Zusammenfassung
Das Bildungswesen Russlands, bis in die jüngste Zeit noch als das »beste Bildungssystem der Welt« bezeichnet, ist in den vergangenen Jahren vermehrt und vor den gegenwärtig bevorstehenden Wahlen zugespitzt in die öffentliche Kritik geraten. Beklagt werden erhebliche Defizite, die im Verlauf der angestrebten Modernisierung des Systems eingetreten sind und die Vorbereitung sowie Umsetzung, aber auch die Vermittlung der bildungspolitischen Entscheidungen in die Öffentlichkeit betreffen. Die breite Bevölkerung bekundet zunehmend ihren Unmut, langjährig tätige Experten scheuen nicht mehr davor zurück, Grundsatzfragen der Modernisierung aufzuwerfen. Der Mythos hoher Bildung als verbindender nationaler Wert ist zunehmend brüchig geworden.
Von Jelzin zu Putin - Gesellschaft, Entstaatlichung und »wilder Markt« vs. Rückkehr des Staates und »zivilisierter« Bildungsmarkt?
Nach dem Umbruch vor zwanzig Jahren war es ein Ziel des Neuanfangs in Russland, im Zeichen von Marktwirtschaft und Demokratisierung auch ein liberales Bildungssystem zu errichten. Das zugehörige Bildungsgesetz (BG; 1992) hat bis heute in seinen liberalen und marktorientierten Grundsätzen einer Ausrichtung an den Bedürfnissen und Interessen der Gesellschaft nicht an Bedeutung verloren. Als Voraussetzung der erhofften Demokratisierung wurden gesellschaftliche und individuelle Wahlfreiheiten sowie Spielräume für Partizipation verankert. Das staatliche Bildungsmonopol sollte gebrochen und der Übergang zu einem dezentralisierten Steuerungssystem gewährleistet werden, wobei der Staat lediglich als ausführendes Organ der Gesellschaft aufzutreten hatte. Nur so glaubte man, die herkömmliche Verwaltung - verächtlich als »administratives Kommandosystem« bezeichnet und in ihrem Handeln vielfach willkürlich oder gar korrupt - mitsamt der zugehörigen planwirtschaftlich-zentralistischen Finanzierung des Bildungswesens zu überwinden. Über vergleichbare »westliche« Muster einer neoliberalen Steuerung des Bildungssystems ging das BG dabei wesentlich hinaus. Dies gilt insbesondere für die Etablierung eines Wettbewerbs von Bildungsanbietern um die Bildungsteilnehmer, d. h. eine Nachfrageorientierung mit Blick auf Familien und Wirtschaft, sowie die Gewinnerzielung durch Erwirtschaftung von Eigenmitteln, aber auch für die bis heute außerhalb des Hochschulbereichs wenig genutzten Spielräume institutioneller Privatisierung im Bildungssektor.
Der Rückzug des Staates aus der Finanzierung des Bildungswesens in der Jelzin-Ära, Folge des Einbruchs bei den Staatseinnahmen, ließ in diesem Rahmen spontan »wildwüchsige« Finanzierungsmuster »von unten« entstehen, die zwar das Überleben sicherten, neben progressiven Ansätzen jedoch auch erhebliche Missstände hervorbrachten. Insbesondere überlebte die direktivistische autoritäre Bildungsadministration des Staates. Die ursprünglich betonten Postulate, das Bildungswesen solle einen Beitrag zur Demokratisierung leisten, erwiesen sich zudem angesichts der Schwäche einer erst im Entstehen begriffenen Zivilgesellschaft rasch als illusionär.
Die Errichtung einer Machtvertikale im Rahmen der von Präsident Putin eingeleiteten »Rückkehr des Staates« in das Bildungswesen führte für die Einbeziehung der Gesellschaft in den 2000er Jahren zu einer grundsätzlichen Umorientierung. Neben der weiterhin verfolgten nationalpatriotischen Ausrichtung von Bildung trat mit der Modernisierungskonzeption von 2001 die Umsetzung der neuen neoliberalen Steuerung »von oben« in den Vordergrund, d. h. ökonomisch-organisatorische Fragen begannen die neuen Projekte der Bildungspolitik zu beherrschen. Zwar wurde die Einbeziehung der Gesellschaft in bildungspolitische Entscheidungen und Prozesse der Steuerung weiterhin proklamiert, sie geriet in der Praxis jedoch in den Hintergrund. Ähnliches gilt für die sozialen Aufgaben der Bildungspolitik. Muster der neu postulierten »staatlich-gesellschaftlichen« Partnerschaft sowie Kontrolle in den Bildungseinrichtungen, insbesondere im Bereich der Finanzierung und der Qualitätssicherung, kamen bis heute über erste Anfänge nicht hinaus.
Im Zentrum der Modernisierungspolitik stand indessen die Aufgabe, ein komplexes System von Regelungen, Richtsätzen und Kontrollen für einen »zivilisierten« anstatt des bisherigen »wilden Markts« von Bildungsdienstleistungen zu schaffen. Dieser hatte besonders im Hochschulsektor Fuß gefasst und stärkte die schon in der sowjetischen Ära privilegierte Stellung der Hochschulen gegenüber der Politik: Als ein »selbstgenügsames« System festigte der Hochschulsektor seinen Status eines weitgehend autonomen bildungspolitischen Akteurs. Gestützt auf die in den 1990er Jahren - u. a. mangels Alternativen im Bildungswesen und am Arbeitsmarkt - wachsende Bereitschaft der Bevölkerung, erhebliche finanzielle Mittel in den Hochschulbesuch der jungen Generation zu investieren, war die Erhebung von Studiengebühren »von unten« entstanden, was für das Hochschulwesen eine höchst lukrative Einnahmequelle bedeutete. Dieser von der Verfassung (Art. 43,3) gedeckte Zustand bildet seither ein festes Kalkül der bildungspolitischen Entscheidungen des Staates.
Anders verlief hingegen die Entwicklung im finanziell von den oft mittellosen Kommunen abhängigen Schulsektor, der angesichts eklatanter Unterfinanzierung von großer Beharrung geprägt war. Zwar hatte 1994 ein Präsidentendekret auf Druck der Öffentlichkeit Schulgeldzahlungen im Bereich von Allgemein- und Berufsschulbildung offiziell als unzulässig erklärt. Jedoch gelang es im Schulwesen, für fakultative Angebote sowie Leistungen jenseits der eigentlichen Unterrichtserteilung Gebühren zu erheben. In den 2000er Jahren weiteten sie sich aus, wobei man sie zum Teil als freiwillige »Spenden« deklarierte. Die Bevölkerung verhielt sich hierbei ambivalent, denn in der Praxis folgten viele Eltern trotz anhaltenden öffentlichen Protests gegen die Verbreitung von Gebühren dem verbreiteten Grundsatz »Was nichts kostet, das taugt auch nichts«.
Kennzeichnend für die 2000er Jahre wurde unterdessen eine ständig anwachsende Flut rechtlich-administrativer Regelungen, die die politisch angestrebten »zivilisierten Formen« in den Beziehungen zwischen Schulen, Hochschulen und Bildungsteilnehmern formal festlegten. Anders als erwünscht weitete sich jedoch die Bürokratie ebenso wie die Korruption zunehmend über den Hochschulsektor hinaus aus, und entgegen den Proklamationen der Modernisierungspolitik blieb das marktähnliche Geschehen weitgehend intransparent. Zudem hielt sich die - neben Staat und Gesellschaft als einem dritten »Auftraggeber« für staatliche Bildungsdienstleistungen umworbene - Wirtschaft weitgehend zurück und baute vielmehr eigene Formen innerbetrieblicher Ausbildung auf.
Schleppend verlief schließlich die Umsetzung der Schlüsselprojekte der Modernisierungspolitik, so die fortschreitende Beteiligung am Bologna-Prozess (seit 2003), die Verallgemeinerung des Einheitlichen Staatlichen Examens (Zentralabiturs) EGE (seit 2001 in Erprobung), die gesetzliche Verabschiedung der Bildungsstandards für die allgemeinbildende Schule sowie die Überführung der Bildungseinrichtungen (BE) inkl. Schulen in einen rechtlichen Autonomiestatus. Dieser soll ergänzend zur garantierten staatlichen Grundfinanzierung insbesondere Spielräume und Verantwortlichkeiten für die zu erwirtschaftenden Einnahmen und Fremd-(Dritt-)mittel regeln. Schleppend verlief auch die Neufassung des wegen zahlreicher Ergänzungen und Korrekturen erneuerungsbedürftigen BG sowie das Projekt zur Einführung eines leistungsbezogenen Gehaltssystems, das insbesondere für die Anhebung der regional stark streuenden und teilweise extrem niedrigen Lehrergehälter von Bedeutung ist.
Am Ende von Putins zweiter Amtszeit zeigte sich, dass es auch unter großzügigem Einsatz materieller Anreize (siehe das Nationale Projekt »Bildung«, 2007) sowie ungeachtet der raschen Verabschiedung mehrerer einschlägiger Gesetze nicht gelungen war, Vertrauens- und Motivationsdefizite sowie Reformmüdigkeit in der sogenannten »Bildungsgemeinschaft« (obrasowatelnoje soobschtschestwo) und auf der Ebene der Regionen zu überwinden. In der Praxis beschränkte man sich weiterhin auf eine lediglich formale Umsetzung der Neuerungen oder leistete passiven Widerstand, zumal die Modelle meist nur schrittweise, regional begrenzt oder als »Experimente« eingeführt wurden (wiederholt war die Beteiligung sogar zur Wahl gestellt). Ungeachtet fortgesetzten Unmuts gegenüber den Maßnahmen blieb die breite Bevölkerung bis in die jüngste Vergangenheit weitgehend passiv, und insbesondere im Alltag der Schulen blieb Vieles beim Alten.
Aufmerksamkeit verdient jedoch die anders verlaufende Entwicklung unter den Politikberatern und Experten, unter ihnen viele progressive Pädagogen und Psychologen aus Wissenschaft und Praxis, darunter Hochschulrektoren, Lehrer-Reformer oder Duma-Abgeordnete sowie schließlich Bildungsminister und -stellvertreter. Viele von ihnen sind bereits in der Jelzin-Ära oder, wie der erste russische Bildungsminister, in der Perestroika aktiv gewesen (dieser hatte bereits für das BG von 1992 verantwortlich gezeichnet). Inzwischen wird der Personenkreis, der in seinen Positionen durchaus nicht homogen ist, anders als in den 1990er Jahren kritisch als »Bildungsestablishment«, als die »Leute des Staates« oder die »Bildungsöffentlichen« (obrasowatelnye obschtschestwenniki) bezeichnet. Dennoch begann unter ihnen ein kritischer und zugleich konstruktiv ausgerichteter Diskurs.
Rückkehr der Gesellschaft in das Bildungswesen - Alternative unter Medwedew?
Als seit dem Amtsantritt Medwedews die Entwicklung der Zivilgesellschaft und eine geistige Erneuerung des Landes auf der Agenda des Präsidenten standen, gelangte die Beteiligung der Gesellschaft im Bildungswesen wieder auf die Tagesordnung. Über teils beißende Kritik an mangelhafter Vorbereitung und groben handwerklichen Fehlern bei den großen Projekten hinaus scheuten sich die Experten nicht mehr, auch öffentlich bildungspolitische Grundsatzfragen der Modernisierung aufzuwerfen, die sich im Übrigen nicht nur in Russland stellen. Verbunden mit der Forderung, den »Dialog zwischen Macht und Öffentlichkeit« aufzunehmen, wurde insbesondere die Vermittlung der bildungspolitischen Entscheidungen gegenüber der Bildungsgemeinschaft und der breiten Öffentlichkeit problematisiert.
So entstand unter der Ägide des von Medwedew initiierten Projekts »Unsere neue Schule« ein theoretisch ambitioniertes Strategiepapier zur Modernisierung (Autor: A. Asmolow), das nun wieder von einem Verständnis von »Bildung als gesellschaftlichem Handeln« ausgeht. Es fußt auf den Diskursen der Gesellschaftskammer und knüpft zugleich an Gedanken der progressiven Reformer aus der Zeit des Neuanfangs an. Aufgeworfen wird die Frage einer neuen »Ideologie« sowie »Mission« für das Bildungswesen: Als Sozialisationsinstitut in einer sich wandelnden Umwelt müsse das Bildungswesen auf die Entwicklung einer »offenen Zivilgesellschaft« ausgerichtet werden und zur Schaffung einer neuen gesamtnationalen gesellschaftlichen Identität beitragen. Bildung sei bislang zu wenig als Instrument der Politik genutzt worden, um zur Erreichung der zentralen Politikziele wie Wirtschaftswachstum, harmonischer gesellschaftlicher Beziehungen, Abbau interethnischer Spannungen und sozialer Stratifizierung beizutragen. (Diese Position blieb nicht unwidersprochen, das Potential des Bildungswesens, Probleme der Gesellschaft zu lösen, dürfe nicht überschätzt werden, hieß es.)
Darüber hinaus unterzog das Papier auch die Marktorientierung des Bildungswesens, von der Bevölkerung nur als Ende der kostenlosen Bildung verstanden, einer grundsätzlichen Kritik. Mit ihrer technokratischen Verengung vernachlässige die Politik im Zeichen der neoliberalen Steuerung die soziokulturelle und kulturhistorische Dimension von Bildung (dies unter Hinweis u. a. auf Foucault sowie Leontjew und Wygotskij).
Die wiederholte Kritik am »Mythos Markt« hinterließ in jüngster Zeit bereits Spuren im bildungsökonomischen Diskurs. So verschließt sich der Rektor der Moskauer Hochschule für Ökonomie (zugleich langjähriger enger Berater der Regierung) nicht mehr pädagogischen Argumenten, nach denen Bildungsprozesse ein personales Zusammenwirken und keine bloße Tauschbeziehung auf einem anonymen Markt darstellen. Ungeachtet der öffentlich beklagten Ungerechtigkeiten und sozialen Probleme, die bei extensiver freier Schulwahl entstehen - z. B. bei der Einschulung von Kindern in der benachbarten Schule, die bereits von Ortsfremden überfüllt ist oder aber mangels Nachfrage vor der Schließung steht - und die bereits gerichtlich kontrovers entschieden wurden, rückt der namhafte Experte jedoch nicht von Wettbewerbsmodell und Nachfrageorientierung ab. Mittlerweile werden sogar regionale Rating-Listen von Schulen für die Eltern erprobt. (Anzumerken ist, dass inzwischen das Konkurrenzmodell der Schulen wegen seiner negativen sozialen Auswirkungen international, aber auch bei einigen russischen Experten zunehmend als überholt gilt.)
Indessen hält das Führungsduo von Präsident sowie Premier an den bisherigen Modernisierungsprojekten fest. Insbesondere Putin preist sie als »Innovationen, neue Ideen, die in der Welt entstehen«, welche Russland bei allem Stolz auf die »vaterländische Bildung« als »Herausforderungen der Zeit ... aufsaugen« müsse. Angesichts der von Medwedew erzeugten Aufbruchstimmung wurde »die Macht« in jüngster Zeit jedoch zunehmend mit neuen Formen des Protests aus der Gesellschaft konfrontiert. Deutlich wird der Glaubwürdigkeitsverlust der Politik bei der Bildungsöffentlichkeit in seit den Lehrerstreiks der 1990er Jahre nicht mehr gekannten Protestbekundungen und -aufrufen sowie öffentlichen Meinungsumfragen. Hierbei tritt das Internet als Medium hervor, das immer seltener anonym genutzt wird. Als exemplarisch kann ein offener Brief gelten, der zu Jahresbeginn im Internet heftige Kritik an den neuen Bildungsstandards der oberen Sekundarstufe an die Exekutive und die Duma richtete (die kompetenzorientierten Standards sollen die traditionellen Bildungsprogramme und Lehrpläne mit ihrer Stofffülle ablösen). Der Brief wurde von 23.000 Personen, vom Akademiemitglied bis zum Taxifahrer, unterzeichnet. Erheblichen Widerspruch rief darin u. a. die inzwischen abgemilderte Regelung hervor, dass Oberstufenschüler - bei nur noch wenigen obligatorischen Unterrichtsfächern und ansonsten freier individueller Fächerwahl - insbesondere das Fach Russische Literatur abwählen konnten. (Schon seit den 1960er Jahren hatten sich wiederholt Alternativen wie Gabelung, Zweig- oder Profilbildung gegenüber einem im Grundsatz einheitlichen allgemeinbildenden Abitur nicht durchsetzen lassen).
Als problematisch erwies sich zugleich das zuvor fixierte Postulat, die neuen Bildungsstandards in einem »Gesellschaftsvertrag« zwischen Staat, Familie und Gesellschaft festzulegen (Gesetz von 2007). Beachtung verdient zudem die Gründung einer neuen, sich als »alternativ« bezeichnenden Lehrergewerkschaft, die gegen die vorhandenen Einengungen und Missstände in Lehrerausbildung und -berufsausübung auftritt.
Die Reaktion der »Macht« spiegelt sich beispielhaft im Schicksal des 2009 endgültig eingeführten EGE wider. In diesem Schlüsselprojekt sind unterschiedliche Aufgaben und Funktionen eine komplexe Verbindung eingegangen: Als landesweit einheitliche Abiturprüfung sollte mit dem EGE den Universitäten die Entscheidung über den Hochschulzugang entzogen, die zugehörige Korruption bekämpft sowie eine Qualitätskontrolle - von der Arbeit des einzelnen Lehrers über die Schule, die Region bis zum Gesamtsystem - ermöglicht werden. Zumal der in breiten Kreisen inzwischen verhandelte Skandal um das EGE (neben zahlreichen Unregelmäßigkeiten kam es, teilweise unter Mitwirkung der lokalen Administration, mehrfach zu Fällen von Betrug) ließ den Premier wiederum selbst an die Öffentlichkeit treten - zunehmend unterstützt vom Präsidenten und dem Bildungsminister (siehe deren Rundfunkinterview vom 24.08.2011 im Sender »Echo Moskwy«). Neben einer Fülle von Beschwichtigungen machte Putin bevorstehende Korrekturen, Abschwächungen, Ausnahmeregelungen und Terminaufschübe bei den verschiedenen Großprojekten publik. Endgültige Entscheidungen, z. B. für das neue BG, wurden jedoch in das Jahr 2012, d. h. auf nach den Duma-Wahlen im Dezember vertagt. Hervorhebung verdient nicht zuletzt ein veränderter Stil seitens der politisch Verantwortlichen gegenüber der professionellen Gemeinschaft. So hielt der Premier z. B. Ende August 2011 persönlich eine sehr ausgewogene Ansprache vor Mitgliedern des einflussreichen Hochschulrektorenverbands. Bereits zuvor hatte sich der Bildungsminister bei seinen Auftritten bisweilen selbstkritisch gezeigt, zumindest aber weitaus konzilianter als in seiner bisherigen siebenjährigen Amtszeit. Ob seine Tage gezählt sind, bleibt abzuwarten; in Meinungsumfragen (z. B. WZIOM oder »Lehrerzeitung«) erhält seine Arbeit jedenfalls negative Bewertungen, ein studentischer Blog ruft sogar zu seiner Absetzung auf.
Fazit
Der Mythos hoher Bildung als verbindender nationaler Wert, Quelle von Wirtschaftswachstum, aber auch des Erwerbs von Zertifikaten für den persönlichen Lebensweg und die berufliche Karriere der jungen Generation ist in jüngster Zeit zunehmend ins Wanken geraten. Mit dem Wechsel im Präsidentenamt von 2008 entfalteten sich zwar Debatten, die einem politischen Kräftespiel, der Einbindung der Gesellschaft sowie der führenden Köpfe des Bildungswesens in die Entscheidungsprozesse vorerst wieder mehr Raum zu geben schienen. Nicht auszuschließen ist jedoch, dass die Einbeziehung der »Gesellschaft« sowie der Praktiker und Experten wiederum Mustern der sowjetischen Ära folgt. Bezweckt würde dann lediglich, die Legitimierung der politischen Entscheidungen zu sichern sowie Informationen über die Akzeptanz der bildungspolitischen Projekte in der Bevölkerung sowie bei den Experten zu gewinnen. Der Schöpfer der »gelenkten Öffentlichkeit« Putin versucht dabei zugleich Fhrungsstärke, konsequentes Handeln und Kontinuität angesichts einer bislang eher sprunghaften Entwicklung voll unerwarteter Einschnitte zu demonstrieren. Die wachsende Mittelschicht hat jedoch begonnen, sich verstärkt zu artikulieren, und die Experten präzisierten ihre Positionen in einem sich für neue, differenziertere Argumente öffnenden Diskurs. In der Debatte dürften die gemäßigten neben den extremen Positionen an Raum gewinnen - dies betrifft die Muster einer technokratischen Modernisierung vorgeblich »westlicher« ebenso wie diejenigen einer überwunden geglaubten sowjetischen Provenienz: Ob und unter welchen Vorzeichen die Grundsatzfrage nach einer »neuen Mission« für das Bildungswesen in einer offenen Zivilgesellschaft aktuell bleibt, wird abzuwarten sein.
Über die Autorin:
Gerlind Schmidt, Dipl.-Hdl., Dr. phil., war langjährige wissenschaftliche Mitarbeiterin des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) in Frankfurt/Main (bis Ende 2004).
Literaturempfehlung:
Schmidt, Gerlind: Schule und Bildungswesen in der Russischen Föderation - Bildungspolitik und Steuerung zwischen neuen Konzepten und alten Mustern. In: TiBi, Nr. 24, April 2010 http://www1.dipf.de/publikationen/tibi/tibi24_schmidt.pdf Gekürzte Druckfassung in: Die Bildungssysteme Europas. Hg. Döbert, Hans u. a. Baltmannsweiler 2010, S. 619 - 643.
Maria Belaja-Lucic: Das postsowjetische Bildungswesen. Diskurse im Spiegel der Zeitung »Pervoe sentjabrja« (1992 - 1999). Münster u. a.: Waxmann Verlag 2009.