Die Kosten und Erträge der Wiedervereinigung Deutschlands
Heinrich BestRonald Gebauer
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Wie hoch war der Preis der Einheit? Heinrich Best und Ronald Gebauer meinen: Die geldwerten Vorteile der deutschen Wiedervereinigung bis zum Jahr 2016 überwiegen die Kosten, die bei einer fortwährenden Teilung aufgelaufen wären.
Die Ausgangslage vor der deutschen Wiedervereinigung
Den Ausgangspunkt des Prozesses der deutschen Wiedervereinigung und damit auch ihrer Kosten bilden zweifellos die dramatischen Ereignisse des Jahres 1989. Die ersten Wegmarken dieser Entwicklung waren die damaligen Botschaftsbesetzungen in Warschau, Prag und Budapest und der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin durch DDR-Flüchtlinge, die Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche und die erste Massendemonstration am 9. Oktober ebenfalls in Leipzig. Im November erreichten die friedlichen Revolutionäre 1989 schließlich die Maueröffnung.
Damit war klar, dass sich eine epochale Veränderung anbahnte. Doch damit nicht genug. Als bald darauf auf den friedlichen Massenkundgebungen die neue Losung: "Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh‘n wir zu ihr" erschall, befürchteten westdeutsche Politiker, dass ein Massenexodus von DDR-Bürgern in die Bundesrepublik kurz bevorstand, mit einem Kontrollverlust auf beiden Seiten der innerdeutschen Grenze. Um dies zu vermeiden wurde nach den ersten freien Wahlen zur Volkskammer der DDR im März 1990 der Prozess der Bildung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion (11.07.1990) und schließlich die Interner Link: Wiedervereinigung Deutschlands (03.10.1990) massiv beschleunigt.
Die Bedingungen für eine Wirtschafts- und Sozialunion waren aber alles andere als günstig. denn die Arbeitsproduktivität betrug in der DDR nach DIW-Schätzungen nur etwa ca. 50 Prozent des westdeutschen Niveaus. Unbestritten war die wirtschaftliche Situation sehr desolat. Zahlen der Treuhandanstalt zufolge sah man für 21 Prozent der übertragenen Betriebe nur die Stilllegung als einzige Alternative (tatsächlich waren es dann 30 Prozent) (vgl. Fischer / Hax / Schneider 1993, S. 138). Als die D-Mark schließlich mit einem Umtauschsatz von 1:1 zur Währung der DDR wurde und die ostdeutschen Unternehmen damit der innerdeutschen und internationalen Konkurrenz schutzlos ausgesetzt waren, hatte dies die absehbaren, fatalen Folgen.
Die Struktur der Finanzierung der deutschen Einheit und die Entwicklung der Kosten für die regelmäßigen Transferzahlungen bis 1995
Es war von vornherein klar, dass die Kosten der deutschen Einheit nicht alleine durch die neugegründeten ostdeutschen Bundesländer zu stemmen waren. Neben der Finanzierung eines wesentlichen Teils der Einheitskosten aus der Sozialversicherung (hier bspw. für soziale Leistungen im Rahmen der Arbeitslosen- und Rentenversicherung) und aus Bundesmitteln wurden bis 1994 auch ganz erheblich Mittel aus dem eigens geschaffenen Fonds deutscher Einheit und den Erlösen der Treuhandanstalt verwendet (die letzteren beiden entfielen ab dem Jahr 1995). Begünstigt durch diese Fördermilliarden, stieg die wirtschaftliche Leistungskraft in den östlichen Bundesländern (einschließlich Berlin), gemessen am Bruttoinlandsprodukt je Einwohner, sehr schnell bis zum Ende des Jahres 1994 auf 63 Prozent des Interner Link: Westniveaus (vgl. Abb. 1).
Zu den schnellen Erfolgen lassen sich zudem die Wohlstands- und Wohlfahrtsgewinne rechnen, die sich in einer deutlich verbesserten Ausstattung mit Haushaltsgeräten und Dingen des täglichen Bedarfs niederschlugen. Vor allem aber gab es nun die Möglichkeit, Interner Link: endlich dorthin zu reisen, wohin man wollte.
Von der wirtschaftlichen Entwicklung profitierten aber auch die westdeutschen Unternehmen, deren Waren und Dienstleistungen im Beitrittsgebiet attraktive Absatzchancen fanden. Die hohen West-Ost-Transfers wirkten außerdem wie ein gigantisches Konjunkturpaket für Firmen, die ebenfalls überwiegend in den westlichen Bundesländern und hier speziell im Bausektor angesiedelt waren.
Dafür lassen sich insbesondere die 17 Verkehrsprojekte Deutsche Einheit (VDE) anführen. In diesem Rahmen wurden die maroden Autobahnen, Schienenwege und Wasserstraßen fast vollständig neu gebaut. Bis 2013 wurden für diese Verkehrsprojekte 34 Mrd. Euro verausgabt. Das Bruttoinlandsprodukt im Altbundesgebiet (und Berlin) verzeichnete in den Jahren 1990 und 1991 preisbereinigt Steigerungsraten von über 5 Prozent (vgl. auch Abb. 2). In der Folgezeit trübte sich die Konjunktur in den alten Bundesländern zwar wieder ein und das Bruttoinlandsprodukt im früheren Bundesgebiet wuchs langsamer als zuvor, bzw. sank sogar (preisbereinigt) in einzelnen Jahren. Dennoch erwies sich die Wiedervereinigung auch während dieser Zeit in wirtschaftlicher Hinsicht – wenn auch nicht sofort – als mächtiger Antrieb: Denn zu Anfang und Mitte der 1990er Jahre wurden die neuen Bundesländer zu einer Plattform für die Erschließung neuer Märkte, insbesondere für die ostmitteleuropäischen und osteuropäischen Länder, von denen die deutsche Wirtschaft in den späteren Jahren in erheblichem Maße profitieren konnte.
Die Struktur der Finanzierung der deutschen Einheit und die Entwicklung der Kosten für die regelmäßigen Transferzahlungen ab dem Jahr 1995
Die Finanzierung der deutschen Einheit wurde mit dem Inkrafttreten des ersten Solidarpakts im Jahr 1995 auf eine langfristige Grundlage gestellt. Die ostdeutschen Bundesländer wurden damit in den Länderfinanzausgleich einbezogen, ergänzt um zusätzliche Transferzahlungen des Bundes. Diese Mittel wurden im Wesentlichen für die Modernisierung der Infrastruktur, zur Erhaltung industrieller Kerne und zur Altlastenbeseitigung verwendet. Bis zum Auslaufen des ersten Solidarpakts im Jahr 2004 bezogen die neuen Länder und Berlin daraus insgesamt 94,5 Mrd. Euro (Bundesregierung 2009). Weil schon vor Auslaufen des ersten Solidarpakts klar war, dass die Finanzierung der ostdeutschen Bundesländer auch nach dem Jahr 2004 nicht zu gewährleisten ist, wurde ein zweiter Solidarpakt aufgelegt, der im Jahr 2019 auslief. Dieser Solidarpakt setzte sich wie folgt zusammen: 1. Gesetzlich fixierte Bundesergänzungszuweisungen im Rahmen des Länderfinanzausgleichs (Korb I, sogenannte Sonderbedarfsbundesergänzungszuweisungen, SOBEZ, zur Schließung der teilungsbedingten Infrastrukturlücke und dem Ausgleich der unterproportionalen kommunalen Finanzkraft, insgesamt 105 Mrd. Euro); 2. Sonstige Zuwendungen des Bundes (Korb II, insgesamt 51,1 Mrd. Euro) zur Förderung der Wirtschaft und Infrastruktur.
Diese milliardenschweren Finanztransfers führten jedoch nicht sofort zu einem selbsttragenden Aufschwung. Nach kurzzeitigem Rückgang zu Mitte der 1990er Jahre auf jährlich etwas unter 60 Mrd. Euro stiegen sie bis zum Jahr 2003 sogar auf über 80 Mrd. Euro an, um sich anschließend auf etwas niedrigerem Niveau fortzusetzen. Daher ist es nicht erstaunlich, dass polemische Äußerungen wie: "Absturz West durch Transferleistungen an Ost" (z.B. Der Spiegel 15 und 39/2004) oder Publikationen wie "Wir sind kein Volk." von Wolfgang Herles und "Supergau Deutsche Einheit" von Uwe Müller auf breite mediale Resonanz stießen. Nach Angaben des DIW belief sich die Gesamtnettotransfersumme im Jahr 2011 auf über 1,5 Billionen Euro. Greift man auf die neuesten Daten des Statistischen Bundesamts aus dem Jahr 2016 zurück, ergibt sich hierfür, von uns geschätzt, inzwischen ein Wert von 1,72 Billionen Euro (vgl. Abb. 3 und die Diskussion dazu in Brenke, 2014). Allerdings sind dann die Einnahmen aus Steuern und Sozialbeiträgen von Personen gegenzurechnen, die seit 1990 den Osten Richtung alte Bundesländer verlassen haben. Den bis 2016 in das frühere Bundesgebiet abgewanderten knapp 5 Mio. Ostdeutschen stehen dabei die über 2,3 Mio. Westdeutschen gegenüber, die in die neuen Bundesländer (einschließlich Berlin) einwanderten. Im Saldo ergibt sich eine Summe von über 2,5 Mio. Ostdeutschen, Interner Link: die in den alten Bundesländern zu deren Wirtschaftskraft beitragen. Ebenfalls abzuziehen sind Steuereinnahmen, die durch die gewaltigen westdeutschen Exportüberschüsse entstanden sind. Zusammengenommen berechnet sich dem Ökonomen Ulrich Blum zufolge bis 2014 eine Summe von etwa 1,3 Billionen Euro – wir schätzen die Gesamtsumme, von diesen Zahlen ausgehend bis zum Jahr 2016 inzwischen auf 1,4 Billionen Euro – die von der Gesamtnettotransfersumme abzuziehen sind.
In dieser Betrachtung nicht enthalten sind die mit der deutschen Wiedervereinigung angefallenen und nicht zu unterschätzenden enormen individuellen und immateriellen Belastungen (vgl. z.B. Gebauer 2019) sowie kostentreibende und problematische gesellschaftlichen Entwicklungen. Darunter zählen die Arbeitsplatzverluste: In nur wenigen Jahren deutscher Einheit schnellte die Arbeitslosenquote im Osten Deutschlands, wo zuvor Arbeitslosigkeit fast unbekannt war, auf zweistellige Werte mit den damit verbundenen Interner Link: psychischen Beeinträchtigungen und finanziellen Einbußen der Betroffenen. Auch die schon angesprochene Abwanderung gutausgebildeter Arbeitskräfte geht unmittelbar mit einer Interner Link: nachhaltigen Abwertung des Wirtschaftsstandortes Ostdeutschland einher. Weitere Standortverschlechterungen sind mit den Geburtenrückgängen nach der Wiedervereinigung verbunden und der Interner Link: Schrumpfung ganzer Regionen. Darüber hinaus stellt sich die heute die ostdeutschen Bundesländer dominierende Interner Link: kleinteilige Wirtschaftsstruktur als problematisch dar: die ungenügende Etablierung einer lokalen Eigentümerklasse, die sich im Ergebnis durch das Fehlen von Konzernzentralen mit ihren strategischen Unternehmensfunktionen und der sich damit auftuenden FuE- und Exportlücke stark bemerkbar macht, trägt zur fortdauernden Transferabhängigkeit bei (vgl. auch IWH 2019, Intelmann 2020).
Damit hat sich eine Struktur entwickelt, die zumindest mittelfristig dafür sorgt, dass die finanzschwachen ostdeutschen Bundesländer weiterhin von Transfers abhängig sein werden, wenn auch in geringerem Umfang als bisher. Dazu trägt die seit einigen Jahren rückläufige Arbeitslosenquote bei. Dabei helfen können auch Strategien, die auf schnelles Wachstum von kleinen und mittelgroßen Unternehmen setzen. Ein Beispiel hierfür ist der jüngst auf Initiative des Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Bundesländer gestartete "Dialog Unternehmen wachsen", welcher einen durch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern begleiteten Erfahrungsaustausch von ostdeutschen Unternehmern ermöglicht.
Vor dem Hintergrund der fortdauernden, wenngleich reduzierten Transferabhängigkeit der östlichen Bundesländer ist auch die Neuregelung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen (Fortführung des Länderfinanzausgleichs) zu sehen, die auch auf die Finanzschwäche von westdeutschen Bundesländer reagiert und mit der ab dem Jahr 2020 eine Entlastung der Länder in Höhe von jährlich ca. 9,5 Mrd. Euro vorgesehen ist (vgl. Bauer / Ragnitz / Rösel, S. 9, sowie UVB 2016 am Beispiel einer Berechnung für Berlin und Brandenburg). Vorausgesetzt, dass diese Mittel richtig eingesetzt werden, könnte sich die Transferabhängigkeit der finanzschwachen Länder weiter reduzieren. Letzteres ist nach wie vor nicht nur in Hinsicht auf die Herstellung gleicher Lebensverhältnisse anzustreben, sondern auch vor dem Hintergrund, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass der finanzielle Spielraum für weitere Transfers in Zukunft geringer wird. Ein erster Vorgeschmack hierfür könnten negative Auswirkungen der Corona-Krise sein.
Einmalige Sonderkosten der deutschen Einheit
Die Bezifferung der Kosten der deutschen Wiedervereinigung wäre unvollständig, wenn sie nicht die einmaligen Sonderkosten berücksichtigen würde, die ebenfalls mit der Wiedervereinigung bzw. ihrem Gefolge verbunden waren. Sie werden an dieser Stelle nur kurz angesprochen. Hier sind es erst einmal die Kosten, die sich mit den Staats- und Auslandsschulden der DDR verbinden (ca. 14,1 Mrd. Euro) und die in den Kreditabwicklungsfonds übernommen wurden. In diesem wurden auch die Kosten integriert, die sich mit der Einführung der D-Mark im Zuge der Schaffung der Währungsunion 1990 ergaben. Bis zu seiner Auflösung am 31.12.1994 entstanden damit Verbindlichkeiten in Höhe von 52,4 Mrd. Euro. Der Kreditabwicklungsfonds wurde nach seiner Auflösung als einheitsbedingte Schuldlast in den Erblastentilgungsfonds überführt.
Neben den bereits erwähnten Sonderkosten sind auch diejenigen zu nennen, die durch das Wirken der Treuhandanstalt entstanden. Obwohl hier anfänglich davon ausgegangen wurde, dass sich bedingt durch die Verkaufserlöse der Treuhand ein positiver Abschlusssaldo berechnet, wies die Schlussbilanz schließlich ein Defizit von 105 Mrd. Euro auf, die mit der Auflösung der Treuhand ebenfalls an den Erblastentilgungsfonds übergingen. Auch enthalten waren Teile der Schulden der kommunalen Wohnungswirtschaft, die sich ursprünglich auf rund 16 Milliarden Euro beliefen. Der Erblastenfonds startete mit einem Volumen von 171,9 Milliarden Euro. Weiterhin wurden in den Erblastentilgungsfonds 1997 Altschulden von gesellschaftlichen Einrichtungen der ehemaligen DDR (Schulen, Kultur- und Jugendhäuser) in Höhe von ca. 4,3 Milliarden Euro integriert. Die Tilgung des Fonds erfolgte u.a. über Bundesbankgewinne, über Beiträge der neuen Bundesländer und aus Verkaufserlösen aus UMTS-Lizenzen. Der Höchststand des Erblastentilgungsfonds wurde im Jahr 2002 mit 181,38 Mrd. Euro erreicht. Heute gilt er als getilgt. Zu den einigungsbedingten Sonderkosten gehören auch die für den Abzug der auf dem Gebiet der ehemaligen DDR stationierten Truppen der Roten Armee, die 1994 das Land verließen. Hierfür wurden von der Bundesrepublik rund 12 Mrd. DM (6,1 Mrd. Euro) zur Verfügung gestellt. Insgesamt können die einigungsbedingten Sonderkosten damit auf rund 187,48 Mrd. Euro (ohne Altlastensanierung) beziffert werden. Addiert man diese zur Nettotransfersumme hinzu, die sich bis zum Jahr 2016 auf ca. 1,72 Billionen Euro beläuft, ergibt sich ein Betrag von ca. 1,91 Billionen Euro.
Die Friedensdividende: Wegfall der Kosten der Teilung Deutschlands und die vereinigungsbedingte Reduzierung des Verteidigungsetats
Kosten der Teilung Deutschlands
Wer von den Kosten der Wiedervereinigung redet, darf von den Kosten der Teilung Deutschlands (1945-1990) nicht schweigen. Der einfache Grund hierfür liegt darin begründet, dass die teilungsbedingten Kosten nach der Wiedervereinigung Deutschlands wegfielen. Wir stützen uns im Folgenden auf eine Schätzung des Forscherteams Werner und Alexander Pfennig und Vu Tien Dung aus dem Jahr 2017. Die Kostenaufstellung enthält nur die Ausgaben, die seit 1949 für die Bundesrepublik anfielen und ist zudem unvollständig. Im Einzelnen: Zu den teilungsbedingten Kosten hinzuzuzählen sind die Kosten, die durch die Tätigkeit des 1949 gegründeten Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen (BMB) anfielen (14,45 Mrd. DM, vgl. Tabelle 1). Ein solches Ministerium hätte es bei fortwährender staatlicher Einheit nach dem 2. Weltkrieg nie gegeben.
Vom BMB ging Anfang der 1960er Jahre ganz maßgeblich die Initiative für den Freikauf von aus politischen Gründen inhaftierten Menschen in DDR-Gefängnissen aus. Seit 1963 führte dieser Freikauf zur Freilassung und Übersiedlung von 33.755 aus politischen Gründen verfolgten Menschen aus der DDR. Insgesamt zahlte die Bundesrepublik alleine dafür 3,5 Mrd. D-Mark (damit verbundene Kosten sind in dieser Summe noch nicht enthalten). Zu den teilungsbedingten Kosten ist auch die Berlinförderung zu zählen. Hier sind u.a. Förderprogramme für in Westberlin ansässige Firmen, aber auch steuerliche Vorteile für Firmen in der alten Bundesrepublik zu nennen. Insgesamt lassen sich die Berlinhilfen auf einen Betrag von weit über 200 Mrd. DM beziffern.
Neben den hier angesprochenen und weiteren teilungsbedingten Kosten, die sich auf offizielle Quellen stützen (siehe Übersicht in Tabelle 1), sind weitere Kosten in Betracht zu ziehen, die weiterer intensiver Recherche bedürfen. Darunter zu zählen sind bspw. die Kosten, die sich im Rahmen der Handelsbeziehungen der DDR mit der Bundesrepublik ("Interzonenhandel") und den Staaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ergaben: In Handelsangelegenheiten wurde die DDR wie ein Mitglied der EWG behandelt und musste bspw. keine Zölle zahlen (seit 1980 Handelserleichterungen von jährlich durchschnittlich ca. 300 Mio. DM). Darüber hinaus konnte sie von einer zinslosen Überziehungskreditlinie (sogenannter Swing) profitieren, die der Bundesrepublik Zinseinnahmeverluste bis in Höhe von jährlich zweistelligen Millionenbeträgen einbrachten. Zählt man im Ergebnis alle Kosten für die Jahre von 1950-1990 zusammen, so unvollständig sie auch überliefert sind, ergibt sich für den betrachteten Zeitraum ein Betrag von über 329 Mrd. DM (vgl. Tab. 1). Legt man die Preise von 1990 zugrunde, so den Ausführungen von Pfennig/Dung/Pfennig zufolge, berechnet sich eine Summe von 975 Mrd. DM (umgerechnet 498,51 Mrd. Euro).
Tabelle 1: Kosten der Teilung für die Altbundesrepublik 1950-1990
Häftlingsfreikauf und finanzielle Unterstützung für deren Integration sowie ähnliche humanitäre Hilfsprogramme
min. seit 1963
8.589.000.000
Auffanglager Berlin-Marienfelde
1955-1990
246.039.757
Zahlungen für Personen, die von der DDR in die Bundesrepublik umsiedelten
?
2.700.000.000
Finanzielle Unterstützung für den Bau temporärer Flüchtlingsunterkünfte
?
500.000.000
Begrüßungsgeld für Besucher aus der DDR
1984-1990
4.071.903.328
Pauschale für Postdienstleistungen
1967-1989
1.880.000.000
Transitpauschale und Visagebühren für den Verkehr durch die DDR
1972-1989
7.800.000.000
Aufbau, Erweiterung und Instandhaltung der Transitstrecken zwischen West-Berlin und dem Bundesgebiet
?
4.600.000.000
Strafgebühren aufgrund von Verkehrsregelverstößen auf den Transitstrecken zwischen West-Berlin und dem Bundesgebiet
1984
7.000.000
Gebietstausche zwischen der Bundesrepublik und der DDR
1971-1988
111.000.000
Medizinische Versorgung von DDR-Bürgern während temporärer Aufenthalte auf dem Gebiet der Bundesrepublik
1988
43.000.000
Finanzielle Zuwendung (z.B. für die Bezahlung von Pfarrergehältern im Rahmen von Kirchenpartnerschaften (EKD)
1950-1990
1.683.153.000
Summe
329.219.878.846
Quelle: Pfennig / Dung / Pfennig 2017, S. 65
Vereinigungsbedingte Reduzierung des Verteidigungsetats
Mit der Überwindung der Teilung Deutschlands ergibt sich ebenfalls eine Friedensdividende im engeren Sinn. Diese besteht darin, dass die Kosten, die direkt der Aufrechterhaltung der Teilung Deutschlands dienten, fortan entfielen. Im Einzelnen betrifft das die nachhaltige Reduzierung der Verteidigungsausgaben für die Bundeswehr, der durch die Stationierung von alliierten Truppen anfallenden Kosten und den ersatzlosen Wegfall von Aufwendungen zur Aufrechterhaltung der Sicherungen an der innerdeutschen Grenze, der Grenztruppen, der NVA und der Staatssicherheit. Im Folgenden wird nur die Reduzierung der Verteidigungsausgaben für die Bundeswehr betrachtet: Bis zum Jahr 1989 standen sich die Bundeswehr und die Nationale Volksarmee der DDR, eingebunden in ihren jeweiligen Militärblöcken, feindlich gegenüber. Die Personalstärke der NVA stieg bis zu Ende der 1980er Jahre auf 168.000 Personen an. Die Bundeswehr verfügte 1989 über ein Heer von 495.000 Soldaten. Der erhebliche Verteidigungshaushalt der Altbundesrepublik betrug gemessen an der Wirtschaftsstärke Anfang der 1970er Jahre immer noch 3,2 Prozent des Bruttoinlandprodukts mit einer (relativ gesehen) leicht sinkenden Tendenz bis 1990.
Mit der Wiedervereinigung sanken die Verteidigungsausgaben für die Bundeswehr bis zum Jahr 2013 auf Werte von 1,2 Prozent des Bruttoinlandprodukts, bei gleichbleibendem Niveau in den Folgejahren. Um die Kosten zu schätzen, die durch die Wiedervereinigung eingespart wurden, kann der durchschnittliche Wert von ca. 3,1 Prozent des Bruttoinlandprodukts der alten Bundesländer für ein Bedrohungsszenario wie in den 1970er und 1980er Jahren, verwendet werden. Diese Szenariowerte wurden von uns den tatsächlichen Verteidigungsausgaben (ebenfalls gemäß des BIP-Anteils, der auf die alten Bundesländer entfällt) als Differenz gegenübergestellt. Abb. 4 belegt im gewählten Szenario ohne Friedensdividende insgesamt steigende Verteidigungshaushaltsausgaben, während sie tatsächlich nach der Wiedervereinigung in absoluten Beträgen bis in die erste Dekade des 21. Jh. hinein sanken. Begonnen mit dem Jahr 1991 stieg der jährliche Differenzbetrag an und erreichte bis zum Jahr 2018 einen Wert von über 54 Mrd. Euro, Tendenz steigend.
Zusammengenommen ergibt sich damit bis zum Ende des Betrachtungszeitraums 2018 ein Betrag von fast 969 Mrd. Euro (2016: ca. 862 Mrd. Euro), die die Bürger in den alten Bundesländern für ihre Verteidigung bei fortwährender Teilung Deutschlands zusätzlich hätten aufbringen müssen.
Auf dem Weg zu einer Bilanz
Der thematische Schwerpunkt dieses Beitrags lag auf einer vorläufigen Bilanzierung der Kosten und Erträge der deutschen Einheit. Wie gesehen, sind die Kosten, die mit der Einheit Deutschlands verbunden sind, enorm hoch. Das gilt sowohl für die rund 1,72 Billionen Euro, die sich als Nettotransfers bis zum Jahr 2016 beziffern lassen, als auch für die einmaligen Sonderkosten, mit mindestens ca. 187,5 Mrd. Euro. Zusammen beläuft sich die Summe dieser Zahlungen auf rund 1,9 Billionen Euro. Damit noch nicht genug, denn auch in Zukunft werden weitere Transfers notwendig sein. Für eine Bilanzierung sind von den Kosten jedoch zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Beträge aus Steuern und Sozialbeiträgen abzuziehen, die von den im Saldo 2,5 Mio. Ostdeutschen in den alten Bundesländern bisher entrichtet wurden. Ebenfalls müssen die Steuereinnahmen, die durch die Exportüberschüsse westdeutscher Unternehmen entstanden sind, abgezogen werden. Zusammengenommen sind das geschätzt 1,4 Billionen Euro. Zieht man zusätzlich die teilungsbedingten Kosten (498,51 Mrd. Euro) und den Betrag ab, der sich durch die geopolitisch und vereinigungsbedingte Reduzierung der Verteidigungskosten (bis 2016 ca. 862 Mrd. Euro) schließt die vorläufige Bilanz der deutschen Einheit mit einem positiven Ergebnis von nominal ca. 880 Mrd. Euro.
Das bedeutet, dass die geldwerten Vorteile der deutschen Wiedervereinigung bis zum Jahr 2016, die Kosten überwiegen, die bei einer fortwährenden Teilung aufgelaufen wären. Das ist auch dann noch der Fall, wenn man von etwas höheren Nettotransfers ausgeht. Da unsere Kostenaufstellung unvollständig ist, gehen wir davon aus, dass die Bilanz sogar noch positiver ausfällt, vor allem dann, wenn eine deutsche Gesamtbilanz vorliegt. Dennoch, die Betrachtung der Kosten der deutschen Einheit alleine, so notwendig sie ist, greift zu kurz. Für eine Einheitsbilanz müssen den Kosten selbstverständlich auch weitere Nutzen aus der deutschen Einheit gegenübergestellt werden. Aus wirtschaftlicher Sicht ist dazu der Zugewinn von neuen Produktionsstandorten und vor allem auch Absatzgebieten zu zählen. In diesem Punkt führte die Vereinigung zunächst erst einmal dazu, dass hauptsächlich westdeutsche Unternehmen den einigungsbedingten Nachfrageschub bedienten, während sie international weiter (und wie vorher schon) an Wettbewerbsfähigkeit einbüßten. Erst Ende der 1990er Jahre gelang es ihnen, diesen Trend umzukehren, wie die rasch zunehmenden Exporterfolge für diese und die späteren Jahre belegen. Ursächlich hierfür ist, zum einen, dass deutsche Unternehmen ihre Arbeitsproduktivität durch Auslagerung unproduktiver Wertschöpfungsstufen in das Ausland erhöhen konnten. Zum anderen ist zu bemerken, dass sie sich auf die Nachfrage der rasch wachsenden Schwellenländer (z.B. China) nach Investitionsgütern besser als zuvor einstellen konnten. Von 1991 bis zum Jahr 2018 konnte deutschlandweit die exorbitante Summe von über 65 Billionen Euro in Preisen von 2010 erwirtschaftet werden. Davon entfielen fast 56 Billionen Euro auf die westlichen und etwas weniger als 10 Billionen Euro auf die ostdeutschen Bundesländer, einschließlich Berlin. Mit anderen Worten, schon in wirtschaftlicher Hinsicht hat sich die Wiedervereinigung mehr als ausgezahlt.
Aber natürlich gehören nicht nur Wirtschaftsunternehmen zu den Gewinnern der deutschen Einheit. Gleichermaßen und noch viel wichtiger stehen hierfür die beträchtlichen Einkommens- und Wohlfahrtsgewinne der Bevölkerung in Ost und West, die sich bspw. auch in einer gestiegenen Lebenserwartung niederschlagen. Das soll natürlich nicht suggerieren, dass mit der Wiedervereinigung jetzt alles gut wäre: Neben den Erträgen war und ist die Einheit Deutschlands, wie schon weiter oben dargestellt, mit zusätzlichen nicht-materiellen Belastungen sowie problematischen Entwicklungen verbunden. Dazu zählen Asymmetrien zulasten Ostdeutschlands und seiner Bevölkerung im Hinblick auf die Einkommenshöhe und die Vertretung Ostdeutscher in gesellschaftlichen Führungspositionen (vgl. Gebauer / Salheiser / Vogel 2017, Vogel / Zajak 2020).
Abb. 5: Persönliche Bilanz der deutschen Einheit (bpb)
Dennoch überwiegen für viele Menschen die Vorteile. Stellvertretend für diese Entwicklung verweisen wir hier auf einen entsprechenden Befund auf der Datengrundlage der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage 2018 (vgl. Abb. 5). Danach gefragt, ob die Wiedervereinigung für die Bürger in den neuen Bundesländern mehr Vorteile als Nachteile gebracht habe, äußerte sich die überwiegende Mehrheit der Ostdeutschen positiv. 22 Prozent beantworten die Frage mit "stimme voll und ganz zu" und weitere 43 Prozent mit "stimme eher zu" – das sind insgesamt zwei Drittel aller Ostdeutschen, eine Bilanz, die sich sehen lassen kann, aber an der weiter gearbeitet werden muss.
Prof. Dr. Heinrich Best ist Professor für Soziologie an Friedrich-Schiller-Universität Jena. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören politische und historische Soziologie, Sozialstrukturanalyse, Elitenforschung und Methodenforschung.
Dr. Ronald Gebauer ist Soziologe an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Zittau/Görlitz.
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