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Brexit: Für Großbritannien härter als für die EU | Europäische Wirtschaftspolitik | bpb.de

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Brexit: Für Großbritannien härter als für die EU

Nicolai von Ondarza

/ 9 Minuten zu lesen

Die schlimmsten Befürchtungen sind nicht eingetreten. Dennoch war der Brexit eine herbe Zäsur, vor allem für die Britinnen und Briten. Die Pandemie und der Krieg in der Ukraine haben gezeigt, wie stark das Vereinigte Königreich und die EU aufeinander angewiesen sind, analysiert der Politologe Nicolai von Ondarza.

Auch in Großbritannien sind die Verbraucherpreise zuletzt so stark gestiegen wie seit Jahrzehnten nicht mehr, besonders die Preise für Lebensmittel. Den Britinnen und Briten drohen zusätzliche Einschnitte wegen der Brexit-Folgen. (© picture-alliance, ZUMAPRESS.com / Hesther Ng)

Der britische Austritt aus der Europäischen Union (EU) ist ein einschneidender Prozess, sowohl für das Vereinigte Königreich als auch für die Union. Auch mehr als zwei Jahre nach dem formellen Vollzug des Brexit fällt eine Bilanz komplex aus. Erschwert wird sie durch die Covid-19-Pandemie und den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, der die europäische Ordnung mindestens ebenso massiv beeinflusst hat. Dennoch lässt sich festhalten, dass der Brexit zwar für die EU einen herben Verlust darstellte, Großbritannien aber politisch wie wirtschaftlich noch nachhaltiger verändert hat.

Aus politischer Perspektive markierte der Brexit für die EU einen historischen Einschnitt. Mit dem formellen Austritt am 31. Januar 2020 hat zum ersten Mal in der Geschichte ein Mitglied die EU verlassen – und damit demonstriert, dass die europäische Integration keine Einbahnstraße ist. Zwar war Großbritannien schon vorher der EU-Staat mit den meisten Ausnahmeregelungen und Interner Link: Opt-Out-Klauseln. Nun hat die Union aber ihr sowohl nach Bevölkerungsgröße als auch nach Wirtschaftskraft zweitgrößter Mitgliedstaat verlassen, wodurch sie wirtschaftlich, politisch und kulturell geschrumpft ist.

Besonders deutlich zeigt sich der Verlust beim russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Denn das Vereinigte Königreich bleibt als ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat, mit seinen engen Beziehungen zu den USA und dem – zumindest vor der "Zeitenwende" – größten Verteidigungshaushalt der europäischen Nato-Staaten ein wichtiger Akteur in Europas Sicherheitsarchitektur.

2022 gehört London zu den stärksten Unterstützern der Ukraine und hat eigene Sicherheitspartnerschaften mit mehreren nordischen sowie mittel- und osteuropäischen EU-Staaten geschlossen. Eine strukturierte Zusammenarbeit mit der EU hat London bisher abgelehnt, sich aber mit der EU und den USA bei den Sanktionen gegen Russland und der Unterstützung für die Ukraine eng abgestimmt.

Dominoeffekt von Austritten aus der EU ist ausgeblieben


Auf der anderen Seite ist der befürchtete Dominoeffekt von Austritten aus der EU ausgeblieben. Seit der britischen Volksabstimmung von 2016 war ein Austritt in keinem anderen EU-Mitgliedstaat Thema. Im Gegenteil, nach den negativen Erfahrungen der Britinnen und Briten und dem politischen Chaos in London haben sich auch führende EU-Gegnerinnen und -Gegner wie Marine Le Pen in Frankreich oder Giorgia Meloni und Matteo Salvini in Italien zumindest rhetorisch vom Ziel eines EU- und/oder Euro-Austritts verabschiedet. Parallel ist die Zustimmung zur Mitgliedschaft in der Union europaweit gestiegen.

Dabei ist die EU in keiner Frage der vergangenen Jahre so einig aufgetreten wie bei den Brexit-Verhandlungen. Auch wenn die Differenzen der EU-27 in anderen Fragen gewaltig bleiben, bei den Gesprächen mit London konnte die EU durchweg mit einer Stimme sprechen. Alle Mitgliedstaaten haben die Verhandlungsführung von EU-Brexit-Chefunterhändler Michel Barnier unterstützt. Alle einte das Interesse, den EU-Binnenmarkt und den Zusammenhalt der EU-27 zu schützen. Politisch hat der Austritt der Briten zudem den Weg für Einigungen freigemacht, die sonst blockiert worden wären. Dies war besonders in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik wie auch beim Corona-Wiederaufbaufonds zu beobachten.

Anders sieht es in Großbritannien aus. Der Brexit hat das Land tief gespalten und zu einer der turbulentesten politischen Perioden der jüngeren britischen Geschichte geführt, mit bislang zwei vorgezogenen Neuwahlen, drei Rücktritten der Premierminister David Cameron, Theresa May und 2022 auch Boris Johnson sowie zahlreichen historischen Niederlagen der Regierung im Parlament.

Beim Referendum keine klare Vorstellung vom Brexit


Ausgangspunkt der politischen Krise im Vereinigten Königreich war zunächst der knappe Ausgang des Referendums. Mit 52 zu 48 Prozent sprach sich eine knappe Mehrheit der Britinnen und Briten für den EU-Austritt aus. Eine Mehrheit hatte der Brexit vor allem im ländlichen England und Wales, während sich die Bevölkerung in Schottland, Nordirland sowie vielen englischen Städten für den Verbleib aussprach. Hinzu kam, dass es beim Referendum keine klare Vorstellung vom Brexit gab. Bis Ende 2019 wurde daher darüber gerungen, wie weit sich das Land von der EU, ihrem Binnenmarkt und der Zollunion entkoppeln – oder ob sogar ein zweites Referendum stattfinden sollte.

In diesem Prozess setzten sich am Ende innerhalb der konservativen Partei ("Tories") und bei den vorgezogenen Neuwahlen im Dezember 2019 unter Führung von Boris Johnson diejenigen durch, welche eine möglichst klare Trennung von der EU forderten. Unter dem Motto "Get Brexit Done" ("Den Brexit durchziehen") und befördert durch das britische Wahlsystem konnte Johnson eine absolute Mehrheit erreichen und den harten Brexit durchsetzen.

Dieser Siegeszug der Brexiteers hat die konservative Partei und die politische Kultur Großbritanniens verändert. Viele moderate Konservative, die sich für eine engere Zusammenarbeit mit der EU ausgesprochen hatten, wurden aus Fraktion und/oder Partei gedrängt.

Parallel hat sich die Partei auch in kulturellen Fragen nach rechts bewegt, dafür aber sozio-ökonomisch insbesondere in der Corona-Pandemie mehr Unterstützungsleistungen befürwortet. Mit dieser Strategie hat die konservative Partei viele ehemalige Labour-Wähler gewonnen und das Gleichgewicht zwischen der sozialdemokratischen Labour Party und den Konservativen nachhaltig zu ihren Gunsten verändert.

Fast die Hälfte der Briten hält Brexit für Fehler


Der Brexit ist seit dem deutlichen Wahlsieg der Konservativen im Dezember 2019 im Land politisch akzeptiert. Keine der großen Parteien stellt den EU-Austritt an sich mehr in Frage oder befürwortet öffentlich eine Rückkehr in die EU. Auch Labour kritisiert die Regierung nur dafür, den Brexit nicht richtig umzusetzen. Dabei bewertet die Bevölkerung den Brexit keineswegs als Erfolg: Eine stabile Mehrheit von knapp 50 Prozent hält den Brexit mittlerweile für einen Fehler, gegenüber knapp 40 Prozent, die den Austritt weiterhin für richtig halten.

Langfristig gefährdet der Brexit den Zusammenhalt im Land. Die schottische Bevölkerung hatte sich 2016 mit 62 Prozent für den Verbleib in der EU ausgesprochen. Aus Sicht der in Schottland regierenden Scottish National Party (SNP) wurde Schottland gegen seinen Willen aus der EU gerissen und zum harten Brexit gezwungen. Die Partei fordert daher ein neues Unabhängigkeitsreferendum in der zweiten Jahreshälfte 2023. Die Zustimmung zur schottischen Unabhängigkeit ist im Zuge des Brexits gestiegen und hat sich bei 50 zu 50 eingependelt. Ob und wann ein zweites Unabhängigkeitsreferendum stattfinden kann, ist offen, mit Verweis auf die Abstimmung von 2014 lehnt die britische Regierung ein erneutes Votum bislang ab.

Nordirland-Frage als Schwierigkeit des Brexit-Prozesses


Noch einschneidender war der Brexit für Nordirland, dessen Bevölkerung ebenfalls mehrheitlich für den Verbleib in der EU gestimmt hatte. Der Umgang mit Nordirland und die Frage, wie die Grenze zum EU-Mitglied Irland offengehalten werden kann, welche die einzige Landgrenze Großbritanniens zur EU darstellt und zudem eng mit dem nordirischen Friedensprozess verbunden ist, wurde zu einem der schwierigsten Aspekte des Brexit-Verhandlungsprozesses. Während Theresa May für die Einheitlichkeit des Königreichs einen weicheren Brexit in Kauf nehmen wollte, setzte Boris Johnson seinen harten Brexit mit dem so genannten Nordirland-Protokoll durch.

Demnach erhält Nordirland einen Sonderstatus, bei dem viele Regeln des EU-Binnenmarkts dort weitergelten und die Zollkontrollen zwischen Nordirland und Großbritannien in der Irischen See stattfinden. Diese Regelung hat es ermöglicht, Kontrollen an der Grenze zu Irland zu verhindern und Nordirland ein größeres Wirtschaftswachstum als dem Rest des Königreichs außer London beschert. Allerdings verschiebt sich die wirtschaftliche Verflechtung Nordirlands schrittweise von Großbritannien zu Irland und der EU, so dass das Protokoll von nordirischen Unionisten, aber auch den Brexiteers abgelehnt wird.

Die britische Regierung fordert die Neuverhandlung des Protokolls und drohte im Sommer 2022 sogar, das Protokoll und damit auch den EU-Austrittsvertrag notfalls einseitig zu brechen. Weder ist derzeit eine Einigung mit der EU noch eine Rückkehr zu einer funktionsfähigen Regierung in Nordirland in Sicht.

Wirtschaftlich ein tiefer Einschnitt


Am stärksten hat sich der Brexit im wirtschaftlichen Verhältnis zwischen der EU und Großbritannien ausgewirkt. Die EU bleibt im Kern eine Wirtschaftsgemeinschaft, und Großbritannien hat mit dem Brexit auch EU-Binnenmarkt und EU-Zollunion verlassen. Vor dem Austrittsreferendum hat die "Remain"-Kampagne dabei primär mit wirtschaftlichen Argumenten und Szenarien von großen Wohlstandsverlusten versucht, die Britinnen und Briten vom Verbleib in der EU zu überzeugen.


Bei der Bewertung der wirtschaftlichen Folgen ist zunächst zu betonen, dass sich die Regierung von Boris Johnson für eine möglichst klare Trennung von der EU entschieden hatte. Im Spektrum der möglichen wirtschaftlichen Beziehungen der Union zu Drittstaaten hat sich das Land in der Folge deutlich stärker abgekoppelt als etwa Norwegen (fast vollständige Teilnahme am Binnenmarkt über den Europäischen Wirtschaftsraum), die Schweiz (bilaterale Verträge), die Türkei (Zollunion) oder die Ukraine.

Ein "No-Deal Brexit", der Austritt ohne jegliche Regelungen, konnte nach harten Verhandlungen gerade noch verhindert werden. Stattdessen haben Brüssel und London im Dezember 2020 ein Handels- und Kooperationsabkommen geschlossen, das neben dem Austrittsabkommen von Januar 2020 die Beziehungen auf eine neue Basis stellt. Wirtschaftlich setzt es an Stelle der früheren Binnenmarkt- und Zollunionteilnahme ein Freihandelsabkommen, in dem es zwar weder Zölle noch Mengenbeschränkungen zwischen der EU und Großbritannien gibt, aber zahlreiche reguläre nicht-tarifäre Handelshemmnisse und Grenzkontrollen wieder eingeführt wurden.

Etwa 47 Prozent der britischen Exporte gehen in die EU. Dennoch wurde der Handel mit diesem mit Abstand wichtigsten Handelspartner erheblich erschwert, ebenso wie paneuropäische Lieferketten. Deutlich eingeschränkt wurden auch die Möglichkeiten für EU-Europäer, in Großbritannien zu arbeiten – und andersherum. Da der Wechsel von der Brexit-Übergangsphase zum neuen Handelsabkommen im Januar 2021 erfolgte, also mitten in der Covid-19-Pandemie, sind die genauen wirtschaftlichen Konsequenzen nur schwer von den Folgen von Pandemie und Lockdown-Maßnahmen zu trennen.


Der britische Think Tank CER geht davon aus, dass die britische Wirtschaft heute etwa fünf Prozent kleiner ist als sie es ohne Brexit gewesen wäre. Deutlich bemerkbar macht sich der Austritt vor allem beim britischen Export in die EU, den Direktinvestitionen und bei der britischen Produktivität. Dies führte allerdings eher zu einer Verlangsamung des Wirtschaftswachstums und einem langfristigen Rückgang wirtschaftlicher Dynamik; ein massiver, einmaliger Einbruch, wie ihn die Pandemie ausgelöst hat, blieb aus. Langfristig geht die britische Haushaltsbehörde dennoch davon aus, dass die wirtschaftlichen Folgen des Brexit gravierender als diejenigen der Pandemie sein werden.

Die Pandemie erschwert auch ein genaues Beziffern der wirtschaftlichen Auswirkungen des Brexit auf die EU. Für die meisten EU-Staaten ist Großbritannien zwar ein wichtiger Handelspartner, in der Bedeutung aber nicht vergleichbar mit derjenigen der EU für das Vereinigte Königreich. Teilausnahme Irland: Trotz seiner engen Wirtschaftsbeziehungen zu Großbritannien konnte das Land seine Exporte 2021 dennoch so stark steigern, dass die irische Wirtschaft um 13,5 Prozentpunkte zulegte.

Für Deutschland lässt sich vor allem eine Verlagerung von Handelsströmungen weg von Großbritannien beobachten. So ist das Land in der Liste der wichtigsten Handelspartner Deutschlands von Platz drei im Jahr 2015 auf Platz zehn im Jahr 2021 gefallen. Insgesamt hat die EU zwar das Volumen der britischen Wirtschaft eingebüßt, bis dato sind die Einbußen für die einzelnen EU-Ländern aber wie erwartet deutlich geringer als diejenigen für Großbritannien.


EU-UK-Beziehungen bleiben angespannt


Auch sechs Jahre nach dem Brexit-Referendum bleibt das Verhältnis zwischen Vereinigtem Königreich und der Europäischen Union angespannt. Nach dem Siegeszug der Brexiteers in Großbritannien wurde 2020 erst der formelle Brexit vollzogen und dann mit dem Handels- und Kooperationsabkommen eine Basis für die Zusammenarbeit geschaffen.

Doch die Beziehungen sind deutlich distanzierter geworden, der Handel zwischen EU und Briten zurückgegangen. Auch Johnsons Nachfolgerin, Liz Truss, wurde im September 2022 vor allem mit Unterstützung der harten Brexit-Befürworter in der Partei zur Chefin der Konservativen und damit Premierministerin gewählt. Sie will den Brexit-Kurs von Johnson fortführen, insbesondere beim Nordirland-Protokoll droht sie weiter mit einem einseitigen Bruch des Vertragswerks.

Die EU-UK-Beziehungen bleiben also angespannt. Trotzdem könnte der britische Regierungswechsel genutzt werden, um – auch mit Blick auf die schwierige wirtschaftliche Lage in Großbritannien und der EU – einen neuen Verhandlungsversuch zu unternehmen. Denn die kooperative Zusammenarbeit im Bereich der Sanktionen gegen Russland hat gezeigt, dass Europa eine funktionierende und partnerschaftliche Kooperation zwischen der Europäischen Union und Großbritannien braucht.

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Nicolai von Ondarza ist promovierter Politikwissenschaftler und Stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe EU/Europa bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.
E-Mail Link: E-Mail Link: nicolai.vonondarza@swp-berlin.org