Verteilungsungleichgewichte und -konflikte in einem insgesamt wohlhabenden Land
Das Volkseinkommen in Deutschland liegt bei rund 2,9 Billionen Euro (2022), das entspricht einem Pro-Kopf-Einkommen von 34.500 Euro im Jahr. Im Jahr 2010 lauteten die entsprechenden Werte noch 1,905 Billionen Euro bzw. 23.729 Euro. Solche Durchschnittswerte sagen jedoch wenig aus. Wie verteilt sich der Wohlstand? Wie sehen die Einkommens- und Lebensbedingungen je nach der sozialen Stellung aus? Ist die Ungleichheit in den zurückliegenden Jahren gewachsen oder hat sie sich verringert? Über die Verteilung des erwirtschafteten Wohlstandes in einer Gesellschaft kann nicht "objektiv" entschieden werden. Ausschlaggebend sind sowohl die Verhältnisse auf dem Arbeits- und Kapitalmarkt als auch die Ergebnisse der Politik. Weil es gegensätzliche Interessen gibt, sind Verteilungskonflikte unvermeidbar.
Im Verlauf der Jahrzehnte nach dem 2. Weltkrieg haben sich die Einkommen und Vermögen in Deutschland um ein Mehrfaches erhöht und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen grundlegend verbessert. Allein das Bruttogeldvermögen der privaten Haushalte (also noch ohne Berücksichtigung von Grundvermögen und Produktivvermögen) liegt 2022 bei fast 8 Billionen Euro. Im Vergleich zu vielen anderen Ländern der Welt, insbesondere in der südlichen Hemisphäre, erscheint Deutschland als ein Land des Wohlstands, ja des Überflusses.
Diese Beschreibung ist richtig und falsch zugleich. Richtig ist, dass es rechnerisch noch nie ein so hohes Wohlstands- und Versorgungsniveau in Deutschland gegeben hat wie heute. Irreführend wird diese Beschreibung jedoch dann, wenn damit der Eindruck erweckt wird, dass alle Menschen gleich gut gestellt sind, dass es also keine gravierenden Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppen der Bevölkerung gibt. Dies ist aber nicht der Fall. Statistische Mittelwerte ebnen Unterschiede in der Einkommensverteilung rechnerisch ein, machen Ungleichheiten unkenntlich. Und bei der Vermögensverteilung ist es unsinnig, aus der Gesamtsumme der Geldvermögen einen pro-Kopf Wert abzuleiten, denn ein kleiner Teil der Bevölkerung verfügt über ein hohes bis sehr hohes Vermögen, während der größte Teil wesentlich weniger aufweist − bis hin zur Verschuldung.
Eine Gleichverteilung von Einkommen, Vermögen, Lebensbedingungen und gesellschaftlicher Teilhabe gibt es nicht und kann es in einer Markt- und Leistungsgesellschaft auch nicht geben. Soziale Ungleichheit prägt das Gesicht der modernen Gesellschaft. Die grundlegende Frage ist dabei, wie groß die Unterschiede zwischen "unten" und "oben" sind, wie stark die "Mitte" der Gesellschaft besetzt ist und welche Entwicklung sich im Zeitverlauf zeigt, ob also die Ungleichheit gewachsen ist oder sich verringert hat. Hier stellt sich auch die Frage nach der intra- bzw. intergenerationalen Stabilität.
Bei der Analyse der Verteilung des erwirtschafteten Wohlstands geht es also nicht nur um die absolute Höhe der Einkommen und Vermögen, sondern vor allem auch um die relative Stellung von einzelnen Personen, Personengruppen oder Haushalten in der Hierarchie der Einkommen und Vermögen wie auch der Lebensbedingungen insgesamt. Untergliedert man die Bevölkerung nach demografischen und sozialen Merkmalen, dann fällt auf, dass es signifikante Unterschiede u.a. zwischen den Geschlechtern, Altersgruppen, Haushaltszusammensetzungen, Nationalitäten und Regionen gibt.
Gleichermaßen signifikante Abweichungen zeigen sich, wenn man nach dem schulischen und beruflichen Bildungsabschluss, dem Erwerbsstatus (Erwerbstätige, Arbeitslose, Rentner:innen), der beruflichen Stellung (Arbeiter:innen, Angestellte, Beamt:innen, Selbstständige) oder den Tätigkeitsanforderungen (Qualifikation) unterscheidet.
Die Einkommens- und Vermögensposition spielt deshalb eine zentrale Rolle bei der Analyse der Sozialstruktur einer Gesellschaft und der Zuordnung der Bevölkerung zu einzelnen sozialen Schichten. Je höher das Einkommen und Vermögen, umso besser ist nicht nur die Versorgung mit materiellen Gütern und mit Dienstleistungen, sondern die Lebensbedingungen insgesamt verbessern sich − so hinsichtlich der Größe und Qualität der Wohnung, der Wohnumgebung, der Freizeit und Urlaubsgestaltung, der Bildungsteilhabe und der sozialen Kontakte. Nicht zuletzt besteht zwischen hohen Einkommen und Vermögen auf der einen Seite und der wirtschaftlichen Macht und politischem Einfluss auf der anderen Seite ein enger Zusammenhang.
Über die Verteilung des erwirtschafteten Wohlstandes in einer Gesellschaft kann nicht "objektiv" entschieden werden, ausschlaggebend sind sowohl die Verhältnisse auf dem Arbeits- und Kapitalmarkt, als auch die Ergebnisse der Politik. Weil es gegensätzliche Interessen gibt, sind Verteilungskonflikte strukturell angelegt: So streiten Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände über Lohnerhöhungen und oftmals wird ein Kompromiss erst nach einem Streik erzielt. Und in der Politik herrschen höchst unterschiedliche Vorstellungen über die "richtige" Höhe von Steuern auf der einen Seite und von Sozialleistungen auf der anderen Seite. Die Liste der strittigen Themen ist lang. Auch in der Wissenschaft herrscht keineswegs Einigkeit über den Umgang mit den Problemen Verteilung bzw. Armut und Reichtum. Das beginnt bereits bei der Diagnose und setzt sich naturgemäß bei der Prognose und Therapie fort.
So muss politisch entschieden werden, wie hoch das sozialkulturelle Existenzminimum, d.h. die Grundsicherung, sein soll. Kontrovers ist die Frage nach der Besteuerung von Vermögen und Erbschaften. Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Es zeigt sich: Parteien kämpfen mit ihren verteilungspolitischen Konzepten um politische Mehrheiten; Verbände aller Art suchen ihre Interessen zur Geltung zu bringen.
Die Verteilungsproblematik steht oben auf der öffentlichen Agenda
Es ist erstaunlich, mit welcher Vehemenz sich die Auseinandersetzung mit verteilungspolitischen Fragestellungen seit der Jahrtausendwende ausgebreitet hat. Dies gilt für die Politik, die Medien und auch für die Wissenschaft. Die Frage, ob es in Deutschland "gerecht" zugeht, bewegt die Menschen. Sie ist aber in Deutschland bisher nicht zu einer größeren Bewegung im Sinne sichtbarer Proteste geworden. Allerdings haben die Erfolge der AfD durchaus auch mit der – wahrgenommenen oder tatsächlichen – Spaltung der Gesellschaft zu tun. Schließlich stellt aktuell sich die Frage, inwieweit die Folgen der Corona-Pandemie, des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, der Energiekrise und der hohen Inflation die Ungleichgewichte von Einkommen und Vermögen in der Gesellschaft noch verstärkt haben.
Eine Reinigungskraft wischt den Boden vor Chanel am Berliner Kurfürstendamm. Wenn Armut und Reichtum zunehmen, dann schrumpft die Mittelschicht. (© picture-alliance/dpa)
Eine Reinigungskraft wischt den Boden vor Chanel am Berliner Kurfürstendamm. Wenn Armut und Reichtum zunehmen, dann schrumpft die Mittelschicht. (© picture-alliance/dpa)
Ins Zentrum der Debatte ist vor allem die Armutsproblematik gerückt. Es geht um die Lebenslage der Bevölkerung eines Landes am untersten Ende der Einkommens- und Wohlstands"pyramide" im Verhältnis zum allgemeinen Einkommens- und Wohlstandsniveau. Ins Blickfeld geraten ist aber zunehmend auch die andere Seite der Medaille – kritisch diskutiert wird über die stärkere Konzentration von Vermögen und Reichtum auf das obere Ende der Bevölkerung. Und wenn Armut und Reichtum gleichermaßen zunehmen, so stellt sich dann das Problem, dass die "Mittelschicht" schrumpft. Welche Ursachen stehen hinter dieser Entwicklung, welche sozialen, politischen und ökonomische Folgen sind absehbar?
Dies hat dazu geführt, dass nicht nur die Bundesregierung und praktisch alle Bundesländer, sondern inzwischen auch sehr viele Kommunen Sozial- bzw. Armuts- und Reichtumsberichte erstellen, um empirisch abgesicherte Informationen über den Stand und die Trends der Verteilung von Einkommen, Vermögen und Lebenslagen zu erhalten. Die Formen, inhaltliche Breite und Tiefe der Berichte werden dabei zunehmend heterogener. So gibt es für die Bundesebene mit verschiedenen Schwerpunktsetzungen und regionalen Differenzierung nicht nur bald sieben Armuts- und Reichtumsberichte, sondern seit langem die so genannten Datenreports, die offiziell als "Sozialberichte für Deutschland" in etwa dreijährigem Abstand publiziert werden. Sie werden von der Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlicht und vom Statistischen Bundesamt, dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung erstellt. Daneben gibt es u.a. einen Teilhabebericht, einen Bericht zur Gleichwertigkeit von Lebensbedingungen im Raum und diverse einschlägig relevante Berichte der Ressorts und nachgeordneter Bundesbehörden. Auf Länderebene stehen Ländern mit einer langen Tradition von Sozialberichten (z.B. NRW und Bayern) solche mit erst spätem Einstieg in solche Berichtssysteme gegenüber (z.B. Baden-Württemberg). Neueren Datums sind auch regionalisierte Landesberichte zum Sozialraummonitoring bzw. Sozialstrukturatlanten. Ähnliches gilt auf der kommunalen Ebene, wobei hier oft thematisch engere Berichte oder Analysen speziell zur sozialräumlichen kleinteiligen Segregation vorzufinden sind.
Zwei unübersehbare Trends in der gesamten Szene der Sozial- bzw. Verteilungsberichterstattung der letzten Jahre sind hier für die Ebene der Länder und Kommunen noch anzuführen: Einerseits mehren sich die Berichte mit thematischer Fokussierung/engeren Schwerpunktsetzung wie Kinderarmut oder Altersarmut.
Andererseits gibt es eine Tendenz zu einem "Ranking". Solche Rangreihungen sind zwar insofern sinnvoll, dass sie in der Öffentlichkeit (Medien, Politik) am leichtesten Aufmerksamkeit erzeugen. Allerdings besteht dabei die Gefahr, dass ein kritischer Blick auf die Vielfalt von Problemursachen und -lagen dabei zu kurz kommt, von einer komplexen Ursachenanalyse bleiben diese eher betriebswirtschaftlichen, handwerklichen Denkweisen entspringenden Rankings meist meilenweit entfernt.
Die hohe Bedeutung der Verteilungsproblematik spiegelt sich auch in der Wissenschaft wider. Es zeigen sich neue Trends in der Forschung und in den entsprechenden Veröffentlichungen: Einschlägige Bücher wie "Der Preis der Ungleichheit" von Joseph Stiglitz (2012) haben nicht nur zu Nobelpreisehren des Autors geführt, sondern sich sogar international als Bestseller erwiesen. Gleiches gilt für die Studie von Wilkinson und Pickett (2012) sowie "Das Kapital im 21. Jahrhundert" von Thomas Piketty (2014). Das im März 2016 veröffentliche Buch von Marcel Fratzscher − Präsident des renommierten Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) − wurde damals im Spiegel vorab vorgestellt. Der Klappentext dieses Buches enthält einen kurzen Abschnitt (vgl. Kasten), der das komplexe Spektrum der sich stellenden Fragen exemplarisch aufspannt.
QuellentextVerteilungskampf: Warum Deutschland immer ungleicher wird
"Wohlstand für alle" – das ist seit Ludwig Erhard das Credo der deutschen Politik. Doch Deutschland ist an seinem Ideal gescheitert: In unserer Marktwirtschaft wird mit gezinkten Karten gespielt.
Quelle: Klappentext des Buches von Marcel Fratzscher 2016.
Die Problematik einer "angemessenen" oder "gerechten" Verteilung ist allerdings keineswegs neu. Verteilungsfragen sind so alt wie die Geschichte der Menschheit. Die Aufteilung des Erwirtschafteten war schon immer konflikthaft und hat zur Suche nach Regeln für die Verteilung geführt. Das hat sich von der Antike
Verteilung aus einem stark wachsenden Kuchen ist einfacher und weniger konfliktträchtig als eine Umverteilung des Bestandes. Sogar am Ende der Wirtschaftswunderzeit war es politisch nicht mehrheitsfähig, das Verteilungsziel zu einem der "magischen" Ziele des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft von 1967 zu machen. Bei aktuellen Überlegungen zur Reaktivierung dieses geltenden, von der Politik aber jahrzehntelang geradezu ignorierten Gesetzes könnte das Thema Verteilung wohl nicht mehr als allenfalls zweitrangig behandelt werden.
Das hängt naturgemäß auch damit zusammen, dass sich die Ungleichheit der Einkommen und Vermögen in Deutschland und in vielen anderen Ländern tatsächlich erhöht hat (vgl. zu ausführlichen Belegen "
Die seit der Jahrtausendwende in Deutschland verstärkt einsetzende Verteilungsdebatte und -forschung zeigt in der zeitlichen Abfolge unterschiedliche Schwerpunkte auf: Anfangs wurde mit sehr starkem sozialpolitischem Impetus der Aspekt Armut diskutiert: Wer wird, ist, bleibt arm? Wie kann diesen Menschen durch Sozialleistungen und Förder-, Qualifikations- und Integrationsmaßnahmen am besten geholfen werden? Wie kann die Entstehung von Armutslagen präventiv vermieden werden? Danach geriet stärker die gesamte Verteilung von Einkommen und Vermögen in der Gesellschaft in den Blick und entsprechend das andere Ende des Verteilungsspektrums − der Reichtum.
Die stark sozialpolitische Orientierung der Diskussion trat dabei etwas in den Hintergrund und eine eher funktionale Sichtweise hat an Bedeutung gewonnen:
Welche Folgen hat eine wachsende Ungleichverteilung: Verliert die Gesellschaft an Humankapital, wenn Kinder wegen Armut unterhalb ihrer individuellen Bildungsmöglichkeiten bleiben?
Hat eine zu starke Ungleichheit negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung, also auf das Wirtschaftswachstum, die Produktivität und die gesamtwirtschaftliche Nachfrage?
Hat die hohe Krisenanfälligkeit der internationalen Wirtschaft etwas mit dem Überangebot an spekulativem Kapital zu tun?
Wirkt eine zunehmende Ungleichheit der Einkommen und Vermögen gerade nicht leistungssteigernd sondern im Gegenteil demotivierend?
Führen das Auseinanderklaffen zwischen Arm und Reich und die Erosion der Mittelschicht zu einer Akzeptanzkrise des Modells der sozialen Marktwirtschaft?
Werden dadurch der gesellschaftlichen Zusammenhalt, die politische Stabilität und die demokratische Ordnung des Landes gefährdet?
Reichtum wird also weniger als solcher problematisiert, sondern die wachsende Ungleichheit wird auf ihre Effekte hin betrachtet. Es geht also nicht um eine "Neiddebatte", wie oft unterstellt wird um das Verteilungsproblem zu tabuisieren.
Allerdings: Geradezu befeuert worden ist die Verteilungsdebatte durch die extrem hohen Vergütungen und Bonuszahlungen der Vorstandsvorsitzenden der im DAX notierten Aktiengesellschaften. Hinzu kommen die vielfältigen Skandale der letzten Jahre: Steuerhinterziehungen im großen Stil durch die Gründung von Briefkastenfirmen in Panama oder durch die mehrfache Rückerstattung von (nicht gezahlter!) Körperschaftsteuer (Cum-Ex) werfen die Frage auf, ob die "normalen" Arbeitnehmer:innen, denen die Lohnsteuer automatisch abgezogen wird, nicht die Dummen sind, während auf der anderen Seite die finanziell wirklich Leistungsstarken sich ihren Verpflichtungen entziehen können.