der Sprachkenntnisse, sozialpädagogische flankierende Leistungen, Nachhilfeunterricht) dennoch eine Berufsausbildung beginnen?

QuellentextElke Hannack (DGB)

„Die berufliche Bildung befindet sich in einer Abwärts-Spirale. Die Zahl der betrieblichen Ausbildungsplätze in Industrie und Handel, aber auch im Handwerk sinkt deutlich. Zugleich wenden sich weniger Jugendliche als Ausbildungsplatz suchend an die Bundesagentur für Arbeit. Und schon heute signalisieren große Betriebe, dass sie auch im kommenden Jahr weniger ausbilden wollen. Der beruflichen Bildung droht ein dauerhafter Bedeutungsverlust mit noch weniger Ausbildungsbetrieben und weniger Jugendlichen in Ausbildung.“

Stellvertretende DGB-Vorsitzende Elke Hannack, 29.10.2020. Externer Link: www.dgb.de/presse/++co++0a7b89d2-19bd-11eb-93be-001a4a16011f

Herkner untersuchte zudem, unter welchen Bedingungen ein individuelles Recht auf Ausbildung implementierbar ist und stellt seine Ergebnisse folgendermaßen dar:

Die tabellarische Übersicht bietet einen guten ersten Überblick über denkbare Weiterentwicklungen des deutschen Berufsausbildungssystems. Der Ausbau der vollzeitschulischen Berufsausbildung wurde jedoch Anfang der 2010er Jahre in einigen Bundesländern zugunsten der dualen Systems gestoppt und das Angebot sogar reduziert (siehe Kapitel zum Schulberufssystem). Die Einstiegsqualifizierung hingegen wurde als Instrument konzipiert, das die Absolventen auf die Aufnahme einer Berufsausbildung vorbereiten soll und daher ein duales Angebot zum schulischen Berufsgrundschuljahr darstellt. In beiden Fällen erkennen die Arbeitgeber die Lerninhalte des "trainings on the job" aber nur selten als ausbildungsrelevante anrechenbare Kenntnisse an, sodass sich annehmen lässt, dass Betriebe in Deutschland derzeit (noch) nicht in großem Umfang an einer Ablösung des dualen Systems durch "training on the job" interessiert sind.

Das Recht auf Berufsausbildung in der Form einer Ausbildungsgarantie wurde auch von der Bertelsmann Stiftung untersucht. In Zusammenarbeit mit neun Bundesländern und der Bundesagentur für Arbeit erarbeitete Prof. Dr. Klaus Klemm im Auftrag der Stiftung bereits 2011 das Konzept "Übergänge mit System". Ziel dieses Konzeptes ist es, Warteschleifeneffekte des Übergangssystems zu vermeiden, allen Ausbildungssuchenden eine berufliche Erstausbildung anzubieten und möglichst viele Auszubildende zu einem Berufsabschluss zu führen. Sie stellen fest, dass die Umsetzung des Konzeptes Mehrausgaben von rund 1,5 Mrd. Euro pro Jahr bedeuten würden. Dies entspricht rund 11.000 Euro Mehrkosten je zusätzlichem Auszubildenden. Diese Mehrkosten stehen jedoch wiederum Mehreinnahmen wie Lohnsteuer Sozialversicherungsbeiträge gegenüber, die sich insbesondere langfristig positiv auf die öffentlichen Haushalte auswirken würden.

Prof. Dr. Jutta Allmendinger errechnete 2011 Mehreinnahmen von 22.000 Euro je zusätzlichen Ausbildungsabsolventen über einen Zeitraum von 25 Jahren. Verglichen damit würde die Bilanz der Ausbildungsgarantie schlussendlich positiv zu bewerten sein. Die Einnahmen würden jedoch überwiegend nicht den Bundesländern zufließen, die jedoch die Mehrkosten tragen müssten. Dieses Missverhältnis von Kosten und Einnahmen ist auf die "föderale Finanzierungsverflechtungsfalle" zurückzuführen: Kostenträger und Profiteur stimmen nicht überein. Auch fast ein Jahrzehnt nach der Veröffentlichung der hier vorgestellten Erhebungen und trotz anhaltender Fürsprache für die Einführung einer Ausbildungsgarantie seitens des DGB, der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und der Bertelsmann Stiftung, wurde diese bis dato nicht in Deutschland eingeführt.

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Kathrin Schultheis ist Sozialwissenschaftlerin und war von 2012 bis 2015 am Institut für Bildungs- und Sozialpolitik (IBUS) der Hochschule Koblenz beschäftigt. Seit August 2015 ist sie als Projektleiterin für das ESF-Bundesprogramm "Bildung, Wirtschaft, Arbeit im Quartier" am Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung tätig.

ist Professor für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften an der Hochschule Koblenz. E-Mail Link: sell@hs-koblenz.de

ist Politikwissenschaftlerin, seit Juni 2020 Beraterin in der Abteilung Arbeitsgestaltung und Fachkräftesicherung bei der G.I.B. mbH. Zuvor war sie von April 2017 bis Mai 2020 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialpolitik und Arbeitsmarktforschung der Hochschule Koblenz (ISAM) und verantwortliche Redakteurin von Externer Link: O-Ton Arbeitsmarkt.