Mittlere Position Deutschlands im internationalen Vergleich
Gerhard BäckerErnst Kistler
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Zu den Themen Verteilung, Armut und Reichtum liegen vielfältigste internationale Vergleiche zu Deutschland vor. Alleine wegen der unterschiedlichen Vergleichsdimensionen herrscht in der Öffentlichkeit eine heillose Verwirrung über die Positionen Deutschlands.
Warum ist das so? Nachfolgend werden zunächst die Relevanz und einige Probleme der internationalen Komparatistik kurz angesprochen, bevor exemplarisch Ergebnisse aus internationalen Vergleichsstudien vor- und einander gegenübergestellt werden.
Relevanz und Probleme internationaler Vergleiche
In den verteilungspolitischen Debatten spielen internationale Vergleiche eine große Rolle. Je nach Position werden verschiedene andere Länder bzw. die dort verfolgten Strategien zur Verteilungspolitik als Vorbilder oder (nicht selten gleichzeitig) als abschreckende Beispiele genannt.
Neben einer in den letzten Jahren stark angestiegenen Zahl von Einzelstudien zum Thema liegen inzwischen eine Reihe von mehr oder weniger regelmäßig erscheinenden Berichten (z.T. inklusive der zugehörigen Datenbasen) vor, die internationale Vergleiche erlauben und auch entsprechende Rankings ermöglichen. Zu nennen sind hier Berichte internationaler Organisationen (z.B. UN, OECD, Europäische Kommission, Weltbank) ebenso wie solche von Banken, privaten Organisationen oder internationalen Beratungsunternehmen (z.B. Credit Suisse, OXFAM, Boston Consult).
Internationale Vergleiche von Daten zum Stand und zur Entwicklung der Verteilung, zur Verbreitung von Armut und Reichtum werden aus verschiedenen Gründen angestellt:
Information und Analyse,
Selbstvergewisserung über Erfolge und Misserfolge des eigenen Landes,
Frühwarnfunktion bzw. Suche nach (positiven bzw. negativen) Vorbildern; Beobachtung von Auswirkungen.
Informationen über den Stand und die Entwicklung bzw. zur Analyse von deren Ursachen sind zunächst einmal von Interesse in solchen Fällen, wo Verteilungsprobleme in anderen Ländern auch Ziele deutscher Politik betreffen. Beispiele hierfür sind etwa die auch von Deutschland mit getragenen und unterstützten Ziele einer Reduzierung der Zahl der von extremer Armut betroffenen Personen im Rahmen des UN Development Programms (UNDP) oder von Zielen der EU in Bezug auf die Reduzierung von Exklusion und Teilhabeproblemen.
Der Vergleich mit anderen Ländern dient auch der Selbstvergewisserung. Z. B.: Weicht die Entwicklung der Verteilung im eigenen Land von der Entwicklung in vergleichbaren anderen Ländern ab; gegebenenfalls: Warum? Insbesondere im politischen Diskurs wird der Blick auf die Verteilung von Einkommen und Vermögen in anderen Ländern gerichtet. Dabei wird häufig anhand von Rankings argumentiert, Rangreihungen hinsichtlich einzelner oder kombinierter Verteilungsindikatoren. (Diese sind eingängiger als die Gegenüberstellung vieler Facetten des Themas Verteilung. Sie sind mediengeeigneter. Sie verkürzen aber auch die Informationen und verengen den Transfer internationaler Erfahrungen).
Rankings sind gerade hinsichtlich des dritten oben genannten Grundes für internationale Vergleiche, der Frühwarnfunktion problematisch. Von anderen Ländern und deren guter oder schlechter Praxis zu lernen bzw. den Auswirkungen und Folgen bestimmter politischer Maßnahmen setzt mehr Informationen voraus als es sich in Ranking-Tabellen abbilden lässt.
In den vorliegenden vergleichenden Berichten oder zumindest in den entsprechenden Hintergrundpapieren zeigt sich, dass eine internationale Komparatistik auch zu diesen Themen erhebliche Probleme aufwirft, z.B.:
uneinheitliche Definitionen in den zugrundeliegenden nationalen Datenquellen,
uneinheitliche Messmethoden in verschiedenen Ländern,
uneinheitliche zeitliche Bezugspunkte der jeweils aktuellst verfügbaren nationalen Daten.
Wo die Herausgeber derartiger internationaler Vergleiche sich um eine bessere Vergleichbarkeit der Daten aus den verschiedenen Ländern, um Umrechnungen oder die Berücksichtigung von Trends bemühen gilt, dass das Niveau des langsamsten bzw. schwächsten Kamels die Geschwindigkeit der Karawane bestimmt. Das gilt in ganz besonderem Maß für das Grundproblem aller Daten/Statistiken zur Verteilung von Einkommen und Vermögen bzw. Armut und Reichtum, nämlich die Unvollständigkeit der Erfassung an den Enden der Verteilung. Das gilt natürlich auch hinsichtlich der Aktualität der verfügbaren Daten.
Die Verteilung von Einkommen, aber auch Vermögen, speziell von Armut oder generell der Lebenslagen zwischen einer modernen Industrienation und den Bewohnern eines weitgehend isoliert lebenden Volksstamms irgendwo in den Tropen hängt nicht zuletzt vom Grad des Funktionierens der Subsistenzwirtschaft bzw. der Zivilgesellschaft ab.
Internationale Vergleiche der Einkommens- und Vermögensverteilung
Die OECD hat in ihrem Bericht "Gesellschaft auf einen Blick" im Jahr 2019 eine Reihe von interessanten Ergebnissen zur Vermögens- und vor allem zur Einkommensverteilung vorgelegt, die sich in den meisten Vergleichsländern auf das Jahr 2015 beziehen (darunter auch Deutschland).
In der Abbildung "Das Vermögen ist ungleicher verteilt als das Einkommen" zeigt sich, dass die Anteile der oberen zehn Prozent der Verteilung der Haushalte bei den Nettovermögen durchgängig in allen OECD-Ländern über dem Anteil bei den verfügbaren Einkommen liegt.
Am zweitgrößten unter allen Ländern in der Abbildung ist die Ungleichverteilung der Nettovermögen in Deutschland, hinter den USA und knapp vor Dänemark. Bei den verfügbaren Haushaltseinkommen liegt der Anteil in der Bundesrepublik Deutschland erheblich niedriger. Das gilt bezogen jeweils auf den Indikator Anteil der obersten 10 Prozent – aber nicht unbedingt bezüglich anderer Maßzahlen zur Messung der Verteilung.
Allerdings kann trotz dieser Einschränkung eine Verallgemeinerung festgehalten werden: Es gibt keine Datenquelle und keinen repräsentativen Indikator, der eine größere Ungleichheit bei den Nettovermögen als bei den Haushaltsnettoeinkommen zeigt! Dies ist auch Konsens unter allen Diskutanten zum Thema!
Warum dieser Unterschied in der Verteilung von Vermögen und Einkommen aber in den drei oben genannten Ländern so deutlich und in den anderen Ländern geringer ausfällt, ist damit jedoch noch nicht geklärt. Hierzu sind weitere Informationen und Analysen nötig wie z.B. der Vergleich zwischen Dänemark und Finnland nahelegt, oder der Vergleich zwischen dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten.
Die logische Konsequenz daraus ist, dass weitere multidisziplinäre Informationen und Methoden sowie Zeitreihen in solcherart Hinterfragung von Ländervergleichen einzubeziehen sind. Auch aus Vergleichen von Ländergruppen (z.B. Industrieländer, Schwellenländer, Entwicklungsländer) können zusätzliche wichtige Erkenntnisse erwartet werden.
Der Abbildung "Ergebnisse von Ländervergleichen hängen vom gewählten Indikator ab" ist zu entnehmen, dass Deutschland unter den dargestellten Vergleichsländern bezüglich des Gini-Koeffizienten der Verteilung des verfügbaren Haushaltseinkommens und der so genannten 90 : 10- Relation (vgl. "Verfügbare Haushaltseinkommen") beide Male den Rangplatz 15 einnimmt und damit unter dem OECD-Durchschnitt liegt. In anderen Ländern ist die Rangziffer dagegen je nach Indikator unterschiedlich.
Besonders der höhere Wert in den sechs Ländern am rechten Rand ist auffällig. Unter diesen finden sich jedoch wiederum Länder wie China und Indien mit sehr verschieden großen Werten und Abständen zwischen den beiden betrachteten Indikatoren. Was ist der Grund hierfür?
Die Abbildung zeigt die "Große Varianz bei den verfügbaren Nettoäquivalenzeinkommen". Die Werte beziehen sich auf alle OECD-Länder sowie einige weitere Länder und auf das Jahr 2016 bzw. das nächst jüngere Land, für das die OECD-Datenbank über die Zahlen verfügt. Die wiedergegebenen Balken sind in US-Dollar gerechnet und mit der jeweiligen Kaufkraftparität vergleichbar gemacht.
Einiges an den in der Abbildung enthaltenen Ergebnissen dürfte für die Öffentlichkeit überraschend sein, z. B.:
Deutschland rangiert zwar wie erwartet über dem OECD-Durchschnitt, gleichzeitig aber ebenso deutlich hinter den so unterschiedlichen Nachbarländern wie Belgien, Österreich, der Schweiz und Luxemburg.
Länder wie Japan oder das Vereinigte Königreich weisen niedrigere durchschnittliche verfügbare Nettoäquivalenzeinkommen auf als der OECD-Durchschnitt, sind diesbezüglich aber Ländern wie Italien und Spanien vergleichbar.
Die Russische Föderation hat um ein Mehrfaches höhere durchschnittliche verfügbare Nettoäquivalenzeinkommen als China oder gar Indien.
Die vorgenannten Ergebnisse werden in diesem Themenspecial nicht nur präsentiert um gängige Stereotype in der Bevölkerung zu zerstören, sondern auch um vor einer Selbstüberschätzung von Personen wie nationalen Politike(r)n zu warnen: Deutschland ist ein im internationalen Vergleich sehr reiches Land – aber nicht das "reichste"! Und: Den Bewohnerinnen und Bewohnern dieses Landes geht es im Durchschnitt sehr gut – aber nicht allen!
Armutsrisikoquoten
In der Tabelle "Armutsrisikoquoten 2006 bis 2018" werden die Zeitreihen für das relative Risiko der Einkommensarmut für Deutschland, die Europäische Gemeinschaft der 28 Mitgliedsstaaten (EU-28) und den Euroraum (EU-19) einander gegenüber gestellt.
Die Werte für Deutschland liegen in allen betrachteten Jahren unterhalb der Vergleichswerte für EU-28 und EU-19. Der Anstieg der deutschen Armutsrisikoquote zwischen 2006 und 2018 ist wesentlich stärker als in der Eurozone EU-19. In Deutschland ist am aktuellen Rand ein Rückgang zu verzeichnen, von 16,1 auf 16,0 Prozent und in der Eurozone EU-19 eine Stagnation. Soweit Werte bezogen auf EU-28 für die einzelnen Jahre vorliegen (ab 2010, als die letzten EU-Beitritte erfolgten) liegen diese immer sehr nahe bei EA-19. 2018 beträgt er 0,4 Prozent.
Armutsrisikoquoten 2006 bis 2018
in Prozent
Jahr
Deutschland
EU-28
EA-19
2006
12,5
-
15,6
2007
15,2
-
16,1
2008
15,2
-
16,1
2009
15,5
-
16,2
2010
15,6
16,5
16,3
2011
15,8
16,9
16,8
2012
16,1
16,8
16,9
2013
16,1
16,7
16,7
2014
16,7
17,2
17,1
2015
16,7
17,3
17,2
2016
16,5
17,3
17,4
2017
16,1
16,9
17,0
2018
16,0
16,6
17,0
Quelle: European Commission 2020.
Bei allen in der Tabelle sichtbar gewordenen Schwankungen: Es ist offensichtlich, dass die politische Zielsetzung einer Reduzierung von relativer Einkommensarmut im betrachteten Zeitraum verfehlt wurde, in Deutschland wie im EA-19-Durchschnitt. Die Armutsrisikoquote ist dabei in Deutschland mit einem Zuwachs um 3,5 Prozentpunkte deutlicher angestiegen als im Euroraum ("Entwicklung der Armutsrisikoquoten 2018 gegenüber 2006").
Gruppenspezifische Unterschiede bei der relativen Armut
Zu den Zielsetzungen der Politik gehört wohl in allen Ländern, gruppenspezifische Unterschiede in der Betroffenheit von Einkommensarmut zu überwinden. Das bedeutet, Unterschiede aufgrund z.B. des Geschlechts, eines Migrationshintergrunds oder für bestimmte Altersgruppen sollen verhindert werden. In der Tabelle "Gruppenspezifische Armutsrisikoquoten in Deutschland, EU-28 Und EA-19 im Jahr 2018" zeigen sich jedoch gerade solche Unterschiede. Diese sind strukturell und von anhaltender Natur, auch wenn dabei über Zeit die Abweichungen von der durchschnittlichen Armutsrisikoquote schwanken.
Die Frauen sind in Deutschland etwas stärker als im Durchschnitt der Europäischen Union bzw. als im Euroraum in stärkerem Maß einkommensarm als Männer. So beträgt laut dieser Datenquelle die Armutsrisikoquote für die Frauen in Deutschland im Jahr 2018 16,8 Prozent, während sie für die Männer bei 15,2 Prozent liegt (Differenziertere Ergebnisse für Deutschland auf Basis des Mikrozensus finden sich in Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2020). In EU-28 und EA-19 ist dieser Geschlechterunterschied in der Armutsbetroffenheit geringer als in Deutschland.
Gruppenspezifische Armutsrisikoquoten in Deutschland, EU-28 und EA-19 im Jahr 2018
in Prozent
Deutschland
EU-28
EA-19
Gesamte Bevölkerung
16,0
16,6
17,0
nach Geschlecht
Männer
15,2
16,2
16,4
Frauen
16,8
17,5
17,6
nach Alter
bis 17 Jahre
14,5
19,6
20,1
18 bis 64 Jahre
15,7
16,5
16,7
ab 65 Jahre
18,2
15,5
14,9
Quelle: Eigene Darstellung nach European Commission 2020.
Bei den in der Tabelle gezeigten Armutsrisikoquoten nach Altersgruppen ist zu beachten, dass einerseits eine weitere gruppenspezifische Differenzierung zu teils noch viel höheren Einkommensarmutsquoten führt. Zwei Beispiele sind etwa Kinder in Alleinerziehendenhaushalten oder auch RentnerInnen versus Pensionäre. Für den Vergleich zwischen Deutschland und EU-28 bzw. EA-19 ist es jedoch auf der generelleren Ebene bemerkenswert, dass bis 17-Jährige in Deutschland mit 14,5 Prozent eine im Schnitt geringere Armutsrisikoquote haben, ab 65-Jährige dagegen mit 18,2 Prozent eine erheblich höhere als in den Vergleichsräumen. Das gilt bezogen auf die Älteren auch im Vergleich Deutschland mit EU-28 und mit EA-19.
Die Abbildung "Sehr verschiedene Entwicklungen im Länderranking bei der Armutsrisikoquote" demonstriert andererseits, dass es für eine Identifizierung von Entwicklungsmustern oder eine Ländertypisierung eigentlich keine tragfähige Grundlage gibt.
Sieben der 28 Länder der EU weisen besonders große Veränderungen von sieben und mehr Rängen auf. Gemeinsamkeiten sind nicht erkennbar. Eine Verbesserung in diesem recht langen Zeitraum weisen zwei sehr unterschiedliche Länder auf, Polen und Irland. Eine Verschlechterung ist für fünf Länder zu beobachten, darunter so unterschiedliche wie Estland, Deutschland (-8) und Luxemburg sowie besonders ausgeprägt, zwei so gegensätzliche Länder wie Bulgarien und Schweden.
In der Tabelle "Armutsrisikoquoten nach Geschlecht 2007 bis 2018" wird der Anteil der armutsgefährdeten Frauen und Männer in Zeitreihen für Deutschland, die Europäische Union und den Euroraum dargestellt.
Armutsrisikoquoten nach Geschlecht 2007 bis 2018
in Prozent
Jahr
Deutschland
EU-28
EA-19
Frauen
Männer
Frauen
Männer
Frauen
Männer
2007
16,3
14,1
-
-
17,1
15,1
2008
16,2
14,2
-
-
17,1
15,0
2009
16,3
14,7
-
-
17,1
15,2
2010
16,4
14,9
17,2
15,8
17,1
15,5
2011
16,8
14,9
17,6
16,1
17,6
16,0
2012
17,2
14,9
17,4
16,2
17,6
16,1
2013
17,3
15,0
17,2
16,2
17,3
16,1
2014
17,4
15,9
17,7
16,7
17,7
16,5
2015
17,4
15,9
17,7
16,9
17,7
16,8
2016
17,8
15,2
17,9
16,6
18,1
16,7
2017
17,1
15,0
17,6
16,3
17,7
16,3
2018
16,8
15,2
17,5
16,2
17,6
16,4
Quelle: Eigene Zusammenstellung nach European Commission 2020.
Im Vergleich der Werte zu Beginn und zum Ende der Betrachtungsperiode ergibt sich in allen drei Vergleichsräumen ein Anstieg sowohl bei den Armutsrisikoquoten der Frauen als auch der Männer. Gleichzeitig wird sichtbar, dass die Armutsrisikoquoten unabhängig von den zu beobachtenden Schwankungen bei den Frauen immer über denjenigen der Männer liegen. Außerdem kann von einer Abnahme des Geschlechterunterschieds in der Betroffenheit von relativer Einkommensarmut allenfalls im Euroraum, nicht aber in Deutschland und in EU-28 gesprochen werden (vgl. "Geschlechterunterschiede bei der relativen Einkommensarmut 2007 bis 2018").
Geschlechterunterschiede bei der relativen Einkommensarmut 2007 bis 2018
in Prozentpunkten
Jahr
Deutschland
EU-28
EA-19
2007
2,2
-
2,0
2008
2,0
-
2,1
2009
1,6
-
1,9
2010
1,5
1,4
2,6
2011
1,9
1,5
1,6
2012
2,3
1,2
1,5
2013
2,3
1,0
1,2
2014
1,5
1,0
1,2
2015
1,5
0,8
0,9
2016
2,6
1,3
1,4
2017
2,1
1,3
1,4
2018
1,6
1,3
1,2
Quelle: Eigene Berechnungen nach European Commission 2020.
Zusammengefasst: Von Erfolgen im Hinblick auf die propagierten verteilungs- und geschlechterpolitischen Ziele kann weder in Deutschland noch in der Europäischen Union und eigentlich auch im Euroraum nicht die Rede sein.
Indikator soziale Exklusion
Ein in Ländervergleichen Deutschlands mit EU-28 und EA-19 verwendeter erweiterter Indikator ist der "Anteil Personen mit relativer Armut oder sozialer Exklusion 2006 bis 2018 an der gesamten Bevölkerung".
Anteil Personen mit relativer Armut oder sozialer Exklusion 2006 bis 2018 an der gesamten Bevölkerung
in Prozent
Jahr
Deutschland
EU-28
EA-19
2006
20,2
-
22,1
2007
20,6
-
21,9
2008
20,1
-
21,7
2009
20,0
-
21,6
2010
19,7
23,8
22,0
2011
19,9
24,3
22,9
2012
18,6
24,8
23,3
2013
20,3
24,6
23,1
2014
20,6
24,4
23,5
2015
20,0
23,8
23,1
2016
19,7
23,5
23,1
2017
19,0
22,5
22,1
2018
18,7
21,6
21,6
Quelle: European Commission 2020.
In diesem zusammengesetzten Indikator gehen drei einzelne Teilindikatoren ein (vgl. Kasten).
QuellentextKonstruktion des Indikators soziale Exklusion
In den Indikator gehen drei einzelne Teilindikatoren ein (vgl. ausführlich European Commission 2019, S. 327 f; Netzler 2020, S. 140) und zwar die Schnittmenge der Personen, die entweder in relativer Armut leben oder in materieller Hinsicht einer erheblichen Deprivation unterliegen oder in einem Haushalt mit sehr geringer Arbeitsintensität leben.
Relative Armut ist dabei in der gängigen, internationalen Art und Weise definiert (60 Prozent des Medians der bedarfsgewichteten Nettoäquivalenzeinkommen mit Gewichtung anhand der neuen OECD-Skala). Als erheblich materiell depriviert gelten Personen, die ich mindestens vier aus einer Liste von 9 Dingen bzw. Aktivitäten nicht leisten können, die von einer Mehrheit der Bevölkerung als wünschenswert oder sogar notwendig für eine adäquate Lebensführung angesehen werden.
Der Anteil der Personen, die in einem Haushalt mit geringer Arbeitsintensität leben, für den folgendes gilt: Die Haushaltsmitglieder haben während eines Jahres weniger als Fünftel gegen Entgelt gearbeitet, die sie, in Monaten gerechnet hätten arbeiten können.
Quelle: Eigene Übersetzung nach European Commission 2019, S. 327 f.
Die in der Tabelle gezeigten Werte für Deutschland lagen in allen Jahren deutlich unterhalb sowohl der Werte für die Europäische Union als auch derer für den Euroraum EA-19. Stellt man die Zahlen denjenigen bei der jeweiligen Armutsrisikoquote gegenüber, so wird sehr deutlich, dass überall die Population in relativer Einkommensarmut die größte Teilmenge der Personen mit relativer Armut oder sozialer Exklusion ausmacht. Z.B. 2018 in Deutschland 16,0 versus 18,7 Prozent, in EU-28 16,6 versus 21,6 Prozent und im Euroraum EA-19 17,0 versus 21,6 Prozent. Im logischen Umkehrschluss bedeutet das: Es gibt relativ wenig Personen, die nicht einkommensarm, aber dennoch durch erhebliche materielle Deprivation oder durch eine geringe Arbeitsintensität betroffen sind.
Personen in Haushalten mit geringer Arbeitsmarktteilhabe
Im obenstehenden Kasten "Konstruktion des Indikators soziale Exklusion" wurde auch der Teilindikator Anteil der Personen in Haushalten mit geringer Arbeitsmarktteilhabe angesprochen.
Die Tabelle "Anteil der Personen in Haushalten mit geringer Arbeitsmarktteilhabe in den Jahren 2007 bis 2018" zeigt die Zeitreihen hierzu, wiederum für Deutschland, die Europäische Union EU-28 und den Euroraum EA-19.
In Deutschland ist dieser Anteil zwischen den Jahren 2007 und 2018 ziemlich stetig von 10,5 auf 7,7 Prozent gesunken. Im Jahr 2018 lautet der Wert für EU-28 8,8 Prozent und im EA-19 sind es mit 9,4 Prozent nochmals mehr. In der Europäischen Union ist der für Deutschland angesprochene beinahe stetig sinkende Anteil nicht zu beobachten.
Anteil der Personen in Haushalten mit geringer Arbeitsmarktteilhabe in den Jahren 2007 bis 2018
in Prozent
Jahr
Deutschland
EU-28
EA-19
2007
10,5
-
9,7
2008
10,9
-
9,3
2009
10,5
-
9,1
2010
10,7
9,9
10,4
2011
10,5
10,4
11,0
2012
9,2
10,2
10,7
2013
9,4
10,6
11,2
2014
9,8
11,1
11,9
2015
9,5
10,5
11,2
2016
9,1
10,4
11,1
2017
8,4
9,4
10,2
2018
7,7
8,8
9,4
Tabellenbeschreibung
Anmerkungen: Personen im Alter von 0 bis 59 Jahren.
Quelle: Eigene Zusammenstellung nach European Commission 2020.
In Deutschland korrespondiert diese Abnahme mit einer stark ausgeweiteten Erwerbs- und auch Beschäftigungsquote . Deutschland hat die Teilhabe der arbeitsfähigen Bevölkerung in den letzten zwei Jahrzehnten am Arbeitsmarkt massiv ausgebaut und dabei die von der Europäischen Kommission gesetzten Zielwerte sowohl vorzeitig als auch die EU-Ziele deutlich überschreitend erfüllt . Kritisch ist dazu jedoch die Frage zu stellen, wie freiwillig das aus Betroffenensicht gesehen ist. Gerade mit Blick auf die verschiedenen Altersgruppen ist auch festzustellen, dass entsprechende Diagnosen gruppenspezifisch unterschiedlich ausfallen . Das ist besonders angesichts der von der EU-Kommission für ihre Berechnungen verwendeten Definition einer "Kernerwerbsphase" von 18 bis 60 Jahre bedeutsam.
Index Soziale Gerechtigkeit
2019 haben Thomas Hellmann, Pia Schmidt und Sascha M. Heller den Index Report zum von der Bertelsmann Stiftung (2019) seit 2009 herausgegebenen Bericht Social Justice in the EU and OECD verantwortet. Aufgrund einer Änderung im Indikatorensystem – erstmals sind nicht nur die EU-Länder, sondern auch die OECD-Staaten in den Index eingegangen – sind die Ergebnisse des 2019`er Index nicht mit denen der vorherigen Berichte vergleichbar .
Index Soziale Gerechtigkeit 2009 bis 2018 bzw. 2019
Jahr
Deutschland
EU/OECD Durchschnitt
Deutschland - EU/OECD
Deutschland : EU/OECD in %
2009
6,18
6,14
0,4
0,7
2011
6,22
6,01
0,2
3,5
2014
6,54
5,93
0,6
10,3
2015
6,44
5,93
0,5
8,6
2016
6,51
5,94
0,6
9,6
2017
6,55
5,99
0,6
9,3
2018
6,65
6,05
0,6
9,9
20191
6,64
6,09
0,5
9,3
Fußnote: 1 Werte 2019 nicht direkt mit den vorherigen Werten vergleichbar.
Quelle: Bertelsmann Stiftung 2019, S. 7 und eigene Berechnungen.
Die Tabelle "Index Soziale Gerechtigkeit 2009 bis 2018 bzw. 2019" zeigt:
Die Indexwerte liegen in Deutschland in allen Jahren leicht über den Indexwerten des EU/OECD Durchschnitts. Im Sinne der Methodik des Index ist das als etwas größere soziale Gerechtigkeit in Deutschland zu interpretieren.
Dieses Ergebnis wird auch von einem Vergleich der absoluten und relativen Indexwerte bestätigt.
Der Index Soziale Gerechtigkeit setzt sich im Jahr 2019 aus sechs Teilindikatoren zusammen. Die Abbildung "Ranking Deutschlands bei den Teilindikatoren des Index Soziale Gerechtigkeit 2019" erläutert, welche Dimensionen in den Index 2019 eingehen. Die Dimensionen bzw. Politikfelder sind:
Armutsprävention
Bildungspolitik,
Arbeitsmarktzugang
Soziale Inklusion/Nichtdiskriminierung,
Generationengerechtigkeit und
Gesundheit.
Deutschland liegt dabei bei der Dimension Gesundheit und bei der Bildungspolitik auf den Rängen 13 und 14. Bei den Dimensionen Armutsprävention sowie Arbeitsmarktzugang ist es jeweils Rang 15. Am schlechtesten ist die deutsche Rangziffer 18 für den Teilindikator Soziale Inklusion/Nichtdiskriminierung und Rangziffer 22 bezüglich der Generationengerechtigkeit .
Ein kurzer Blick auf die Sozialausgaben
Die obenstehenden Ausführungen waren vor allem auf die soziale Situation im internationalen Vergleich bezogen ("Outputs" bzw. "Outcomes" im Englischen). Ein kurzer Blick auf die Sozialschutzausgaben soll diese Ausführungen abrunden. Betrachtet werden hier explizit "Inputs". Datengrundlage ist hierfür das Europäische Berichtssystem ESSPROS . Sozialschutz umfasst dabei alle öffentlichen oder privaten Ausgaben, die den Haushalten bzw. Individuen helfen, Risiken oder Bedürfnisse in den Bereichen Krankheit/Gesundheit, Alter, Hinterbliebene, Familie/Kinder, Unterbeschäftigung, Wohnen oder Soziale Exklusion abzumildern.
Die Tabelle "Anteil der Sozialschutzausgaben am Bruttoinlandsprodukt 2007 bis 2017" setzt die gesamten Sozialschutzausgaben ins Verhältnis zur im Inland erreichten Wirtschaftsleistung.
Anteil der Sozialschutzausgaben am Bruttoinlandsprodukt 2007 bis 2017
in Prozent
Jahr
Deutschland
EU-28
EA-19
2007
27,0
-
25,9
2008
27,4
26,1
26,6
2009
30,8
28,8
29,4
2010
30,1
28,7
29,3
2011
28,8
28,3
29,0
2012
28,9
28,7
29,4
2013
29,3
29,1
29,8
2014
29,1
28,9
29,7
2015
29,4
28,6
29,3
2016
29,7
28,5
29,2
2017
29,7
28,1
28,9
Tabellenbeschreibung
Anmerkung: Inklusive Verwaltungs- und andere Ausgaben.
Quelle: Eigene Darstellung nach European Commission 2020.
In allen drei Vergleichsregionen ist ein zwar nicht stetiger, im Trend aber deutlicher Anstieg dieser Anteile festzustellen. Der Anteil ist in Deutschland durchgängig höher als in der Europäischen Union EU-28. In denjenigen Jahren, für die zumindest vorläufige Werte für alle drei Vergleichsregionen vorliegen, also 2008 bis 2017, errechnet sich für Deutschland ein Anstieg um 2,2, in EU-28 um 2,7 und in EA-19 um 2,0 und in EA-19 um 2,3 Prozentpunkte. Mit 29,7 Prozent ist der Anteil in Deutschland im Jahr 2017 höher als im Euroraum (28,9 %) und höher als im Schnitt der Mitgliedsländer der Europäischen Union (28,1 %). Zeitlich konzentriert sich der Anstieg überall auf die Periode 2008/2009, d.h. auf eine ausgesprochene Krisenperiode. Eine Krisenperiode, die die inhärente Instabilität kapitalistisch geprägter Volkswirtschaften in besonderem Maß aufgezeigt hat.
Gerhard Bäcker, Prof. Dr., geboren 1947 in Wülfrath ist Senior Professor im Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen. Bis zur Emeritierung Inhaber des Lehrstuhls "Soziologie des Sozialstaates" in der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften der Universität Duisburg-Essen. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Empirie des Wohlfahrtsstaates in Deutschland und im internationalen Vergleich, Ökonomische Grundlagen und Finanzierung des Sozialstaates, Systeme der sozialen Sicherung, insbesondere Alterssicherung, Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Lebenslagen- und Armutsforschung.
Ernst Kistler, Prof. Dr., geboren 1952 in Windach/Ammersee, verstorben 2021, war Direktor des Internationalen Instituts für Empirische Sozialökonomie, INIFES gGmbH in Stadtbergen bei Augsburg. Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Arbeitsmarktberichterstattung, Demografie, Sozialpolitik, Armutsforschung.