Öffentliche Haushalte in Ost- und Westdeutschland
Obwohl der Osten Deutschlands erkennbar aufgeholt hat, liegen Wirtschaftskraft- und originäres Einnahmenniveau weiterhin deutlich unter den Werten der westdeutschen Vergleichsgruppe. Die Abhängigkeit der neuen Länder von der föderalen Solidargemeinschaft dürfte deshalb auch in Zukunft hoch bleiben, glaubt Mario Hesse.Unterschiedliche Entwicklungsdynamiken und steuerliche Basis
Dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung stellt sich die Frage, ob die finanzielle Ausstattung der öffentlichen Hand in Ost und West einen Stand der Annäherung erreicht hat, der dem Leitbild gleichwertiger Lebensverhältnisse entspricht. In allen Teilen der Republik standen die öffentlichen Haushalte in den vergangenen drei Jahrzehnten unter enormem Druck. Veränderte Anforderungen an den Staat, strukturelle Arbeitslosigkeit, unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklungsdynamiken, der demografische Wandel und nicht zuletzt die schwere Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 mussten bewältigt werden. Gleichzeitig musste die verwaltungstechnische und finanzielle Einbindung Ostdeutschlands als Daueraufgabe realisiert werden. Dies verlangte insbesondere den ostdeutschen Ländern und Kommunen, aber auch den westdeutschen Gebietskörperschaften umfangreiche Reformen und Anpassungen ab.Seit der Integration der neuen Länder in die Bundesrepublik lässt sich ein Prozess der wirtschaftlichen und finanziellen Konvergenz verzeichnen, d. h. eine schrittweise erfolgte Anpassung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Ost und West. Allerdings ist der ostdeutsche Aufholprozess von einigen Unregelmäßigkeiten geprägt und hat in den letzten Jahren stagniert (vgl. den Beitrag "Strukturwandel nach Entindustrialisierung"). Im Jahr 1991 belief sich das originäre Pro-Kopf-Steueraufkommen [1] der ostdeutschen Länder und Kommunen (FL Ost) [2] auf durchschnittlich nur 15 Prozent des westdeutschen Wertes (FL West). Nach einer Phase des raschen Aufholens bis 1994 folgte bis zur Jahrtausendwende eine Stagnation. Die Steueraufkommen in Ostdeutschland wuchsen langsamer als in Westdeutschland bzw. gingen sogar zurück. Erst danach kam es zu einem langsamen, aber stetigen Aufschließen, das jedoch noch längst nicht beendet ist. Nach aktuellem Stand erreichen die ostdeutschen Haushalte im Schnitt immerhin fast 60 Prozent des westdeutschen Steueraufkommens. Damit verbleibt eine erhebliche Lücke, die größer ist als das wirtschaftliche Gefälle (hier erreichen die ostdeutschen Flächenländer rund 70 Prozent).


Seit 1995 sind die neuen Länder regulär in den bundesstaatlichen Finanzausgleich eingebunden. Dieses mehrstufige regelgebundene Verfahren sorgt über die Verteilung der Umsatzsteuer, den viel zitierten Länderfinanzausgleich sowie verschiedene Bundesergänzungszuweisungen für eine massive Angleichung der Finanzkraft zwischen Ost und West. [4] Mit der Integration der neuen Länder in die regulären Steuerverteilungsmechanismen kam es – eher aus politischen als aus systemischen Gründen – zu bedeutsamen Änderungen des Finanzausgleichs. Um die Belastung der westdeutschen Länder zu begrenzen, wurden insgesamt 7 Prozentpunkte des Umsatzsteueraufkommens vom Bund auf die Ländergesamtheit übertragen. Dies hatte zur Folge, dass ein wesentlicher Teil der ostdeutschen Einnahmenschwäche bereits über die Umsatzsteuerverteilung ausgeglichen werden konnte. Die unmittelbare finanzielle Beanspruchung der alten Länder im anschließenden Länderfinanzausgleich wurde mithin deutlich begrenzt.[5]
Eine weitere Neuerung und bis heute zentrale Säule des "Aufbaus Ost" sind seit 1995 die Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen zum Abbau teilungsbedingter Sonderbelastungen sowie zum Ausgleich unterproportionaler kommunaler Finanzkraft.[6] Diese Mittel wurden den neuen Ländern zunächst im Rahmen des Solidarpakts I in Höhe von jährlich 7,2 Mrd. € und seit 2005 im Rahmen des Solidarpakts II in degressiv fallendem Volumen zwischen 10,5 Mrd. € (2005) und 2,1 Mrd. € (2019) pro Jahr gewährt.




Die Erbringung öffentlicher Leistungen auf der kommunalen und der Länderebene in Ostdeutschland steht demnach auch 30 Jahre nach der Vereinigung finanziell nicht auf "eigenen Füßen". Vielmehr sorgt ein vielschichtiges System von Zahlungsmittelströmen zwischen den staatlichen Ebenen dafür, dass das Ziel einer gleichwertigen Versorgung mit öffentlichen Leistungen in Ost und West überhaupt annähernd realisiert werden kann.
Auffällig ist, dass in den vergangenen rund 20 Jahren die Einnahmen in Ostdeutschland durchschnittlich höher lagen als die Ausgaben. Mit den Überschüssen wurden vor allem die Kredite getilgt, die in den 1990er Jahren in kurzer Zeit aufgenommen wurden (erkennbar am Überschuss der Ausgaben über die Einnahmen in Abbildung 3). Insofern ist für die Interpretation der ostdeutschen Überschüsse Vorsicht geboten. Die Ausgabenhöhe passte sich im Zeitverlauf den verfügbaren Einnahmen sowie den Tilgungsanforderungen an. Wie noch gezeigt wird, sorgt dies zunehmend auch dafür, dass erforderliche Ausgaben unterlassen werden.
Ausgabenstruktur – Personal und Investitionen
Hinsichtlich der Ausgabenstruktur sind besonders die Personalausgaben sowie die Investitionen bedeutsam. Diese machen zusammen rund die Hälfte der Gesamtausgaben aus. Nach der Wiedervereinigung gab es in Ostdeutschland einen weit überdurchschnittlichen Personalbestand sowie einen dringlichen infrastrukturellen Nachholbedarf. Die ostdeutschen Länder und Kommunen bauten seit 1991 in erheblichem Umfang Personal ab. Die Quote der Beschäftigten je 1.000 Einwohner im Kommunal- und Landesdienst lag zum Zeitpunkt der Vereinigung noch bei fast 167, im Vergleich zu rund 107 in Westdeutschland. Dies ist auch einer der beiden Hauptgründe für das Ausgabenniveau Ostdeutschlands, das sich seitdem reduziert hat. Vor allem in den 1990er und zu Beginn der 2000er Jahre verkleinerten die ostdeutschen Länder und Kommunen die Zahl ihrer Beschäftigten um insgesamt mehr als die Hälfte.In Westdeutschland reduzierte sich die Zahl der Beschäftigten zunächst ebenfalls, sie stieg aber in den letzten Jahren wieder an, vor allem vor dem Hintergrund des Ausbaus der kommunalen Kinderbetreuungsangebote in Kindertagesstätten und Grundschulen. Gegenwärtig weisen die ostdeutschen Haushalte im Durchschnitt sogar etwas weniger Personal auf als die westdeutschen (rund 73 Beschäftigte gegenüber 82 Beschäftigten je 1.000 Einwohner). Der Personalabbau hat enorm zur Entlastung der öffentlichen Haushalte in Ostdeutschland beigetragen. Aufgrund der zunächst geringeren Tarifvergütungen hatten die Personalausgaben im Osten in der Summe (Länder und Kommunen zusammen) jedoch nie über dem westdeutschen Niveau gelegen (siehe Abbildung 4).




Ebenso klar ist zu erkennen, dass sich der "Vorsprung" Ostdeutschlands kontinuierlich verringert hat. Der Niveauunterschied beläuft sich gegenwärtig auf rund 10-15 % Prozent. Es sind die ostdeutschen Länderhaushalte, die, unterstützt durch Fördermittel des Bundes und der EU, auch heute noch überdurchschnittlich viel investieren, vor allem in Hochschulen und in den Straßenbau. Auf der kommunalen Ebene, die die Hauptlast der öffentlichen Investitionsausgaben trägt und deren Sachinvestitionsvolumen insgesamt fast dreimal so hoch ist wie dasjenige der Länder, zeigt sich dagegen ein anderes Bild. Hier liegen die Investitionsausgaben bereits seit 2012 unter dem Niveau der westdeutschen Kommunen. Gegenwärtig investieren die ostdeutschen Kommunen pro Kopf rund 15 Prozent weniger als die westdeutschen. Der Aufholprozess ist hier bereits zum Erliegen gekommen. Hier zeigt sich die Wirkung der ausgelaufen Solidarpaktförderung, welche der Schließung der Investitionslücke sowie der Kompensation der kommunalen Steuerschwäche dient.
Verschuldung
Sowohl die enormen Ausgabenbedarfe als auch die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte in Ostdeutschland bilden sich in der Entwicklung der Verschuldung ab (Abbildung 6). Innerhalb weniger Jahre bauten die Flächenländer und Kommunen zwischen Ostsee und Erzgebirge ein Schuldenvolumen von knapp 7.000 Euro je Einwohner auf. Das entspricht rund 110 Prozent des westdeutschen Vergleichswerts. Legt man als Maßstab zur Einordnung das oben genannte Investitionsvolumen bis zum Zeitpunkt des Höchststandes der öffentlichen Verschuldung in Ostdeutschland im Jahr 2005 an, so haben die ostdeutschen Länder und Kommunen rechnerisch rund die Hälfte der Investitionen durch eigene Kreditaufnahmen finanziert. Diesen Anteil tragen die ostdeutschen Haushalte selbst und sie reduzieren ihn seither.

Ausblick
30 Jahre nach der Wiedervereinigung ergibt sich mit Blick auf den "Aufbau Ost" ein zwiespältiger Befund. Trotz eines erkennbaren Aufholens zum Westen Deutschlands liegen Wirtschaftskraft- und originäres Einnahmenniveau der neuen Länder weiterhin deutlich unter den Werten der westdeutschen Vergleichsgruppe. Dennoch erfährt der "Aufbau Ost" infolge des Auslaufens des Solidarpakts II im Jahr 2019 eine spürbare Zäsur. Die umfassende Neugestaltung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs im Rahmen der Föderalismusreform 2017 sieht keine gesonderten Regelungen vor, die ausdrücklich für den Osten Deutschlands gelten. Unter diesen neuen Rahmenbedingungen ist eher eine Verstetigung der bestehenden Finanzkraftlücken als eine Fortsetzung des Angleichungsprozesses zu erwarten.[13] Folglich bleibt die Abhängigkeit der neuen Länder von der föderalen Solidargemeinschaft auch in Zukunft hoch. Der bundesstaatliche Finanzausgleich für die ostdeutschen Landes- und indirekt auch die kommunalen Haushalte ist daher unverzichtbar.Hinzu kommt, dass Ostdeutschland bereits in der laufenden EU-Förderperiode zu den sog. Transitionsregionen zählt, die zwischen 75 und 90 Prozent des EU-weiten durchschnittlichen Bruttoinlandsprodukts (BIP) erwirtschaften und nicht mehr die Höchstförderung erhalten. Mit dem Austritt Großbritanniens aus der EU ist zu erwarten, dass Ostdeutschland noch näher an den (dann niedrigeren) europäischen Durchschnitt heranrückt und die Fördermittel mittelfristig stark zurückgehen.
Der Personalbestand hat sich in den ostdeutschen Verwaltungen bereits stark reduziert. Ein weiterer Rückgang wird sich angesichts neuer Aufgaben und Herausforderungen kaum realisieren lassen. Wie auch in den westdeutschen Verwaltungen muss hier dafür Sorge getragen werden, die absehbaren altersbedingten Abgänge durch junges Personal auszugleichen. Der infrastrukturelle Nachholbedarf Ostdeutschlands ist noch immer enorm, besonders auf der kommunalen Ebene. Zwar konnten viele Infrastrukturlücken bereits zum Teil geschlossen werden. Aber neue Herausforderungen sind erkennbar, so z.B. die Digitalisierung, die Anpassungen an den demografischen Wandel oder der energetische Umbau der öffentlichen Infrastruktur. Nicht zu vergessen ist auch, dass Re-Investitionen in jene Infrastruktur erforderlich sind, die in den 1990er Jahren geschaffen wurde und absehbar das Ende ihres Lebenszyklus erreicht.
Literatur
Färber, Gisela / Hermanowski, Richard (2019): Entwicklungen des öffentlichen Dienstes seit der Deutschen Vereinigung und Forschungsbedarfe aus ökonomischer Perspektive, Speyerer Forschungsberichte 291, S. 122.Lackmann, Gregor / Zarth, Michael (2010): Zur Flankierung des ostdeutschen Konvergenzprozesses durch fiskalische Ausgleichssysteme und raumwirksame Bundesmittel, in: Informationen zur Raumentwicklung, Heft 10/11 2010.
Lenk, Thomas/Glinka, Philipp/Ragnitz, Joachim/Bauer, David/Frei, Xenia/Rösel, Felix/Steinbrecher, Johannes (2016): Auswirkungen des Modells der Ministerpräsidentenkonferenz zur Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen vom 3. Dezember 2015, Gutachten zum Forschungsvorhaben im Auftrag der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag, Leipzig/Dresden 2016.
Lenk, Thomas/Glinka, Philipp (2017): Die Länder in den finanziellen Ausgleichssystemen: Verteilung von Aufgaben, Ausgaben und Einnahmen sowie die finanzielle Entwicklung der Länder im Vergleich zu Bund und Kommunen – Besonderheiten der Länder, in: Schweisfurth, Tilmann/Voß, Wolfgang (Hrsg.): Haushalts- und Finanzwirtschaft der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, in: Schriften zur öffentlichen Verwaltung und öffentlichen Wirtschaft, Band 236, S. 79-116.
Lenk, Thomas/Glinka, Philipp (2018a): Daueraufgabe Deutsche Einheit – Die neuen Finanzregeln im Kontext bisheriger Konvergenzbestrebungen und -entwicklungen, in: Junkernheinrich, Martin/Korioth, Stefan/Lenk, Thomas/Scheller, Henrik/Woisin, Matthias (Hrsg.) (2018): Jahrbuch für öffentliche Finanzen 2-2018, in: Schriften zur öffentlichen Verwaltung und öffentlichen Wirtschaft, Band 241, S. 57-72.
Lenk, Thomas/Glinka, Philipp (2018b): Die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern in Deutschland ab 2020 – Ein Novum mit vielen Risiken, in: Zeitschrift für öffentliches Recht 73, S. 831-854.
Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (1990): Jahresgutachten 1990/91, Bundestags-Drucksache 11/8472.
van Deuverden, Kristina (2010): Auch nach 20 Jahren: Steuereinnahmen in den Neuen Ländern schwach, in: Wirtschaft im Wandel, 2/2010, S. 91-104.