Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Ökonomische Instabilität | Verteilung von Armut + Reichtum | bpb.de

Verteilung von Armut + Reichtum Haushaltseinkommen Einkommensarmut Grundsicherung als Einkommensminimum Prinzipien und Berechnung der Grundsicherung Empfängerzahlen und Dunkelziffer der Nicht-Inanspruchnahme Grundsicherung und Armutsrisiko Hartz IV: Grundsicherung für Arbeitsuchende Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung Leistungen an Asylbewerber Einkommensreichtum Defizite der Reichtumsforschung Messverfahren Zeitliche Entwicklung und regionale Unterschiede Spitzeneinkommen Vermögensverteilung Methodische Fragen Verteilungskennziffern im Vergleich Gruppenspezifische Befunde Vermögensarmut Vermögensreichtum, Superreiche Entstehung und Nachhaltigkeit Überschuldung Steuern und Beiträge Steuern, Beiträge und Sozialleistungen Steuerarten und Steuerbelastung Verteilungswirkungen von Steuern Verteilungswirkungen von Sozialversicherungsbeiträgen Verbindungen von Beiträgen und Leistungen der Sozialversicherung Zusammenwirken von Steuern und Beiträgen Steuern und Beiträge im internationalen Vergleich Folgen einer wachsenden Ungleichheit Erosion der Mittelschicht Ökonomische Instabilität Gefährdung des Zusammenhalts Verringerung von Einkommensungleichheit und Armutsrisiken Grundlagen der Verteilungspolitik Erwerbsbeteiligung und prekäre Beschäftigung Lohnersatzleistungen Grundsicherung und Armutsbekämpfung Steuerpolitik als Verteilungspolitik Einkommensumverteilung Bedingungsloses Grundeinkommen Privatisierung der Sozialversicherung Internationaler Vergleich Mittlere Position Deutschlands Vergleich von Industrieländern Vergleich von Schwellenländern Vergleich von Entwicklungsländern Der Welthunger-Index Infografiken Glossar Literatur und Daten Redaktion

Ökonomische Instabilität

Gerhard Bäcker Ernst Kistler

/ 5 Minuten zu lesen

Welchen Einfluss haben die Verwerfungen in der Verteilung von Einkommen und Vermögen auf die wirtschaftliche Entwicklung?

Frankfurt 2011, Demonstration der Occupy-Bewegung gegen die Macht der Banken in Frankfurt. Von wachsender Bedeutung ist auch die Frage, ob die aufklaffenden Verteilungsdisparitäten ein Ursachenfaktor für die ökonomischen Instabilitäten und die schwerwiegenden Krisen der Weltwirtschaft sind. (© picture-alliance)

Die Frage nach den Auswirkungen einer Veränderung in der Einkommensverteilung auf das Wachstum einer Volkswirtschaft wird in den Sozialwissenschaften, zu denen auch die Volkswirtschaftslehre gehört − oder zumindest gehören sollte − seit langem gestellt, aber nur eher verhalten diskutiert . Das liegt nicht zuletzt daran, dass Verteilungsanalysen jahrzehntelang keine große Rolle spielten und zumindest in Deutschland nicht dem "Mainstream" der ökonomischen Disziplinen entsprachen. Die unzureichende Datenlage ist gleichzeitig Ursache und Folge dieser zumindest teilweisen Ignorierung einer eigentlich zentralen Fragestellung der Nationalökonomie.

Wie sich die wachsende Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen volkswirtschaftlich auswirkt, ist umstritten . Der Sachverständigenrat Wirtschaft hält die Entwicklung in Deutschland beispielsweise für unproblematisch: "Ein Mindestmaß an Ungleichheit ist für eine leistungsfähige Volkswirtschaft unerlässlich, um die Teilhabe möglichst vieler Personen zu sichern und wirtschaftlichen Fortschritt zu ermöglichen". Diese traditionelle Argumentation geht davon aus, dass ein hohes Maß an sozialstaatlicher Umverteilung (Stichwort: Steuerbelastung) zu negativen Leistungs- und Innovationsanreizen führe – mit der Folge niedriger Zuwächse von Produktivität und Wachstum. Ungleichheit hingegen wirke als Motor für Leistungs- und Innovationsanreize. Mehr noch: Wenn über diesen Mechanismus die Einkommen am oberen Ende der Skala zunehmen, sei das für das untere Ende der Skala kein Problem, denn infolge der Wachstumszuwächse sickern die Einkommenszuwächse langsam auch nach unten durch (Das so genannte "Trickle down Paradigma"). Oder pointiert formuliert: Wenn die leistungsstarken Pferde mehr zu fressen kriegen, haben auch die Spatzen etwas davon, da sie von den Pferdeäpfeln profitieren.

Internationale Organisationen – wie der Internationale Währungsfond und die OECD (2015) – sehen dagegen die zunehmende soziale Ungleichheit als eine zentrale ökonomische Herausforderung an. Denn − so die Analysen – die aufklaffende Schere schadet einer nachhaltigen gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, im nationalen und internationalen Maßstab. Unter dem Eindruck der Fakten schätzt die OECD, die jahrelang eher eine stärkere Einkommensdifferenzierung propagiert hatte, in mehreren Studien, dass in Deutschland ohne den Anstieg der Ungleichheit zwischen 1985 und 2005 der Zuwachs des Sozialproduktes im Zeitraum zwischen 1990 und 2010 um 6 Prozent höher gelegen hätte. Für 19 OECD-Länder wird von einem durch die gestiegene Ungleichverteilung eingetretenen Wachstumsverlust um 4,7 Prozentpunkte gesprochen. Ausschlaggebend dafür sei, dass die unteren 40 Prozent in der Einkommensverteilung immer weniger in Bildung investieren (können). Die Ursachen der wachsenden Ungleichheit sieht sie zusammen mit dem IWF insbesondere in der von ihr selbst in den 1990erJahren empfohlenen Schwächung von Arbeitsmarktinstitutionen und dabei insbesondere der abnehmenden Tarifbindung. Der IWF zeigt darüber hinaus in einer Studie, dass ein Anstieg der Einkommen des oberen Fünftels der Einkommensskala zu einer Abschwächung des Wirtschaftswachstums führt, während ein Anstieg der Einkommen des unteren Einkommensfünftels mehr Wachstum zur Folge hat.

Auf diese internationalen Studien über die negativen gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen der wachsenden Spreizung in der Einkommensverteilung hat der Sachverständigenrat in seinem Jahresgutachten 2017/2018 (S. 414) kritisch reagiert. Unbestritten richtig ist dabei seine Feststellung, dass die verschiedenen vorliegenden Befunde aus Untersuchungen zum Zusammenhang von (veränderter) Einkommensverteilung und Wachstum hochgradig von verschiedenen Annahmen, der wirtschaftlichen Situation eines Landes bzw. dem betrachteten Zeitraum − und den verwendeten Daten! − abhängig sind. Seine Kritik, dass die einzelnen Befunde nicht aussagefähig seien, greift jedoch zu kurz.

Einen detaillierteren Überblick über solche Studien, unter Offenlegung von deren Annahmen und Methoden sowie zentralen Befunden, liefern dagegen Behringer u. a. . Sie kommen zu folgendem Ergebnis: "Der Zusammenhang zwischen Einkommens- und Vermögensverteilung sowie dem gesamtwirtschaftlichen Wachstum ist überaus komplex, und es darf bezweifelt werden, dass sich ein allgemeingültiger Befund für alle Zeiten wirtschaftlicher Aktivität ableiten lässt ... Von den 19 Studien ... finden neun einen negativen Zusammenhang, drei einen positiven und sieben unterscheiden verschiedene Effekte in Abhängigkeit weiterer Faktoren". Die Autoren folgern, dass eher ein negativer und von den Rahmenbedingungen geprägter Zusammenhang − ein geringeres Wachstum aufgrund steigender bzw. hoher Ungleichverteilung − besteht; dies aber weniger wegen der geringen Zahl der gegenteiligen Befunde, sondern weil dieser negative Zusammenhang zwar nicht neu, jedoch vor allem in der Zeit nach der Wirtschafts- und Finanzkrise ab 2007 zu beobachten ist.

Die empirischen Befunde zu den Zusammenhängen zwischen zunehmender Ungleichheit und wirtschaftlicher Entwicklung thematisieren nicht nur die negativen Rückwirkungen auf Wachstum und Wohlstand. Von wachsender Bedeutung ist auch die Frage, ob die aufklaffenden Verteilungsdisparitäten ein Ursachenfaktor für die ökonomischen Instabilitäten und die schwerwiegenden Krisen der Weltwirtschaft sind – wie insbesondere für die Finanz- und Währungskrise 2008 bis 2010. Die Argumentation der Negativeffekte basiert jeweils auf einem angebots- und einem nachfragebezogenen Ansatz: Nachfrageseitig wird davon ausgegangen, dass die Bezieher unterer Einkommen zu gering in Bildung investieren (können). Bildung (Humankapital) ist aber unbestreitbar ein wichtiger Treiber von Innovationen und wirtschaftlichem Wachstum. Nachfrageseitig wird befürchtet, dass ohne eine ausreichend hohe Binnennachfrage, die ja insbesondere aus den unteren und mittleren, stark besetzten Einkommensschichten gespeist wird, der private Konsum (der in entwickelten Volkswirtschaften zwischen 60 und 70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmacht) gebremst wird. Entweder kommt es – wie in Deutschland – zu hohen Leistungsbilanzüberschüssen oder aber die Einkommensschwäche wird – wie vor allem in den USA – durch eine überhöhte private Überschuldung ausgeglichen. Diese aber hat maßgeblich zu der Finanzkrise nach 2007 beigetragen. Nach Piketty "gibt es keinerlei Zweifel daran, dass wachsende Ungleichheit zur Destabilisierung des US-amerikanischen Finanzsystems beigetragen hat".

Der amerikanische Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften Joseph Stiglitz formuliert diese Problematik − für die USA, aber auch mit Blick auf andere Länder wie Deutschland − noch weitergehend: "Tatsächlich zahlen wir für unsere wachsende und übergroße Ungleichheit einen hohen Preis: Neben Defiziten in puncto Wachstum und BIP haben wir es mit wachsender Instabilität, einer Schwächung der Demokratie, dem Gefühl, dass Fairness und Gerechtigkeit keine große Rolle mehr spielen, und sogar der Infragestellung unserer nationalen Identität zu tun."

Zu beachten ist auch der Hinweis von Albig u. a. "dass der Fokus der Diskussion über die makroökonomischen Folgen zunehmender Einkommensungleichheit zu Unrecht auf den negativen Auswirkungen auf das Bruttoinlandsprodukt liegt, denn der für die Lebensqualität der Menschen ungleich wichtigere private Konsum wird noch stärker und dauerhaft gemindert."

Welche Wirkungszusammenhänge in der konkreten gegenwärtigen Situation Deutschlands in der Frage nach einer positiven oder negativen Beziehung zwischen Verteilung und Wirtschaftswachstum bestehen, soll und kann in diesem Themenspecial nicht entschieden werden. Dahinter steht der Streit zwischen verschiedenen, konkurrierenden ökonomischen Theorien − und den diese prägenden Interessen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Van Treek 2018, S. 3 ff; van Treek/Urban 2017.

  2. Vgl. Schmidt 2016.

  3. Sachverständigenrat Wirtschaft (2014), S. 271.

  4. Dabla-Norris u.a. 2015.

  5. Behringer u. a. (2016), S. 2.

  6. Piketty (2014), S. 391.

  7. Joseph Stiglitz (2012), S. 23.

  8. Albig u. a. (2017), S. 159.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autoren/-innen: Gerhard Bäcker, Ernst Kistler für bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und der Autoren/-innen teilen.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

Weitere Inhalte

Gerhard Bäcker, Prof. Dr., geboren 1947 in Wülfrath ist Senior Professor im Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen. Bis zur Emeritierung Inhaber des Lehrstuhls "Soziologie des Sozialstaates" in der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften der Universität Duisburg-Essen. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Empirie des Wohlfahrtsstaates in Deutschland und im internationalen Vergleich, Ökonomische Grundlagen und Finanzierung des Sozialstaates, Systeme der sozialen Sicherung, insbesondere Alterssicherung, Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Lebenslagen- und Armutsforschung.

Ernst Kistler, Prof. Dr., geboren 1952 in Windach/Ammersee, verstorben 2021, war Direktor des Internationalen Instituts für Empirische Sozialökonomie, INIFES gGmbH in Stadtbergen bei Augsburg. Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Arbeitsmarktberichterstattung, Demografie, Sozialpolitik, Armutsforschung.