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Kommentar: Es gibt noch immer keine öffentliche Meinung – der Krieg in der Ukraine und die Diktatur in Russland lassen uns das besser erkennen | Russland-Analysen | bpb.de

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Kommentar: Es gibt noch immer keine öffentliche Meinung – der Krieg in der Ukraine und die Diktatur in Russland lassen uns das besser erkennen Russland-Analysen Nr. 430

Jeremy Morris

/ 8 Minuten zu lesen

Existiert überhaupt so etwas wie eine öffentliche Meinung und kann man diese mit Umfragen deutlich machen? Eine kritische Auseinandersetzung mit aktueller Meinungsforschung.

Sondersendung der Nachrichtenagentur TASS zum Thema Informationskrieg. (© picture-alliance/dpa, TASS | Sergei Karpukhin)

Der Krieg offenbart meiner Ansicht nach eine Reihe gewichtiger Probleme der Meinungsforschung zu Russland. Es hat in der Sozialforschung stets methodologische Fragen über die Repräsentativität von Umfragen gegeben, darüber, wie sie organisiert werden, und wie die Ergebnisse verarbeitet, gefiltert und dargestellt werden. Verstärkt werden diese Fragen durch die Intransparenz der Meinungsforschungsinstitute in Russland (und nicht nur dort) sowie deren enge Spezialisierung: Es handelt sich um eine kleine Berufsgruppe, die einer sehr speziellen Tätigkeit nachgeht, und die nur in geringem Maße einer externen Aufsicht unterliegt. Forscher:innen geben oft eigene Umfragen in Auftrag und setzen raffinierte Methoden ein, um die Zuverlässigkeit ihrer Forschung sicherzustellen, doch bedeutet das nicht, dass die Probleme vermieden werden (nicht zuletzt hinsichtlich der Rücklaufquote und verweigerter Teilnahme, sowie der Gewichtung demografischer Gruppen, die stärker zu einer Teilnahme neigen – Umstände, die gern vernachlässigt werden). Diese technische Kritik ist allerdings nicht der wichtigste Punkt. Ich möchte gern generelle Bedenken anmelden, was das Framing von Meinungsumfragen angeht, wie letztere zu sehr vereinfachen, wie wir über die Gesellschaft in Russland denken. Und wie dies zu einer gefährlichen Abhängigkeit von vereinfachender und mit geringem Aufwand betriebener Wissensvermittlung führt. Ich sage nicht, dass Umfragemethoden wertlos sind. Doch können sie nur dann am besten eingesetzt werden, wenn sie von "weicheren", dafür aber stärker durchdringenden Instrumenten begleitet werden, mit denen ermittelt werden kann, wie die Menschen denken. All diese Instrumente erfordern eine eingehendere Arbeit im Feld, und einige von ihnen, etwa Ethnografie und Beobachtung, erfordern ein Eintauchen in das Feld.

Es sei mir gestattet, die klassische Kritik an der "öffentlichen Meinung" anzuführen, die der Soziologe Pierre Bourdieu vor fünfzig Jahren formuliert hat (das gleiche Argument war übrigens in den 1950er Jahren von Charles Wright Mills vorgebracht worden). Das ist notwendig, weil die Medien, Politiker:innen und ganz allgemein Menschen weiterhin unkritisch das Gallupsche Paradigma von öffentlicher Meinung akzeptieren, nämlich die Vorstellung, dass kumulative Präferenz existiere und aussagekräftig messbar sei. Um es zusammenzufassen: Umfragen gehen davon aus, dass alle Menschen Meinungen haben, was nicht unbedingt der Fall ist. Stimmungen, Neigungen, unaussprechbare Wertvorstellungen und Geschmäcker bzw. Abneigungen können bessere Wege sein, um sich vorzustellen, wie Menschen sich äußern, ohne auf eine Sprache der Rationalität, Präferenz und abschätzbarer "Interessen" zurückzugreifen. Das sind oft die versteckten Annahmen, von denen die Meinungsforschung vorab ausgeht. Zweitens stellt Bourdieu die offensichtliche, jedoch umstrittene Beobachtung an, dass nicht alle Meinungen von gleichem Wert sind. Nehmen wir beispielsweise Umfragen zu Alltagsproblemen, die plötzlich in den Medien Aufmerksamkeit erlangen. Nur weil eine Umfrage bei tausenden Menschen eine Antwort entlockt und diese Antworten dann zusammenführt, heißt das noch nicht, dass das Ergebnis soziologisch bedeutsam ist. Oft werden nur "bedeutungslose Artefakte" erzeugt, bei denen die Menschen durch den unmittelbaren Kontext der Umfrage (z. B. ein politischer Skandal) dazu "gedrängt" wurden, auf eine bestimmte Weise zu antworten. Drittens kann die "Frage", wenn sie auf andere Art formuliert, zu einem anderen Zeitpunkt oder in Verbindung mit anderen Informationen gestellt wird, sehr wohl völlig andere Antworten hervorbringen. Schließlich wäre da noch die Frage, was es sich zu fragen lohnt, oder anders gesagt, die "Konsens"-Frage. Wer entscheidet über die Präferenzen, zwischen denen die Befragten zu wählen haben? Schließlich ist es unmöglich, ein ideales Spektrum möglicher "Meinungen" festzulegen.

Überhaupt ist das Problem der/des Beobachtenden in der Wissenschaft, das sogar in der Physik und der Psychologie eine große Herausforderung für den Positivismus darstellt, in der Meinungsforschung ein sehr viel größeres Problem, als die Forschenden zugeben wollen. Diese Kritik greift viel weiter als nur auf Phänomene wie den Hawthorne-Effekt (Menschen verhalten sich anders, wenn sie wissen, dass sie beobachtet werden), Bestätigungsfehler ("confirmation bias"; Umfragen werden unweigerlich so gestaltet, dass Erwartungen bestätigt werden), "sekundäre Beobachtungseffekte" (wenn die Ergebnisse durch die Interpretation von Datensätzen verzerrt werden) oder Zirkularität (wenn Umfrageergebnisse allein dadurch "wahr" werden, dass sie verbreitet werden). Das Problem ist, dass es keine Frage gibt, die von den Befragten nicht in höchst divergierender Weise uminterpretiert werden kann. Der Beziehungssoziologie und der Intersubjektivität zufolge, einem Ansatz, der auf Herbert Blumer und bis in die 1930er Jahre zurückgeht, ist Meinung davon abhängig, von wem, wann, wo und wie danach gefragt wird! Die Zusammenführung von Antworten zu einer kollektiven Meinung ist zweifelhaft und "Meinungen" sind sowieso keine unveränderlichen individuellen Eigenschaften. Je emotionaler und angsteinflößender ein Thema ist, umso schwieriger wird es, wie etwa im Falle der Umfragen zum Krieg. Selbst in sogenannten demokratischen Staaten lautet die unverblümte Schlussfolgerung, dass Umfragen "eine fingierte öffentliche Ansicht konstruieren, die den Zwecken der Mächtigen dienen soll".

Wie können wir da Umfragen in Russland überhaupt ernst nehmen? Verbale Opposition gegen den Krieg wird kriminalisiert, abweichende politische Meinungen zu äußern ist gesellschaftlich unerwünscht, gefährlich und hinterlässt Unbehagen. Warum sollte man Umfragen in einer Gesellschaft ernst nehmen, die notorisch ein (wohlbegründetes) Misstrauen gegenüber Fremden hegt, die Fragen stellen, und sogar bei Online-Umfragen die Zusicherung von Anonymität anzweifelt? Und dabei geht es hier nicht einmal um Probleme wie der Neigung zum "Einverständnis" (" agreeableness "), die Samuel Greene ins Feld geführt hat, oder zu dem Wunsch, in Krisenzeiten Loyalität zu bekunden, was beides Umfragen beeinflussen kann. Die Schlussfolgerung, die Forschende ziehen, die wie ich in einer emanzipatorischen Tradition der Sozialforschung tätig sind, besteht darin, dass Umfragen vor allem als Instrument für eine Entmündigung dienen, indem sie Möglichkeiten und imaginierte Welten blockieren, die Interpretation in eine unrealistische Enge dirigieren und die Politik der Entrechteten ihrer Stimme und Kraft berauben. Selbst ein noch so sorgsam und behutsam entwickeltes Umfrageinstrument übt symbolische Gewalt (Externer Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Symbolische_Gewalt) aus, indem der untergeordneten Gruppe die Normen der Mächtigen auferlegt werden. Die Umfragen zu Russlands Krieg gegen die Ukraine sind da keine Ausnahme.

Während des Krieges habe ich verschiedentlich Vorbehalte angemeldet, ob Umfragen wirklich zeigen können, dass Russ:innen Putins Ziele in der Ukraine unterstützen oder nicht. Ich fasse sie im Folgenden zusammen: Im März 2022 erörterten wir mit einem Meinungsforschungsinstitut aus Moskau, warum die Umfragen bei vier Aspekten mangelhaft waren (Externer Link: https://postsocialism.org/2022/03/17/moscow-war-diary-part-4-incriminating-evidence-or-polling-fallacies/). So waren sich die Befragten etwa aufgrund eines unzureichenden Framings der Dimension des Konflikts nicht bewusst gewesen, wodurch die Verwendung des Begriffs "militärische Spezialoperation" die Ergebnisse verzerrte (und um es zu wiederholen: Wir können den Grad der Irreführung und Verdrängung nicht ermessen). Dann wäre da die Frage der Angst, dass man etwa eine "falsche" oder unpatriotische Antwort geben könnte. Oder der Einfluss der Medien, die die "Realität" entstellen, zu der die Meinung geäußert wird. Drittens sind Meinungsforschungsinstitute nicht aufrichtig, wenn es um die extremen Schwierigkeiten geht, Befragte zu gewinnen (Externer Link: https://novayagazeta.ru/articles/2022/03/14/atomizirovannaia-bomba). Hier wäre in Anlehnung an Grigorij Judin das "Zehn-Prozent-Problemen" zu nennen: Es wird so getan, als ob die sich selbst auswählenden 10 Prozent der Menschen, die regelmäßig bereit sind, sich an Umfragen zu beteiligen, irgendwie repräsentativ seien. Umfragen sind hier in Wirklichkeit eine Kommunikation mit dem Staat mit Hilfe höchst verkürzter Präferenzen, und bildet nicht die tatsächliche Breite des Meinungsspektrums ab. Später, im März, ging ich mehr ins Detail (Externer Link: https://postsocialism.org/2022/03/21/dont-trust-opinion-polling-about-support-in-russia-for-the-war-on-ukraine/), nachdem ich eine Reihe Umfrageexpert:innen zur Entprofessionalisierung des Umfragewesens interviewt hatte.

Mitte Januar 2023 habe ich einige erstaunliche Ergebnisse des Lewada-Zentrums untersucht (Externer Link: https://postsocialism.org/2023/01/09/a-third-of-russians-feel-they-bear-moral-responsibility-for-aggression-against-ukraine-wtf/), die in einem Spiegel-Interview mit dem wissenschaftlichen Leiter des Lewada-Zentrums, Lew Gudkow, vorgestellt wurden, und die zu zeigen schienen, dass 34 Prozent der Befragten der Ansicht sind, sie hätten eine moralische Verantwortung für den Tod von Zivilist:innen und die Zerstörungen in der Ukraine. Erneut hatte das Vorlegen von Ja/Nein-Antwortoptionen eher dazu geführt, dass etwas verschleiert und verzerrt wird, als dass etwas erhellt würde. Beobachter:innen waren entweder entsetzt oder fühlten sich, wie ich, ermutigt, dass selbst in der Druckkessel-Atmosphäre eines medialisierten Hyperchauvinismus ein volles Drittel der Menschen Verantwortung für einen neoimperialistischen Krieg einräumt. Dass dies in der Tatnicht die Interpretation der Lage sein sollte, wurde durch andere Umfragen deutlich, die ergaben, dass die Unterstützung für das Vorgehen der russischen Streitkräfte über einen längeren Zeitraum nahezu unverändert groß blieb. Es ist viel wahrscheinlicher, dass viele, die die Frage nach der moralischen Verantwortung mit "Ja" beantwortet haben, sehr divergierende, wenn nicht gar widersprüchliche Interpretationen der Frage im Sinn hatten (so könnten einige beispielsweise denken, dass die Bombardierung der Ukraine und deren Unterwerfung eine gute Sache sind, und deshalb dafür die Verantwortung übernehmen).

Ironischerweise sind die Ergebnisse des Lewada-Zentrums durch Tiefeninterviews gewonnen und dann vom Spiegel wie auch vom Lewada-Zentrum als blutleere Statistik präsentiert worden. Gudkow verschlimmerte die Sache noch, indem er in dem Interview die seit langem umstrittene und bei Lewada-Soziolog:innen der alten Schule beliebte These wieder aufwärmte, der zufolge die russische Gesellschaft im Allgemeinen eine Amoralität aufweist, die über lange Zeiträume trotz sich ändernder Kontextbedingungen unverändert bleibt. Er missachtet Belege für das Gegenteil, sogar in seiner eigenen Befragung. Diese Umfrage, wie auch andere, die sich allein auf die Unterstützung für den Krieg konzentrieren, sind zumindest unverantwortlich, nicht nur wegen der höchst fraglichen Ergebnisse, sondern auch, weil Umfragen zu einer ideologischen Waffe werden, und sie leicht derart umgedeutet werden können, dass Russland in orientalistischer Sprache als eine von Natur aus "barbarische" Gesellschaft dargestellt wird.

Umfragen können effektiv sein, wenn sie eng mit anderen Methoden verknüpft sind, zu denen auch experimentelle Ansätze gehören, etwa Tagebücher von Informant:innen, traditionelle ethnografische Beobachtung und Tiefeninterviews. Wie ich jüngst in einem Artikel für die Fachzeitschrift "Post-Soviet Affairs" deutlich gemacht habe, besteht das Problem darin, dass dies überwiegend nicht der Fall ist. Wissenschaftliche und finanzielle Vorgaben legen nahe, dass eher Ergebnisse erwünscht sind, die Aufmerksamkeit generieren, und nicht solche, die eine langwierige, komplizierte Feldforschung erfordern. Meiner Ansicht nach sind selbst Fokusgruppen (mit denen ich selbst professionell gearbeitet habe) ein magerer Ersatz für eine bessere soziologische Vertiefung. Soziologische Beobachtung der positivistischen Art, von der Umfragen nur der offenbarste Teil sind, können die Bedeutung von Wellen, Strömungen oder einen Wandel in der Gesellschaft verpassen oder – schlimmer noch – verzerren. Das hat Raymond Williams treffend in die Formulierung "Struktur des Fühlens" gefasst. Man kann an seiner Wortwahl erkennen, dass ein solcher Ansatz eine Antithese zu Quantifizierung darstellt. Dabei hat Williams seine einflussreiche Idee gerade dann entwickelt, als der soziologische Positivismus in den 1950er seinen Höhepunkt erreichte. Sie war der Ausgangspunkt, um öffentliche Antworten auf offizielle Diskurse als etwas Dynamisches aufzufassen. Sie führt einen auch zu der Frage, wie unterschiedliche Denkweisen entstehen, miteinander in Kontakt treten oder nie vollends formuliert werden können, auch wenn sie stark davon beeinflusst werden, wie die Menschen die Welt wahrnehmen und darauf reagieren.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

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Jeremy Morris ist Professor für Global Studies an der Universität Aarhus. Sein jüngstes Buch trägt den Titel "Everyday Post-Socialism. Working-Class Communities in the Russian Margins" (Springer/Palgrave Macmillan, 2016). Er hat darüber hinaus eingehend über Arbeitspolitik in Russland, die informelle Wirtschaft im postsowjetischen Raum und zu vielen anderen anthropologischen und soziologischen Themen der Region publiziert. Gegenwärtig schließt er ein Buch über kapitalistischen Realismus und Mikropolitik in Russland ab.