Verfolgt man die Einkommensverteilung auf der Basis der Nettoäquivalenzeinkommen über einen längerfristigen Zeitraum hinweg, zeigt sich ein deutliches Bild: Die Ungleichverteilung hat zugenommen. Was ergibt sich daraus für die Einkommen am unteren und oberen Ende der Hierarchie?
Wie hat sich die Einkommensverteilung in der längeren Perspektive, d. h. in den letzten Jahrzehnten entwickelt? Wie sieht die aktuelle, kurzfristige Entwicklung aus? Auf diese Fragen gibt es auf den ersten Blick relativ einfache Antworten. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass solche einfachen Antworten eigentlich gar nicht möglich sind.
6.4 Schichtung der Bevölkerung nach relativen Einkommenspositionen 1995 – 2018 (bpb)
Schichtung der Bevölkerung nach relativen Einkommenspositionen 1995 – 2018 (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
Langfristig ist die Einkommensungleichheit in Deutschland größer geworden − darin sind sich praktisch alle Beobachter (bzw. Datengrundlagen) einig. So zeigt die Abbildung "Anteile von Beziehern geringer, mittlerer und höherer Nettoäquivalenzeinkommen 1995 bis 2018", dass der Anteil der Bevölkerung mit einem Nettoäquivalenzeinkommen von weniger als der Hälfte des Durchschnitts zwischen 1995 und 2018 von 5,5 auf 8,7 Prozent zugenommen hat. Auch die zweitunterste Gruppe mit 50 bis 75 Prozent des Durchschnitts ist größer geworden. Kleiner geworden sind dagegen die mittleren Kategorien. Die Anteile der obersten Einkommensgruppen, oberhalb von 150 Prozent des Durchschnitts, haben hingegen von 15,4 auf 17,3 Prozent zugenommen.
Auch das Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) unterstreicht diesen langfristigen Trend. "Wie in vielen anderen Industrienationen, hat Ende der neunziger Jahre bis etwa 2005 die Einkommensungleichheit in Deutschland zugenommen − das gilt sowohl für die Markteinkommen vor staatlicher Umverteilung, als auch für die Nettoeinkommen. Seit 2005 zeigt sich allerdings eine Trendumkehr −, die Ungleichheit bleibt annähernd stabil."
Auf Basis des SOEP legte Grabka 2021 eine Analyse zur Entwicklung der verfügbaren Haushaltseinkommen (Äquivalenzeinkommen) nach Dezilen vor, die den Zeitraum 2000 bis 2018 umfasst (vgl. Abbildung "Entwicklung der verfügbaren Haushaltseinkommen nach Dezilen"). Dargestellt ist diese Entwicklung als Indexzahlen für jedes Dezil mit dem Basisjahr 2000.
Entwicklung der verfügbaren Haushaltseinkommen nach Dezilen 2000 - 2018 (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
Vergleicht man die durchschnittlichen Einkommen in den Dezilen ab 2000, zeigt sich, dass die realen verfügbaren Haushaltseinkommen bis 2013 insgesamt nur schwach stiegen. Lediglich im obersten Dezil nahmen die Realeinkommen bis 2007 überdurchschnittlich zu, um anschließend etwas schwächer zu wachsen. Mit Ausnahme des ersten Dezils stiegen die verfügbaren Einkommen ab 2014 wieder real in allen Einkommensgruppen. Die Zuwächse lagen dabei zwischen sechs und zehn Prozent über die Dezile hinweg. Am aktuellen Rand waren die Einkommen im obersten Dezil real rund 24 Prozent höher als noch im Jahr 2000. Anders verlief die Entwicklung im untersten Dezil: Bei den ärmsten zehn Prozent setzte ein Zuwachs nach den aktuellen Berechnungen erst ab dem Jahr 2015 ein, dem Jahr der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns. Das unterste Dezil ist damit knapp wieder auf dem Niveau von 2000 angelangt.
Ungleichheit der Haushaltsmarkt- und verfügbaren Haushaltseinkommen 2000 - 2018 (bpb)
Ungleichheit der Haushaltsmarkt- und verfügbaren Haushaltseinkommen 2000 - 2018 (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
Aus gleicher Quelle stammt die Abbildung "Ungleichheit der Haushaltsmarkt- und verfügbaren Haushaltseinkommen 2000 bis 2018" mit den Gini-Koeffizienten für beide bedarfsgewichteten Einkommensgrößen in den Jahren 2000 bis 2017. In den beiden Darstellungen sind auch die Konfidenzbereiche für das "statistische Rauschen" (Vertrauensintervalle für den Stichprobenfehler) markiert.
Für den Gini-Koeffizient der verfügbaren Haushaltseinkommens ist eine Steigerung der Ungleichheit über den Betrachtungszeitraum hinweg ersichtlich. (vgl. dazu auch die Abbildung "Gini-Koeffizient der verfügbaren Haushaltseinkommen 1991 bis 2022").
Die Ungleichheit ist in Deutschland in den letzten drei Jahrzehnten größer geworden. Ob der Anstieg auf 0,30 seit 2020 tatsächlich statistisch fundiert ist, lässt sich allerdings nicht mit Sicherheit sagen, da sich zwischen 2019 und 2020 (dem ersten Jahr der Pandemie) das Erhebungskonzept der Mikrozensus-Daten geändert hat. Allerdings: Auch das sog. „Einkommensquintilsverhältnis“ hat sich ebenfalls verändert. Es geht um das Verhältnis des reichsten Fünftels der Einkommensverteilung zum Einkommen des ärmsten Fünftels. 2010 war das verfügbare Einkommen „oben“ 4,2 mal so hoch wie „unten“. Im Jahr 2022 liegt dieses Verhältnis bei 4,6 .
Besonders problematisch: Verlässt man die Momentaufnahmen und fragt danach, wie lange Haushaltsmitglieder in einer Einkommensposition bleiben oder ob es eine Mobilität zwischen „unten“ und „oben“ gibt, dann zeigen die empirischen Befunde, dass es einen hohen Grad an Verfestigung der Ungleichheit im Lebenszyklus gibt. Bezogen auf die Personen, die in Einkommensarmut leben, ist also zwischen einer temporären und dauerhaften Armut zu unterscheiden. Es ist naheliegend, dass die individuellen und gesellschaftlichen Folgen einer dauerhaften Armut viel problematischer sind als in einer Situation, in der eine Armutslage vergleichsweise schnell überwunden wird (vgl. Interner Link: Erosion der Mittelschicht?).
Gerhard Bäcker, Prof. Dr., geboren 1947 in Wülfrath ist Senior Professor im Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen. Bis zur Emeritierung Inhaber des Lehrstuhls "Soziologie des Sozialstaates" in der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften der Universität Duisburg-Essen. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Empirie des Wohlfahrtsstaates in Deutschland und im internationalen Vergleich, Ökonomische Grundlagen und Finanzierung des Sozialstaates, Systeme der sozialen Sicherung, insbesondere Alterssicherung, Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Lebenslagen- und Armutsforschung.
Ernst Kistler, Prof. Dr., geboren 1952 in Windach/Ammersee, verstorben 2021, war Direktor des Internationalen Instituts für Empirische Sozialökonomie, INIFES gGmbH in Stadtbergen bei Augsburg. Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Arbeitsmarktberichterstattung, Demografie, Sozialpolitik, Armutsforschung.