Mittlere Position Deutschlands im internationalen Vergleich
Internationaler Vergleich
Gerhard BäckerErnst Kistler
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Zu den Themen Verteilung, Armut und Reichtum liegen vielfältigste internationale Vergleiche zu Deutschland vor. Alleine wegen der unterschiedlichen Vergleichsdimensionen herrscht in der Öffentlichkeit eine heillose Verwirrung über die Positionen Deutschlands.
Warum ist das so? Nachfolgend werden zunächst die Relevanz und einige Probleme der internationalen Komparatistik kurz angesprochen, bevor exemplarisch Ergebnisse aus internationalen Vergleichsstudien vor- und einander gegenübergestellt werden.
Relevanz und Probleme internationaler Vergleiche
In den verteilungspolitischen Debatten spielen internationale Vergleiche eine große Rolle. Je nach Position werden verschiedene andere Länder bzw. die dort verfolgten Strategien zur Verteilungspolitik als Vorbilder oder (nicht selten gleichzeitig) als abschreckende Beispiele genannt.
Neben einer in den letzten Jahren stark angestiegenen Zahl von Einzelstudien zum Thema liegen inzwischen eine Reihe von mehr oder weniger regelmäßig erscheinenden Berichten (z.T. inklusive der zugehörigen Datenbasen) vor, die internationale Vergleiche erlauben und auch entsprechende Rankings ermöglichen. Zu nennen sind hier Berichte internationaler Organisationen (z.B. UN, OECD, Europäische Kommission, Weltbank) ebenso wie solche von Banken, privaten Organisationen oder internationalen Beratungsunternehmen (z.B. Credit Suisse, OXFAM, Boston Consult).
Internationale Vergleiche von Daten zum Stand und zur Entwicklung der Verteilung, zur Verbreitung von Armut und Reichtum werden aus verschiedenen Gründen angestellt:
Information und Analyse,
Selbstvergewisserung über Erfolge und Misserfolge des eigenen Landes,
Frühwarnfunktion bzw. Suche nach (positiven bzw. negativen) Vorbildern; Beobachtung von Auswirkungen.
Informationen über den Stand und die Entwicklung bzw. zur Analyse von deren Ursachen sind zunächst einmal von Interesse in solchen Fällen, wo Verteilungsprobleme in anderen Ländern auch Ziele deutscher Politik betreffen. Beispiele hierfür sind etwa die auch von Deutschland mit getragenen und unterstützten Ziele einer Reduzierung der Zahl der von extremer Armut betroffenen Personen im Rahmen des UN Development Programms (UNDP) oder von Zielen der EU in Bezug auf die Reduzierung von Exklusion und Teilhabeproblemen.
Der Vergleich mit anderen Ländern dient auch der Selbstvergewisserung. Z. B.: Weicht die Entwicklung der Verteilung im eigenen Land von der Entwicklung in vergleichbaren anderen Ländern ab; gegebenenfalls: Warum? Insbesondere im politischen Diskurs wird der Blick auf die Verteilung von Einkommen und Vermögen in anderen Ländern gerichtet. Dabei wird häufig anhand von Rankings argumentiert, d.h. es wird anhand von Rangreihungen hinsichtlich einzelner oder kombinierter Verteilungsindikatoren argumentiert. (Diese sind eingängiger als die Gegenüberstellung vieler Facetten des Themas Verteilung. Sie sind mediengeeigneter. Sie verkürzen aber auch die Informationen und verengen den Transfer internationaler Erfahrungen).
Rankings sind gerade hinsichtlich des dritten oben genannten Grundes für internationale Vergleiche, hinsichtlich der Frühwarnfunktion problematisch. Von anderen Ländern und deren guter oder schlechter Praxis bzw. aus den Auswirkungen und Folgen bestimmter politischer Maßnahmen zu lernen, setzt mehr Informationen voraus als Ranking-Tabellen abbilden.
In den vorliegenden vergleichenden Berichten oder zumindest in den entsprechenden Hintergrundpapieren zeigt sich, dass eine internationale Komparatistik auch zu diesen Themen erhebliche Probleme aufwirft, z.B.:
uneinheitliche Definitionen in den zugrundeliegenden nationalen Datenquellen,
uneinheitliche Messmethoden in verschiedenen Ländern,
uneinheitliche zeitliche Bezugspunkte der jeweils aktuell verfügbaren nationalen Daten.
Wo die Herausgeber derartiger internationaler Vergleiche sich um eine bessere Vergleichbarkeit der Daten aus den verschiedenen Ländern, um Umrechnungen oder die Berücksichtigung von Trends bemühen gilt, dass das Niveau des langsamsten bzw. schwächsten Kamels die Geschwindigkeit der Karawane bestimmt. Das gilt in ganz besonderem Maß für das Grundproblem aller Daten/Statistiken zur Verteilung von Einkommen und Vermögen bzw. Armut und Reichtum, nämlich die Unvollständigkeit der Erfassung an den Enden der Verteilung. Das gilt natürlich auch hinsichtlich der Aktualität der verfügbaren Daten.
Die Verteilung von Einkommen, aber auch Vermögen, speziell von Armut oder generell der Lebenslagen zwischen einer modernen Industrienation und den Bewohnern eines weitgehend isoliert lebenden Volksstamms irgendwo in den Tropen hängt nicht zuletzt vom Grad des Funktionierens der Subsistenzwirtschaft bzw. der Zivilgesellschaft ab.
Internationale Vergleiche der Einkommens- und Vermögensverteilung
Die OECD hat in ihrem Bericht "Gesellschaft auf einen Blick" im Jahr 2019 eine Reihe von interessanten Ergebnissen zur Vermögens- und vor allem zur Einkommensverteilung vorgelegt, die sich in den meisten Vergleichsländern auf das Jahr 2015 beziehen (darunter auch Deutschland).
In der Abbildung "Das Vermögen ist ungleicher verteilt als das Einkommen" zeigt sich, dass die Anteile der oberen zehn Prozent der Verteilung der Haushalte bei den Nettovermögen durchgängig in allen OECD-Ländern über dem Anteil bei den verfügbaren Einkommen liegen.
Das Vermögen ist ungleicher verteilt als das Einkommen (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
Am zweitgrößten unter allen Ländern in der Abbildung ist die Ungleichverteilung der Nettovermögen in Deutschland, hinter den USA und knapp vor Dänemark. Bei den verfügbaren Haushaltseinkommen liegt der Anteil in der Bundesrepublik Deutschland erheblich niedriger. Das gilt bezogen jeweils auf den Indikator "Anteil der obersten 10 Prozent" – aber nicht unbedingt bezüglich anderer Maßzahlen zur Messung der Verteilung.
Allerdings kann trotz dieser Einschränkung eine Verallgemeinerung festgehalten werden: Es gibt keine Datenquelle und keinen repräsentativen Indikator, der eine größere Ungleichheit bei den Nettovermögen als bei den Haushaltsnettoeinkommen zeigt! Dies ist auch Konsens unter allen Diskutanten zum Thema.
Warum dieser Unterschied in der Verteilung von Vermögen und Einkommen aber in den drei oben genannten Ländern so deutlich und in den anderen Ländern geringer ausfällt, ist damit jedoch noch nicht geklärt. Hierzu sind weitere Informationen und Analysen nötig wie z.B. der Vergleich zwischen Dänemark und Finnland nahelegt, oder der Vergleich zwischen dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten.
Die logische Konsequenz daraus ist, dass weitere multidisziplinäre Informationen und Methoden sowie Zeitreihen in solcherart Hinterfragung von Ländervergleichen einzubeziehen sind. Auch aus Vergleichen von Ländergruppen (z.B. Industrieländer, Schwellenländer, Entwicklungsländer) können zusätzliche wichtige Erkenntnisse erwartet werden.
Der Abbildung "Ergebnisse von Ländervergleichen hängen vom gewählten Indikator ab" ist zu entnehmen, dass Deutschland unter den dargestellten Vergleichsländern bezüglich des Gini-Koeffizienten der Verteilung des verfügbaren Haushaltseinkommens und der so genannten 90:10 - Relation (vgl. "Interner Link: Verfügbare Haushaltseinkommen") beide Male den Rangplatz 15 einnimmt und damit unter dem OECD-Durchschnitt liegt. In anderen Ländern ist die Rangziffer dagegen je nach Indikator unterschiedlich.
Besonders der höhere Wert in den sechs Ländern am rechten Rand ist auffällig. Unter diesen finden sich jedoch wiederum Länder wie China und Indien mit sehr verschieden großen Werten und Abständen zwischen den beiden betrachteten Indikatoren. Was ist der Grund hierfür?
Ergebnisse von Ländervergleichen hängen vom gewählten Indikator ab (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
Die Abbildung zeigt die "Große Varianz bei den verfügbaren Nettoäquivalenzeinkommen". Die Werte beziehen sich auf alle OECD-Länder sowie einige weitere Länder und auf das Jahr 2016 bzw. das nächst jüngere Land, für das die OECD-Datenbank über die Zahlen verfügt. Die wiedergegebenen Balken sind in US-Dollar gerechnet und mit der jeweiligen Kaufkraftparität vergleichbar gemacht.
Große Varianz bei den verfügbaren Nettoäquivalenzeinkommen (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
Einiges an den in der Abbildung enthaltenen Ergebnissen dürfte für die Öffentlichkeit überraschend sein, z. B.:
Deutschland rangiert zwar wie erwartet über dem OECD-Durchschnitt, gleichzeitig aber ebenso deutlich hinter den so unterschiedlichen Nachbarländern wie Belgien, Österreich, der Schweiz und Luxemburg.
Länder wie Japan oder das Vereinigte Königreich weisen niedrigere durchschnittliche verfügbare Nettoäquivalenzeinkommen auf als der OECD-Durchschnitt, sind diesbezüglich aber vergleichbar mit Ländern wie Italien und Spanien.
Die Russische Föderation hat um ein Mehrfaches höhere durchschnittliche verfügbare Nettoäquivalenzeinkommen als China oder gar Indien.
Armutsrisikoquoten
In der Tabelle "Armutsgefährdungsquoten 2006 bis 2022" werden die Zeitreihen für das relative Risiko der Einkommensarmut für Deutschland, die Europäische Gemeinschaft der 28 Mitgliedsstaaten (EU-28) und den Euroraum (EU-19) einander gegenüber gestellt.
Die Werte für Deutschland liegen in allen betrachteten Jahren unterhalb der Vergleichswerte für EU-28 und EU-19. Der Anstieg der deutschen Armutsrisikoquote zwischen 2006 und 2018 ist wesentlich stärker als in der Eurozone EU-19. In Deutschland ist am aktuellen Rand ein Rückgang zu verzeichnen, von 16,0 auf 14,7 Prozent.
Armutsrisikoquoten 2006 bis 2022
in Prozent
Jahr
Deutschland
EU-28
EA-19
2006
12,5
-
15,6
2007
15,2
-
16,1
2008
15,2
-
16,1
2009
15,5
-
16,2
2010
15,6
16,5
16,3
2011
15,8
16,9
16,8
2012
16,1
16,8
16,9
2013
16,1
16,7
16,7
2014
16,7
17,2
17,1
2015
16,7
17,3
17,2
2016
16,5
17,3
17,4
2017
16,1
16,9
17,0
2018
16,0
16,6
17,0
2019
14,8
16,5
16,4
2020
16,1
16,7
16,8
2021
16,0
16,38
17,0
2022
14,7
16,5
-
Quelle: Eurostat 2023.
Gruppenspezifische Unterschiede bei der relativen Armut
Zu den Zielsetzungen der Politik gehört wohl in allen Ländern, gruppenspezifische Unterschiede in der Betroffenheit von Einkommensarmut zu überwinden. Das bedeutet, Unterschiede aufgrund z.B. des Geschlechts, eines Migrationshintergrunds oder für bestimmte Altersgruppen sollen verhindert werden. In der Tabelle "Gruppenspezifische Armutsrisikoquoten in Deutschland, EU-28 Und EU-19 im Jahr 2022" zeigen sich jedoch gerade solche Unterschiede. Diese sind strukturell und von anhaltender Natur, auch wenn dabei über Zeit die Abweichungen von der durchschnittlichen Armutsrisikoquote schwanken.
Die Frauen sind in Deutschland etwas stärker als im Durchschnitt der Europäischen Union bzw. als im Euroraum in stärkerem Maß einkommensarm als Männer. So beträgt laut dieser Datenquelle die Armutsrisikoquote für die Frauen in Deutschland im Jahr 2018 16,8 Prozent, während sie für die Männer bei 15,2 Prozent liegt. In EU-28 und EU-19 ist dieser Geschlechterunterschied in der Armutsbetroffenheit geringer als in Deutschland.
Gruppenspezifische Armutsrisikoquoten in Deutschland, EU-28 und EU-19 im Jahr 2022
in Prozent
Deutschland
EU-28
EU-19
Gesamte Bevölkerung
14,7
16,5
16,8
nach Geschlecht
Männer
13,9
15,6
15,9
Frauen
15,4
17,3
17,7
nach Alter
weniger als 18 Jahre
14,8
19,3
19,9
18 bis 24 Jahre
23,8
21,7
22,0
25 bis 49 Jahre
11,7
14,4
14,9
50 bis 64 Jahre
12,2
14,5
14,6
65 Jahre und mehr
18,3
17,3
17,3
Quelle: Eurostat 2023.
Index Soziale Gerechtigkeit
2019 haben Thomas Hellmann, Pia Schmidt und Sascha M. Heller den Index Report zum von der Bertelsmann Stiftung (2019) seit 2009 herausgegebenen Bericht Social Justice in the EU and OECD verantwortet. Aufgrund einer Änderung im Indikatorensystem – erstmals sind nicht nur die EU-Länder, sondern auch die OECD-Staaten in den Index eingegangen – sind die Ergebnisse des 2019er Index nicht mit denen der vorherigen Berichte vergleichbar .
Index Soziale Gerechtigkeit 2009 bis 2018 bzw. 2019
Jahr
Deutschland
EU/OECD Durchschnitt
Deutschland - EU/OECD
Deutschland : EU/OECD in %
2009
6,18
6,14
0,4
0,7
2011
6,22
6,01
0,2
3,5
2014
6,54
5,93
0,6
10,3
2015
6,44
5,93
0,5
8,6
2016
6,51
5,94
0,6
9,6
2017
6,55
5,99
0,6
9,3
2018
6,65
6,05
0,6
9,9
2019*
6,64
6,09
0,5
9,3
Fußnote: * Werte 2019 nicht direkt mit den vorherigen Werten vergleichbar.
Quelle: Bertelsmann Stiftung 2019, S. 7 und eigene Berechnungen.
Die Tabelle "Index Soziale Gerechtigkeit 2009 bis 2018" bzw. 2019 zeigt:
Die Indexwerte liegen in Deutschland in allen Jahren leicht über den Indexwerten des EU/OECD Durchschnitts. Im Sinne der Methodik des Index ist das als etwas größere soziale Gerechtigkeit in Deutschland zu interpretieren.
Dieses Ergebnis wird auch von einem Vergleich der absoluten und relativen Indexwerte bestätigt.
Der Index Soziale Gerechtigkeit setzt sich im Jahr 2019 aus sechs Teilindikatoren zusammen. Die Abbildung "Ranking Deutschlands bei den Teilindikatoren des Index Soziale Gerechtigkeit 2019" erläutert, welche Dimensionen in den Index 2019 eingehen. Die Dimensionen bzw. Politikfelder sind:
Armutsprävention
Bildungspolitik,
Arbeitsmarktzugang
Soziale Inklusion/Nichtdiskriminierung,
Generationengerechtigkeit und
Gesundheit.
Deutschland liegt dabei bei der Dimension Gesundheit und bei der Bildungspolitik auf den Rängen 13 und 14. Bei den Dimensionen Armutsprävention sowie Arbeitsmarktzugang ist es jeweils Rang 15. Am schlechtesten ist die deutsche Rangziffer 18 für den Teilindikator Soziale Inklusion/Nichtdiskriminierung und Rangziffer 22 bezüglich der Generationengerechtigkeit .
Ranking Deutschlands bei den Teilindikatoren des Index Soziale Gerechtigkeit 2019 (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
Gerhard Bäcker, Prof. Dr., geboren 1947 in Wülfrath ist Senior Professor im Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen. Bis zur Emeritierung Inhaber des Lehrstuhls "Soziologie des Sozialstaates" in der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften der Universität Duisburg-Essen. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Empirie des Wohlfahrtsstaates in Deutschland und im internationalen Vergleich, Ökonomische Grundlagen und Finanzierung des Sozialstaates, Systeme der sozialen Sicherung, insbesondere Alterssicherung, Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Lebenslagen- und Armutsforschung.
Ernst Kistler, Prof. Dr., geboren 1952 in Windach/Ammersee, verstorben 2021, war Direktor des Internationalen Instituts für Empirische Sozialökonomie, INIFES gGmbH in Stadtbergen bei Augsburg. Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Arbeitsmarktberichterstattung, Demografie, Sozialpolitik, Armutsforschung.