Zusammenfassung
Die russischen Beitrittsverhandlungen zur Welthandelsorganisation (World Trade Organization, WTO), die sich bereits seit 16 Jahren hinziehen, nähern sich ihrem Abschluss. Sowohl offizielle Einschätzungen als auch russische und internationale Experten gehen davon aus, dass Russland bis Ende dieses Jahres Mitglied der WTO werden kann. Die Bedingungen des Beitritts sind bereits im Wesentlichen vereinbart. Sie bedeuten für die russische Wirtschaft kurzfristig kaum Veränderungen und können mittelfristig die internationale Wettbewerbsfähigkeit russischer Firmen verbessern.
Einleitung
Für eine Mehrheit der russischen Politiker, Wirtschaftsvertreter und Experten ist offensichtlich, dass sich Russland nicht länger außerhalb des internationalen Handelssystems befinden kann, dem aktuell 153 Staaten weltweit angehören. Als WTO-Mitglied würde Russland deren Prinzipien, Normen und Regeln anwenden und dadurch Teil eines einheitlichen, internationalen Rechtsraumes werden, in dem ein Großteil des weltweiten Handels abgewickelt wird. Dies würde den einheimischen Exporteuren die Möglichkeit geben, sich auf den Märkten der WTO-Mitgliedsstaaten unter den gleichen, gegenseitig gewährten Bedingungen bezüglich Waren, Dienstleistungen und ausländischen Direktinvestitionen zu betätigen. Dabei beruhen die Zugangsbedingungen zu ausländischen Märkten nicht mehr auf einer Vielzahl einzelner Handelsabkommen, sondern auf einem einzigen und universellen, internationalen Vertrag.
Durch einen WTO-Beitritt würde Russland darüber hinaus Zugang zum WTO-Streitschlichtungsmechanismus erhalten - für den Fall, dass einer der Mitgliedsstaaten unberechtigte Einschränkungen gegen den Handel mit russischen Waren und Dienstleistungen verhängen sollte. Zudem könnte Russland an multilateralen Verhandlungen zur weiteren Liberalisierung des Handels teilnehmen.
Die russischen Beitrittsverhandlungen zur Welthandelsorganisation, die sich bereits seit 16 Jahren hinziehen, nähern sich nun ihrem Abschluss. Sowohl offizielle Einschätzungen als auch russische und internationale Experten gehen davon aus, dass Russland bis Ende dieses Jahres Mitglied der WTO werden kann. Ungeachtet dessen bricht in der russischen Gesellschaft von Zeit zu Zeit eine Diskussion darüber aus, ob sich ein Beitritt lohnt und welche Vor- und Nachteile damit verbunden sind. In diesem Beitrag werden die zentralen Bedingungen des Beitritts vorgestellt und ihr Einfluss auf die russische Wirtschaft untersucht.
Zölle und Marktzugang
Im Verlauf des Verhandlungsprozesses gelang es der russischen Delegation, sich mit den Partnern über die wesentlichen Beitrittsbedingungen zu verständigen. Die Verhandlungen über Einfuhrbestimmungen für ausländische Waren auf den russischen Markt sind mit allen Teilnehmern der Arbeitsgruppe abgeschlossen. Im Rahmen der von der russischen Delegation erzielten bilateralen Vereinbarungen liegt das Ausgangsniveau für die Anpassung von Zöllen auf Importe bei keinem einzigen Zollsatz unter dem aktuell bestehenden, d. h. alle Einfuhrzollsätze können nach einem Beitritt erst einmal bestehen bleiben. Im ersten Jahr nach dem WTO-Beitritt wird kein einziger Zollsatz unter das aktuelle Niveau gesenkt. Das letzte Stadium der Anpassung sollen die Zölle erst nach sieben Jahren erreichen, was es der heimischen Industrie erlauben sollte, sich an die erhöhte Konkurrenz aus dem Ausland anzupassen.
Die vereinbarten Regeln sehen letztendlich eine Reduzierung der durchschnittlichen Höhe der Schutzzölle für landwirtschaftliche Produkte von 21,5% auf 18-19% und für Industrieprodukte von 10,1% auf 7,6% vor. Nach dem Ende der siebenjährigen Anpassungsphase werden die russischen Zollsätze in Abhängigkeit von der Produktgruppe zwischen 0% und 20% betragen. Im Unterschied zu den aktuell vierstufigen Zollsätzen werden die neuen Zölle mehrstufiger sein. Bei einem Großteil der Waren wird der Satz bei 2-3% beginnen und kann praktisch alle Ziffernwerte bis zur Obergrenze einnehmen.
Im Verlauf der Verhandlungen konnte zudem vereinbart werden, das Russland das Recht behält, Exportzölle einzuführen. Diese machen 20% der Einnahmen des Staatshaushaltes aus und führen dem Staat einen bedeutenden Teil der Rohstoffeinnahmen zu.
Die Verhandlungen über den Zugang zum Dienstleistungsmarkt sind ebenfalls mit allen interessierten Teilnehmern der Arbeitsgruppe abgeschlossen. Russland erklärte sich bereit, die Auflagen aus ca. 116 von 155 Dienstleistungssektoren, in denen eine Klassifizierung der WTO vorgesehen ist, zu übernehmen. In einigen Fällen sind die vereinbarten Auflagen für ausländische Dienstleister strenger als die aktuell gültige Gesetzgebung. Dies gilt u. a. für Dienstleistungen im Energie- und Transportbereich sowie medizinische Leistungen und ermöglicht es, falls erforderlich, auch in Zukunft zusätzliche Maßnahmen zum Schutz der nationalen Dienstleister vor ausländischer Konkurrenz zu ergreifen. Insgesamt werden im Dienstleistungsbereich nur 30 Sektoren vollständig für ausländische Wettbewerber geöffnet, während sie in 39 Sektoren gänzlich ausgeschlossen bleiben. In den übrigen 86 Sektoren ist die Verabschiedung spezieller Auflagen für ausländische Anbieter vorgesehen.
Bezüglich der zulässigen Höhe staatlicher Unterstützungen für die Landwirtschaft sowie der Höhe der Exportsubventionen für landwirtschaftliche Produkte haben sich Konturen einer möglichen Einigung herausgebildet. Die russische Delegation machte die von ihr angegebene Summe der Agrarsubventionen von jährlich $9 Mrd. und die Aufrechterhaltung der Agrarexport-Subventionen von jährlich $760 Mio. zur Bedingung. Die Mitglieder der Arbeitsgruppe empfanden diese Beträge jedoch überhöht. Ende September vergangenen Jahres konnte hierzu eine Annäherung erreicht werden. Russland stimmte zu, die Subventionen für die Landwirtschaft bis 2017 auf $4,4 Mrd. abzusenken und grundsätzlich auf Exportsubventionen zu verzichten.
Ende 2010 konnte auch bei der letzten zentralen Frage - den Exportzöllen auf Rundholz - mit der Europäischen Union eine Einigung erzielt werden. Hintergrund des Streits ist eine Entscheidung der russischen Regierung aus dem Jahr 2006, wonach diese Zölle innerhalb von drei Jahren schrittweise bis auf 80% angehoben werden sollten, was Holzlieferungen in die EU deutlich verteuern würde. In Reaktion auf den Protest der EU, der insbesondere von Finnland, aber auch von Schweden getragen wurde, verhängte die russische Regierung ein Moratorium auf die Erhöhung des Zollsatzes, das regelmäßig verlängert wurde. Am Vorabend des EU-Russland-Gipfels im Dezember 2010 in Brüssel gelang es der russischen Delegation und der EU eine Vereinbarung zu erzielen, der zufolge Russland die Exportzölle auf Rundholz senken wird.
Wettbewerbsfähigkeit
Kritiker des WTO-Beitritts behaupten, dass eine Mitgliedschaft in der WTO für die russische Wirtschaft unzumutbar sei. Im Zuge der Liberalisierung des Marktzuganges würde der Druck auf dem Binnenmarkt durch die ausländische Konkurrenz unweigerlich zunehmen. Die russische Wirtschaft sei aber darauf nicht ausreichend vorbereitet, da der verarbeitende Sektor, mit Ausnahme weniger Branchen, eine ernsthafte Modernisierung benötige. Dementsprechend befürchten sie, dass ein bedeutender Teil der Industrie- und Landwirtschaftsbetriebe im Falle eines WTO-Beitritts zusammenbrechen könnte.
Der Logik der ersten These folgend sollte Russland für immer auf eine Mitgliedschaft in der WTO verzichten. Schon in den 1960er Jahren wurde darüber gesprochen, dass die russische Wirtschaft für eine Beteiligung am internationalen Handelssystem nicht bereit sei. Damals wurde im Staatsapparat die Möglichkeit einer Beteiligung an multilateralen Handelsgesprächen im Rahmen der Tokio-Runde beraten, die zum GATT (General Agreement on Tariffs and Trades) führten, dem Vorgänger der WTO. Seit damals hat sich die Struktur der russischen Wirtschaft nicht verbessert. Im Gegenteil, sie hat sich noch weiter deformiert und ihre Schieflage in Richtung der Rohstoffabhängigkeit hat sich verschärft. In der nächsten Zeit wird sich diese Situation kaum verbessern, wie aus der Regierungsprognose zur sozial-ökonomischen Entwicklung des Landes hervorgeht.
Tatsächlich stellt ein Beitritt zur WTO jedoch kein Hindernis für einen strukturellen Umbau der russischen Wirtschaft dar. Im Gegenteil, die Vereinbarungen der Arbeitsgruppe, in der die Höhe und Fristen einer Reduzierung der Importzölle festgelegt wurden, können die Grundlage für den Aufbau einer ausgeglichenen Industriepolitik und einer schrittweisen Verschärfung der Konkurrenzsituation darstellen, die eine Überwindung der strukturellen Deformationen anstoßen kann. Unabhängig vom Verhandlungsverlauf und dem Zeitpunkt des WTO-Beitritts wird Russland, wenn es gewillt ist, seinen Rückstand zu den führenden Wirtschaftsnationen zu verkleinern, in jedem Fall eine wirtschaftliche Modernisierung bevorstehen, die einen strukturellen Umbau und eine umfangreiche Modernisierung von Produktionsanlagen sowie eine Verbesserung des institutionellen Umfeldes beinhaltet.
Die befürchtete Schließung einer Vielzahl von Betrieben in Folge einer Reduzierung der Importzölle ist offensichtlich eine alarmistische Übertreibung. Die Urheber dieses Szenarios vergessen, dass im vergangenen Jahrzehnt in Russland in der Tat schon einmal eine gleichzeitige Reduzierung der Importzölle aller Importgüter stattgefunden hat. 2001/02 setzte die russische Regierung grundlegende Veränderungen der Importzölle durch, kürzte die Anzahl der Zollsätze und nahm eine Vereinheitlichung der Zölle auf Waren mit gleichen oder ähnlichen Merkmalen vor. Dabei wurde der Übergang von einem siebenstufigen Zollsystem (von 0-30% in 5%-Schritten) zu einem vierstufigen (5-20% mit den gleichen Intervallen) vollzogen. Diese Zollrefom blieb von den russischen Produzenten im Wesentlichen unbemerkt und behinderte den Anstieg der Industrieproduktion in keiner Weise.
Im Zuge der Zollreform von 2001/02 reduzierte sich der durchschnittliche Zollsatz um zwei Prozentpunkte von 13% auf 11%. In seinem Umfang ist er damit gut mit der jetzt vorläufig mit der WTO vereinbarten Reduzierung der Zölle auf Industrie- und landwirtschaftliche Güter vergleichbar, die jeweils drei Prozentpunkte betragen. Der relative Abbau der Zölle sollte somit zu keinerlei Produktionsschwierigkeiten führen.
Aktive Nutzung der Mitgliedschaft
Natürlich wird ein WTO-Beitritt die Ausweitung der Importe und eine verstärkte Konkurrenz auf dem Binnenmarkt befördern. Die Förderung des Wettbewerbs ist jedoch eine der drängendsten institutionellen Aufgaben des Landes. Bisher ist der Wettbewerb in Russland sehr schwach ausgebildet, wie die Ergebnisse von regelmäßig durchgeführten Studien zur Wettbewerbssituation unter russischen Experten zeigen. Eine dieser Studien, die in 49 Regionen Russlands, in über 1000 Betrieben und in zehn Bereichen der verarbeitenden Industrie erhoben wurde, ergab, dass ca. 20% der russischen Betriebe keinem ernsthaften Wettbewerb auf dem Absatzmarkt ausgesetzt sind und fast ein Drittel nur mit russischen Erzeugern konkurriert. Demnach befindet sich die Hälfte der russischen Unternehmen außerhalb des globalen Wettbewerbs.
Als WTO-Mitglied kann Russland den Zugang ausländischer Konkurrenz zum Binnenmarkt weiterhin regulieren: zum einen durch die erlaubten Schutzzölle und zum anderen durch die Anwendung von tarifären und nicht-tarifären Instrumenten - wie Schutzzölle, Antidumping-Maßnahmen und Einführung nationaler technischer Normen oder Gesundheits- und Pflanzenschutzvorschriften - die von der WTO zugelassen sind. Russland sollte lernen, diese Instrumente ebenso entschieden anzuwenden wie es andere Teilnehmer des Welthandels tun. Bisher hat Russland diese Instrumente sehr selten eingesetzt. Bis zum heutigen Tag wurden nur acht Schutz- und drei Antidumping-Maßnahmen gegen einen aggressiv wachsenden Import angewendet. Nach Angaben der WTO bestanden zwischen 1995 und 2009 weltweit allein 2374 Antidumpingzölle.
Darüber hinaus erleichtert eine Mitgliedschaft in der WTO die Beseitigung von Restriktionen gegen russische Produkte auf dem Weltmarkt. In schwierigen Fällen steht den Mitgliedsstaaten der - in der WTO angesehene - Streitschlichtungsmechanismus zur Verfügung. Eine WTO-Mitgliedschaft würde Russland das Recht geben, 97 Beschränkungen gegenüber russischen Waren, davon 45 Antidumpingzölle, 45 nicht-tarifäre Barrieren und sieben Schutzzölle, überprüfen zu lassen, wenngleich jede dieser Maßnahmen einzeln angefochten werden muss. Der Gesamtschaden dieser angewandten Restriktionen anderer Länder gegenüber Russland wird vom russischen Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung auf ca. 2 Mrd. US-Dollar geschätzt.
Resümee
Die grundlegenden Schlussfolgerungen unabhängiger Experten weisen darauf hin, dass der WTO-Beitritt in keinem einzigen Sektor der russischen Wirtschaft unlösbare Probleme schafft. Einzelnen Betrieben, die heute schon nicht wettbewerbsfähig sind, könnten kurzfristig Schwierigkeiten entstehen. Dies wird jedoch auf die Geschwindigkeit des wirtschaftlichen Wachstums im Ganzen nur einen geringen Einfluss haben. Andere Faktoren, wie die weltwirtschaftliche Konjunktur, Währungskursschwankungen, die Höhe der steuerlichen Belastung, Kreditvergabebedingungen und die Investitionstätigkeit, beeinflussen die russische Wirtschaft in einem viel größeren Maße, als die Pflichterfüllung Russlands gegenüber der WTO. Anders ausgedrückt, wird der negative Effekt einer Mitgliedschaft in der WTO - wenn dieser überhaupt bemerkbar sein wird - überhaupt nicht mit den Ereignissen der »Schocktherapie« der 1990er Jahre, der russischen Finanzkrise im Jahr 1998 oder den Folgen der aktuellen Weltwirtschaftskrise vergleichbar sein.
Gleichzeitig wird ein Beitritt Russlands zur WTO, wie es scheint, aber auch kaum dazu beitragen, die Rolle Russlands in der internationalen Arbeitsteilung zu verbessern. Dies liegt an der Struktur der russischen Wirtschaft. Der Rohstoffsektor ist auf Exporte orientiert, während ein Großteil der weiterverarbeitenden Branchen, des Agrarsektors und des Dienstleistungsbereichs nicht in der Lage ist, die Nachfrage des Binnenmarktes bezüglich Quantität oder Qualität zu befriedigen. Aus diesem Grund haben sich ausländische Produzenten in einigen Segmenten des russischen Binnenmarktes etablieren können. Diese Situation lässt sich nur durch eine qualitative Verbesserung der institutionellen Rahmenbedingungen für Wirtschaftstätigkeiten verändern, die strukturelle Veränderungen der Volkswirtschaft beschleunigen können.
Übersetzung: Christoph Laug
Über den Autor:
Prof. Dr. Vladimir P. Obolenskij ist Wirtschaftswissenschaftler und Leiter des »Zentrums für außenwirtschaftliche Aktivitäten« im Forschungsbereich »Institut der gegenwärtigen Wirtschaft und Innovationsentwicklung« an der Russischen Akademie der Wissenschaften (RAN).