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Algerien | Kriege und Konflikte | bpb.de

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Algerien

Luca Miehe

/ 9 Minuten zu lesen

Die Auseinandersetzungen zwischen der Protestbewegung "Hirak" und der Regierung um die Zukunft des Landes nach dem erzwungenen Rücktritt des Langzeitpräsidenten Bouteflika im April 2019 bestimmen das aktuelle Konfliktgeschehen in Algerien. Dadurch drohen alte Konflikte wieder aufzubrechen.

Anhänger der Protestbewegung Hirak demonstrieren für politische Veränderungen in Algerien, 10.04.2021 (© picture-alliance, abaca | Ammi Louiza)

Aktuelle Situation

Algerien, das flächenmäßig größte Land Afrikas, befindet sich nach dem Sturz des Langzeitpräsidenten Abdelaziz Bouteflika (1937-2021) im April 2019 in einer fragilen Übergangsphase. Die Massenproteste wurden durch seine Ankündigung ausgelöst, eine fünfte Amtszeit anzustreben. Bouteflika hatte sich schon 2013 nach einem Schlaganfall aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und regierte das Land seitdem über ein Geflecht von Seilschaften in Politik, Wirtschaft, Militär und Geheimdienst.

Die "Hirak" genannte Protestbewegung (Hirak = Bewegung) fordert einen radikalen Bruch mit der bisherigen Politik, eine Erneuerung der gesamten politischen Klasse und die Errichtung eines zivilen Staates.

Doch der Ausgang der Präsidentschaftswahlen im Dezember 2019 und die neue Verfassung, die am 1. November 2020 in einem Referendum angenommen wurde, sprechen eher für eine Weiterführung der Bouteflika-Ära als für einen Aufbruch. Neuer Präsident wurde der 75-jährige Abdelmajid Tebboune, Minister und Premierminister unter Bouteflika. Der Urnengang wurde begleitet von massiven Protesten, die zur Annullierung des Abstimmungsprozesses in zahlreichen Provinzen führten. Die neue Verfassung wurde zwar mit rd. 67 % angenommen, doch nach einem Boykottaufruf des Hirak beteiligten sich gerade einmal 24 % der Wahlberechtigten – bis zu diesem Zeitpunkt ein historischer Minusrekord.

Die neue Verfassung, die eine Fülle an kosmetischen Änderungen enthält, lässt die große Machtfülle des Präsidenten unangetastet; er ernennt den Premierminister, die Regierungsmitglieder, ein Drittel des Senats, Richter und die Verantwortlichen der Sicherheitsorgane (Henni-Moulaï 2020). Auch sind einige der von der Regierung angekündigten Reformen keineswegs neu. So war die Begrenzung der präsidentiellen Amtszeiten auf zwei Legislaturen bereits Teil der Verfassung von 2016; sie war allerdings nie umgesetzt worden.

Präsident Tebboune und seine Regierung stecken wegen den umstrittenen Wahlen, der völlig unzureichenden Verfassungsreform und der miserablen Wirtschaftslage in einer tiefen Legimitationskrise. Nachdem die Protestbewegung aufgrund der Covid-19-Pandemie vorübergehend in den digitalen Raum verbannt worden war, hat Anfang 2021 eine neue Mobilisierungsphase begonnen. Doch fehlt der Bewegung weiterhin eine erkennbare Führungsstruktur, welche die Zielkonflikte im Innern bearbeiten und die Forderungen nach außen vermitteln könnte. Gleichzeitig nehmen Medienzensur und Verhaftungen von Aktivistinnen und Journalisten zu.

Bei den Parlamentswahlen am 12. Juni 2021 versuchte die neue Regierung, Handlungsfähigkeit zu demonstrieren. Insbesondere von einer aktiven Regionaldiplomatie im Sahel und im benachbarten Libyen erhofft sie sich internationale Aufwertung. Auch hier spielt das Militär eine herausgehobene Rolle. Ihm wird in der neuen Verfassung erstmals das Recht auf "die Entsendung von Einheiten" ins Ausland eingeräumt und so mit der traditionellen Militärdoktrin der Nichteinmischung gebrochen. Der Kurswechsel wird von Regierung und Militär vor allem mit der Notwendigkeit einer stabilen und starken Führung und der "terroristischen Bedrohung" durch die regionalen Ableger von IS und al-Qaida (AQIM ) in Mali und anderen Sahel-Staaten begründet. Die deutliche Kritik an der "Kolonialpolitik" des benachbarten Kontrahenten Marokko in der Westsahara zielt darauf ab, den Rückhalt von Präsident und Regierung in der Bevölkerung zu stärken.

Ursachen und Hintergründe

Der aktuelle Konflikt zwischen der Protestbewegung und den Kräften des alten Regimes ist nur zu verstehen, wenn auch die tieferen strukturellen Verwerfungen innerhalb der algerischen Gesellschaft in die Analyse einbezogen werden: (1) die ungeklärte Frage über die Rolle von Islamisten in Politik und Gesellschaft, (2) die mangelnde Integration ethnischer Minderheiten, v.a. der "Berber" (Selbstbezeichnung: Amazigh, plural: Imazighen); (3) die Kluft zwischen dem politischen Machtzentrum im Norden und den vernachlässigten Peripherien im Süden und Osten des Landes sowie (4) die sich zuspitzende sozioökonomische Krise, die zur Verschärfung der Spannungen in allen Konfliktbereichen beiträgt.

(1) Die Divergenzen über die Einbindung von islamistischen Akteuren gehen zurück auf die Öffnungsperiode Ende der 1980er Jahre. Damals versuchte die Regierung, den aufkommenden "Oktoberrevolten" durch eine gesteuerte Öffnung und die Durchführung von Wahlen zu begegnen. Doch als bei den Wahlen im Dezember 1991 die Islamische Heilsfront (FIS) einen Erdrutschsieg erreichte, annullierte die Armee im Januar 1992 die Wahlen und verbot die Partei. Der hieraus resultierende Bürgerkrieg kostete zwischen 100.000 und 200.000 Leben und prägt die algerische Gesellschaft und Politik bis heute. Auf politischer und gesellschaftlicher Ebene erklärt dies den vorsichtigen Umgang mit jeglichen Reformen und Liberalisierungen.

Das Thema gewann erneut an Aktualität, als im Frühjahr 2021 innerhalb des Hirak die Frage diskutiert wurde, wie man sich zu der 2007 von früheren FIS Mitgliedern gegründeten islamistischen Rachad Bewegung verhalten solle (Balaa 2020). Divergenzen und Spaltungen zwischen progressiv-säkularen, konservativen und islamistischen Strömungen innerhalb der Bewegung verhindern eine gemeinsame Interessensartikulation und stärkere Mobilisierung. Eine weitgehende Einbindung islamistischer Akteure scheint jedoch vor dem Hintergrund des Traumas des Bürgerkrieges unwahrscheinlich - zumal Algeriens Hoher Sicherheitsrat die Rachad-Bewegung im Mai 2021 als Terrororganisation eingestuft hat (Nadir 2021).

Zwar steht die aktuelle Bedrohung durch dschihadistische Gruppierungen in Algerien in keinem Verhältnis zur Situation in den 1990er Jahren, doch hat die Gewalterfahrung bei der algerischen Zivilbevölkerung tiefe Spuren hinterlassen. Berichte über Waffenfunde oder vermeintliche dschihadistische Schläferzellen sorgen in der Öffentlichkeit für Besorgnis (Kharief 2021). Algeriens südliche Peripherie in der Sahara und die porösen Grenzen bieten ideale Bedingungen für Schmuggler und sind Rückzugsorte für regional aktive Dschihadisten.

(2) Die Konflikte zwischen der arabischen Mehrheitsbevölkerung (ca. 85 % ) und den ethnischen Minderheiten, wie den Berbern, brechen immer wieder auf. Im Jahr 1980 etwa schlugen Sicherheitskräfte den "Berber Frühling" mit brutaler Gewalt nieder. Algeriens Amazigh-Bevölkerung protestierte gegen die kulturelle und ethnische Marginalisierung im Zuge der seit den 1960er Jahren verfolgten "Arabisierungspolitik" (Boudhane 2017). Kämpfe um die offizielle Anerkennung der Sprache der Amazigh ("Tamazight") durch die Verfassung eskalierten periodisch bis in die 1990er Jahre. Die Forderungen wurden von der Hirak-Bewegung aufgegriffen, nachdem das Zurschaustellen der Amazigh-Flagge im Juni 2019 vom Armeechef verboten und mit Gefängnisstrafe von bis zu zehn Jahren belegt worden war. Die seit 2001 aktive Bewegung für die Autonomie der Kabylei (MAK), des geografischen Kerns des Amazigh-Gebiets, wurde im Mai 2021 von der Regierung als Terrororganisation eingestuft (Iddir 2021).

(3) Algeriens ressourcenreiche südliche Peripherie wurde bereits Schauplatz zahlreicher Protestbewegungen, etwa gegen die Schürfung von Schiefergas (2014/2015; 2019) oder mangelnde Beschäftigungsmöglichkeiten (Juli 2021). Ein Grund hierfür ist, dass die finanziellen Erträge kaum bei der lokalen Bevölkerung ankommen, die aber mit den ökologischen Folgeschäden leben muss (Belakhdar 2020). Zuletzt verdeutlichte die Covid-19-Pandemie die gravierenden Mängel in der Bereitstellung öffentlicher Güter (defizitäres Gesundheitswesen, unzureichendes Transportsystem u.v.m.) in den Grenzregionen. Besonders betroffen von mangelnden Entwicklungsperspektiven, politischer Marginalisierung und ökologischen Missständen sind die Tuareg im ariden Süden. Im Juni 2020 kam es nach der Tötung eines jungen Mannes durch Sicherheitskräfte in Tin Zaouatine landesweit zu Solidaritätsbekundungen (Ben Hamad 2020).

(4) Die tiefe Wirtschaftskrise, die durch die Coronavirus-Pandemie noch verschärft wurde, trägt zur Verschärfung der o.g. Konflikte bei. Zwischen 2011 und 2019 brachen die Exporte um ein Drittel ein (Speakman Cordall 2021). Fallende Ölpreise sorgten seit 2014 für steigende Haushaltsdefizite. In der Folge gingen die ausländischen Währungsreserven von 178 Mrd. (2014) auf 42 Mrd. US-Dollar (2021) zurück. Die Weltbank prognostiziert bis 2022 eine Vervierfachung der Schuldenquote auf knapp 90 % des BIP, und sie beschreibt den Privatsektor als "klein, geringfügig produktiv und größtenteils informell".

Die von Präsident Tebboune im Mai 2020 angekündigte Halbierung der Staatskosten ist angesichts der Mehrausgaben für die Pandemiebekämpfung nicht in Sicht. Dies stellt Algerien mit seinen im Vergleich zu anderen OPEC-Staaten hohen Sozialausgaben vor massive fiskalische Probleme (Ratcliffe/Karam/Wardany 2021). Vor diesem Hintergrund verringern sich sowohl die Spielräume für staatliche Zuwendungen zur Erhaltung des sozialen Friedens als auch die Chancen für die Realisierung größerer Reformprogramme. Der Weg aus der politischen Krise ist somit eng mit der ökonomischen Lage des Landes verknüpft.

Bearbeitungs- und Lösungsansätze

Die FLN-Partei bildet die zentrale Säule der "revolutionären Familie", die ihre politische Legitimation aus dem Unabhängigkeitskrieg (1954-1962) ableitet. "Die Macht" (frz.: "Le Pouvoir"), wie die dominierende Elite allgemein genannt wird, stützt sich auf "konkurrierende klientelistische Netzwerke", die von Generälen, Politikern, Bürokraten und Wirtschaftsführern kontrolliert werden (Hawthorne/Werenfels 2019). Nach dem Sturz Bouteflikas versuchten die alten Eliten, die Hirak-Bewegung zunächst durch Reformrhetorik, zahlreiche Dialoginitiativen und Kooptation einzelner Akteure zu besänftigen. Die anfängliche Phase ging nach der Wahl von Präsident Tebboune Ende 2019 in einen von oben gesteuerten Kurs der schrittweisen Eindämmung der Reformbewegung über. Die Regierung sendet zwar immer noch vereinzelte Zeichen der Versöhnung, doch wird deren Aufrichtigkeit von der Protestbewegung bezweifelt, die politische Instrumentalisierung und Spaltungsversuche wittert.

Tebbounes Agenda "Neues Algerien" beinhaltet abstrakte Versprechen der ökonomischen Erneuerung, politischen Öffnung und Korruptionsbekämpfung (Ghanem 2020). Tiefergehende Probleme und Konflikte werden nicht benannt. Mit der Wahlrechtsreform wurden zwar formalrechtliche Grundlagen für ein neues Listensystem für Kandidaten geschaffen. Doch räumen die vagen Formulierungen den Behörden breiten Spielraum für die Verhinderung unerwünschter Kandidaten ein.

Die seit der Unabhängigkeit regierende FLN-Partei ging einmal mehr als Siegerin aus den Parlamentswahlen im Juni 2021 hervor. Doch ihre Legitimität ist bei einer Wahlbeteiligung von nur 23 % sehr schwach. Wie schon beim Verfassungsreferendum hatte die Opposition die Wahlen boykottiert. Trotz Zugewinnen für das Lager der Islamisten und unabhängige Kandidaten sind die verschiedenen oppositionellen Gruppen aufgrund interner Streitigkeiten, mangelnder Führungsstrukturen, staatlicher Repressalien und dem durch die Hirak-Bewegung unterstützten Wahlboykott nicht in der Lage, einen kohärenten Gegenblock zur Regierung zu bilden. Die Konflikte über Nationalität, Wirtschaftsmodelle und Islamismus bleiben so Gegenstand polarisierender öffentlicher Diskurse.

Die Möglichkeit externer Akteure, auf die Konflikte und ihre Bearbeitung Einfluss zunehmen, ist stark begrenzt. Alle Konfliktlager sind sich in der Ablehnung der Einmischung von außen einig. Die größere Bereitschaft der algerischen Führung, sich mit anderen Staaten, darunter mit Frankreich oder der EU, gegen dschihadistische Netzwerke in der Region zu engagieren, führt bislang zu keiner vertieften politischen Kooperation. Insbesondere das Verhältnis zu Frankreich ist angespannt. Die weiterhin unzureichende Anerkennung der Gewalt während der französischen Kolonialherrschaft verstellt den Weg zur bilateralen Aussöhnung.

Geschichte des Konflikts

Die zentralen Wegmarken der modernen Geschichte Algeriens bilden die Schrecken der französischen Kolonialzeit (1830-1962), der Kampf für die Unabhängigkeit und die damit verbundenen Konflikte um die staatliche Ordnung sowie der Bürgerkrieg in den 1990er Jahren. Die Erinnerung an die Kolonialzeit und die als "Schwarze Dekade" bezeichneten 1990er Jahre prägen bis heute maßgeblich den politischen Diskurs. So können der strikte Souveränitätsanspruch und die mangelnde Bereitschaft der herrschenden Eliten zur Öffnung nach außen nicht ohne die traumatischen Erfahrungen der 132-jährigen Kolonialzeit verstanden werden. Zudem wird die politische Legitimation bis heute eng an die mit dem Unabhängigkeitskampf verbundenen Personen und Institutionen geknüpft. Dieser historische Konsens wird durch die Protestbewegungen seit 2019 erneut auf die Probe gestellt.

Bis zur begrenzten politischen Öffnung im Jahr 1988 war Algerien ein von der FLN dominiertes Einparteiensystem. Die ökonomische Situation wurde spätestens im Zuge der fallenden Ölpreise in den 1980er Jahren immer dramatischer und untergrub die Legitimität der politischen Führung, die 1972 die Ölproduktion verstaatlicht hatte. Die sozioökonomische Krise und die daraus resultierende Protestwelle ("Oktoberrevolten") zwangen die FLN zur Zulassung weiterer Parteien und mündete schließlich in einem Militärputsch, der den Wahlsieg der Islamisten annullierte. Algeriens Armee beansprucht bis heute die Rolle des Königsmachers für sich.

Ethnie, Nationalität und Religion sind seit der Unabhängigkeit stark politisierte Konfliktfelder. Die Arabisierungspolitik der 1960er führte zu Gegenbewegungen etwa in der Kabylei, wo sich die Spannungen 1980 im "Berber Frühling" entluden. Bis heute ist die Region ein Epizentrum des Widerstands und Ursprung einer Autonomiebewegung. Statt die Konflikte um die nationale Identität, die Teilhaber ethnischer Minderheiten und das Verhältnis von Staat und Religion nachhaltig zu lösen, werden Ethnie, Nationalität und Religion immer wieder politisch instrumentalisiert und zur Spaltung der Bevölkerung eingesetzt.

Weitere Inhalte

Luca Miehe ist Researcher und Policy Advisor bei der Münchner Sicherheitskonferenz. Er studierte Politikwissenschaft in Berlin und Kairo und war zuvor Forschungsassistent in der Forschungsgruppe Naher/Mittlerer Osten und Afrika bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Nordafrika mit dem Fokus Algerien, Ägypten und Konflikt im Nilbecken sowie Migrationsfragen und dezentrale Entwicklungen autoritärer Systeme.