Erwerbsarbeit prägt unsere Gesellschaft in jeder Hinsicht. Erwerbsarbeit hat aber auch eine sinnstiftende Funktion und markiert eine soziale Rolle und Position.
Interner Link: Die Welt der Erwerbsarbeit prägt unsere Gesellschaft in struktureller wie normativer Hinsicht. Die Zahl der Erwerbstätigen erreichte bis zur pandemischen Krise von Jahr zu Jahr neue Höchstwerte . Das strukturelle Gewicht der Erwerbsarbeit hat somit zugenommen. Immer mehr Menschen sind am Erwerbsleben beteiligt, in sehr unterschiedlichen Formen und vertraglichen Bindungen sowie in differenzierten sozialen und beruflichen Lagen. Hinzu kommt der normative Aspekt, also die Bedeutung der Erwerbsarbeit als Sinnstifterin und als soziale Rolle und Position. Vieles spricht dafür, dass die Vorstellung von einem geglückten Leben noch niemals so eng mit einer erfolgreichen und sinnerfüllenden Arbeit verknüpft war, wie das heute der Fall ist. Die Arbeitsgesellschaft, von der sich weite Teile der Sozialwissenschaften schon in den 1980er Jahren hatten verabschieden wollen (vgl. Dahrendorf 1980; Offe 1984; Rifkin 1996), ist zu Beginn der 2020er Jahre vitaler und präsenter denn je. Ein Ende der Erwerbsarbeit ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: Die Beteiligung an Erwerbsarbeit steht im Mittelpunkt der Lebensführung und markiert soziale Statuspositionen. Das gilt für Stadt und Land, für Karriere und Mobilität, im Home-Office oder im Betrieb.
Bei genauerem Hinsehen werden in und durch Erwerbsarbeit Spannungsverhältnisse sichtbar, die zugleich wesentliche Momente ihrer Veränderung sind:
So entfaltet die Erwerbsarbeit über die Rolle des Berufs und der damit verknüpften Ausbildungswege erhebliche kohäsive Kräfte (vgl. Castel 2011; Sennett 2012), aber sie ist auch ein wesentlicher Faktor gesellschaftlicher Ungleichheit. Erwerbsarbeit stiftet Zusammenhalt, aber sie markiert ebenso soziale und kulturelle Trennungen.
An Erwerbsarbeit entzünden sich nach wie vor zahlreiche gesellschaftliche Konflikte. Doch sie dient zugleich als Ankerpunkt von Sicherheit und sozialen Rechten, denn der moderne Sozialstaat bzw. Sozialversicherungsstaat ist in hohem Maße auf die Erwerbsarbeit bzw. auf die Partizipation am Erwerbsleben ausgerichtet.
Schließlich bleibt die Erwerbsarbeit in ihrer betrieblichen Gestalt mit Blick auf die tarifliche Gestaltung der Arbeit und auch bezüglich der Mitbestimmung ein Lernort demokratischer Praktiken. Zugleich darf nicht übersehen werden, dass Betriebe immer auch Orte von Herrschaft sind, die strukturell auf ungleichen Machtverhältnissen (vgl. Vogel 2015) basiert. Betriebe und Behörden sind jedenfalls mehr als nur Stätten, an denen Arbeitsleistungen erbracht werden.
Wenn daher die Rede ist von der Zukunft der Arbeit und den damit verbundenen Transformationen, welche die Erwerbsarbeit durchläuft, dann muss in den oben skizzierten Spannungsverhältnissen gedacht werden.
Dimensionen der Transformation der Arbeit
Was sind nun die entscheidenden Transformationen, mit denen die Arbeitswelt und alle, die an ihr in unterschiedlichen Formen teilhaben, konfrontiert sind bzw. mit denen sie sich auseinandersetzen müssen? Eine prominente Formel benennt die sogenannten vier D`s (vgl. Demary u.a. 2021; Regierungsforschung.de 2022), um die Vielzahl an Veränderungen zu bündeln. Was verbirgt sich hinter dieser Formel?
In der Sphäre der Erwerbsarbeit formt sich erstens die technische Zukunft unserer Gesellschaft aus – das Stichwort hierfür lautet "Digitalisierung". An der Gestaltung der Arbeitswelt hängt zweitens das Gelingen der sozial-ökologischen Transformation unserer Wirtschaftsweise – das entsprechende Stichwort ist "Dekarbonisierung". Die Zukunft des Arbeitens ist drittens zweifelsohne eine Generationenfrage: Wer trägt die Arbeitswelt von morgen? Welche Ansprüche und Erwartungen werden an die Arbeitswelt von morgen gerichtet? - Fragen der Zuwanderung spielen hier ebenso eine Rolle wie die Frage des beruflichen Nachwuchses in zahlreichen Branchen, vom Handwerk bis zur öffentlichen Verwaltung. Auch die Alterung der Bevölkerung kommt ins Spiel, ebenso wie die Tatsache, dass in und aus manchen Regionen und Quartieren die jungen Leute weitgehend verschwunden sind – das Stichwort heißt "Demografie". Schließlich hängt auch die Lebensqualität unserer Gesellschaft davon ab, welchen Wert wir welchen Tätigkeiten beimessen. Die Pandemie lehrt uns neuerlich diese Erfahrung, indem sie "systemrelevante" Arbeit stärker in das Licht der Öffentlichkeit rückt (vgl. Vogel 2022). Daher hat Erwerbsarbeit sehr viel mit Gemeinwohl und Gemeinsinn zu tun – das vierte D-Stichwort ist folglich "Demokratie".
Die skizzierten Trends greifen ineinander, verstärken oder blockieren sich. Sie haben jeweils für sich das Potential für handfeste Krisen (Arbeitsplatzverluste, soziale Abstiege, Fachkräftemangel, Delegitimierung der Demokratie), aber sie eröffnen jeweils auch Chancen (vereinfachte und von körperlicher Arbeit entlastete Arbeitsabläufe, Stärkung nachhaltiger Arbeit, verbesserte Entlohnungs- und Arbeitsbedingungen). In welche Richtung sich Prozesse der Digitalisierung der Arbeit, der Dekarbonisierung der industriellen Fertigung sowie der Energiegewinnung, der demografischen Entwicklung in Stadt und Land sowie der demokratischen Partizipation in der Arbeitswelt entwickeln, ist daher bei weitem nicht ausgemacht. Hier wirken keine unabänderlichen Gesetze oder Mechanismen, sondern all diese Prozesse und Veränderungen sind gestaltbar.
Zur Frage der Gestaltbarkeit. Wenn wir über die Transformationen der Erwerbsarbeit sprechen, dann darf in der oben genannten Aufzählung mit Blick auf die vergangenen drei Jahrzehnte der Prozess der Deindustrialisierung nicht fehlen. Gerade die Arbeitswelt im Osten Deutschlands hat sich seit 1989 mit besonderer Dynamik transformiert. Der massive Arbeitsplatzverlust gerade im industriellen Bereich, die Kurzarbeit und die lang anhaltende Arbeitslosigkeit, die bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein reichte, dominierten in den 1990er Jahren die Arbeitsmarkt- und Beschäftigungssituation in Ostdeutschland (vgl. Vogel 1999) (Abb. 2 und 3).
Dieser Einschnitt wirkt bis heute nach, zum Teil strukturell, zu einem noch größeren Teil aber mental. Verlusterfahrungen prägen die Nachwendejahre zwischen Mecklenburg und Sachsen, und bis heute ist die oftmals vermisste Wertschätzung gegenüber der in der DDR geleisteten Arbeit eine prägende kollektive Erfahrung, unbeschadet dessen, dass zur Gesamtbilanz der Folgen der deutschen Einigung auch sehr positive gegenläufige Tendenzen gehören. So wurde nach der Wende aufgrund der Deindustrialisierung die Verbesserung der Umweltsituation in der ehemaligen DDR rasch spürbar, und auch der Ausbau und die Modernisierung der Infrastrukturen sowie die Investitionen in die gebaute Umwelt waren nicht zu übersehen. Auch waren im Durchschnitt die materiellen Wohlstandsgewinne seit 1990 erheblich. Dennoch ist der Wegfall industrieller Arbeit, die Zunahme prekärer Beschäftigung und der dauerhafte Verlust von qualifizierten Arbeitsplätzen insbesondere in den ländlichen Räumen im Osten Deutschlands eine prägende Erfahrung. Nachhaltige Effekte hat bis zum heutigen Tag der Wegzug der jüngeren Leute aus ländlichen Räumen. Hierdurch verändern sich jenseits der boomenden Städte wie Leipzig, Jena und Erfurt die Sozialstrukturen vor Ort und auch das soziale Klima erheblich (vgl. Neu/Vogel 2020). Dennoch zeigt die Abwägung der positiven und negativen Folgen dieser Transformationsprozesse in Ostdeutschland, dass eindeutige Schlussfolgerungen ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit hervorbringen.
Die grundlegende und nachhaltige Transformation der Arbeitswelt nach der Wende 1989 ist weder eine eindeutige Verfalls- noch eine klare Gewinnergeschichte. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass neben der Tatsache einer tendenziellen Annäherung der Arbeitslosenquoten in Ost und West (Abbildung 1) nun in Ostdeutschland nach drei Jahrzehnten wirtschaftlichen Umbruchs offensichtlich die Deindustrialisierung von einer Reindustrialisierung abgelöst wird (Abbildung 2). Das gilt zum einem mit Blick auf sogenannte "Leuchttumprojekte" wie Tesla in Grünheide oder Infineon in Magdeburg. Aber es gilt auch für Prozesse der Industrialisierung ländlicher Räume, etwa im Zuge des Ausbaus von Logistikinfrastrukturen oder der forcierten Energiewende.
Transformationsdynamiken und -notwendigkeiten der Arbeit
Zwar können verschiedene Entwicklungsrichtungen der Arbeitswelt unterschieden werden – dennoch ist klar, dass die Arbeitswelt in ihrer heutigen Form und Gestalt nur noch begrenzte Zukunftsfähigkeit besitzt, ja besitzen darf, sollen nicht im globalen Maßstab die Lebensgrundlagen infrage gestellt werden. Es sind Transformationszwänge entstanden, die gestaltet werden müssen, gleichzeitig aber auch eine innere Kraft freisetzen, die die politische Steuerung an ihr Ende bringen kann. Die sozialökologische bzw. grüne Transformation unserer Arbeits- und Lebensweise sorgt jedenfalls für einen erheblichen, in seinen Konsequenzen zu weiten Teilen noch gar nicht erfassten Veränderungsdruck in allen Bereichen der Arbeitswelt. Dekarbonisierung ist eben mehr als nur technologischer Wandel. Klimagerechtes Wirtschaften erfordert mehr als eine ökonomische Wende zur Nachhaltigkeit, sondern greift tief in Produktionsabläufe ein und verändert grundlegend die Wertigkeit und Zukunft von Berufen. Exemplarisch spiegeln sich diese noch kommenden Veränderungen schon heute in Gesellschaftsbildern, die wir empirisch im Rahmen einer Studie mit Betriebsrätinnen und Betriebsräten sowie mit betrieblichen Vertrauensleuten im Organisationsbereich der IG Metall erheben konnten (vgl. Kuhlmann u.a. 2022). Von forschen Fortschrittsphantasien ist in dieser Studie wenig zu spüren, eher von der Sorge, dass im Prozess der grundlegenden Umgestaltung von industriellen Produktionsmodellen Solidarität und sozialer Ausgleich unter die Räder kommen. Die Transformation der Arbeitswelt wird von den Befragten daher als eine Entwicklung betrachtet, in der es Erreichtes zu bewahren gilt und Neues maßvoll gestaltet werden muss. Das klingt nicht nach Klassenkampf, sondern nach Besitzstandswahrung, nach Wohlstandskonflikten und nach Statuskämpfen (vgl. Vogel 2009) in den industriellen Fachkräftemilieus des Maschinen- oder Automobilbaus. Die Sorge vor Veränderung ist groß und die Furcht vor Abstieg sehr präsent. Hier liegt eine wesentliche Quelle des Themas des sozialen Zusammenhalts, das gegenwärtig gerade in der unteren Mittelschicht und der Arbeiterschaft erheblich an Bedeutung gewinnt. Das Kollektive wird als wesentliche Ressource einer gelingenden Transformation der Arbeitswelt hervorgehoben. Von Singularität und Individualisierung ist in den Gesellschaftsbildern an diesen Orten der Gesellschaft wenig zu spüren.
Diesen Befund bestätigen auch Forschungen aus sehr unterschiedlichen regionalen Transformationskonstellationen (vgl. Tullius u.a. 2022). Die Forschung beleuchtet hier konkret zum einen die dynamischen Zentren der automobilen und logistischen Mobilität rund um den Neckar und im Rhein-Main-Gebiet. Der Fachkräftebedarf ist hoch, das Handwerk profitiert vom Wohlstand öffentlicher und privater Hände. Zum anderen werden im Rahmen desselben Projekts alternde Sozialräume in Ostdeutschland und im Ruhrgebiet in den Blick genommen, die zwischen Pflegebedarf, Gesundheitsdienstleistungen, innovativen Mittelständlern in der Energietechnik und Start-Ups in der IT-Branche changieren. In all den genannten Fällen spielt bemerkenswerterweise nicht mehr die Digitalisierung, also die technologische Weiterentwicklung der Arbeitswelt und die Sorge vor Rationalisierung die zentrale Rolle, die jüngst noch im Mittelpunkt aller Debatten zur Zukunft der Arbeit stand (vgl. Buss u.a. 2022). Zu den treibenden Kräften der Transformation hat sich vielmehr erstens die unübersehbare Notwendigkeit klimagerechten Wirtschaftens entwickelt, die einen fundamentalen Umbau der Industriegesellschaft im 21. Jahrhundert erfordert. Zweitens spielt die bislang kaum beachtete Frage, wer die Arbeitskräfte von morgen sind, welche die Transformation mit Leben füllen, eine immer größere Rolle. Wer und wo sind die Handwerker, die die Solarpanele auf die Hausdächer montieren, die Vermessungstechniker, welche die Verkehrswende buchstäblich auf die Straße bringen, oder die Gesundheitsdienstleister, die eine resiliente Arbeitswelt ermöglichen, in welcher auch die Krisen der Zukunft vorweggedacht werden?
Nicht nur scheinen die Schrecken der Digitalisierung als das prognostizierte Ende menschlicher Erwerbsarbeit gebannt. Auch die soziale Frage der Arbeitslosigkeit ist in den Hintergrund getreten, angesichts eines wachsenden Bedarfs an Arbeitskräften (Abb. 3). Das gilt nicht nur hierzulande, sondern spiegelt sich beispielsweise auch in der Diskussion um die "great resignation", also den Rückzug von Arbeitskräften aus klassischen Beschäftigungsfeldern in den USA und Großbritannien (Abb. 4).
Alles in allem wird deutlich, dass sich die Voraussetzungen, vor allen Dingen aber auch die Perspektiven des Erwerbstätigseins verändern, wenn digitale Techniken Einzug halten und selbstverständlich werden, wenn ein kohäsives, arbeits- und sozialrechtlich umhegtes Wirtschaftsmodell umgebaut wird und wenn Migration und Fachkräftebedarf den Arbeitsmarkt der Zukunft prägen. Die Transformation der Arbeitswelt greift daher weit über neue Produktionstechnologien, veränderte Absatzmärkte und neue Ausbildungsschwerpunkte hinaus. Diese Entwicklung ist nicht neu und galt schon vor der pandemischen Krise seit dem Frühjahr 2020.
Blockade oder Beschleunigung? - Die Folgen der Pandemie für die Transformation der Arbeitswelt
Die Pandemie taucht in ihren gesellschaftlichen Folgewirkungen die Arbeitswelt in ein anderes Licht. Als tiefgreifende Gesellschaftskrise, die die Verwundbarkeit unserer Arbeits- und Lebensweise binnen kürzester Zeit schonungslos aufzeigte, hat sie die Qualität der Transformationsbeschleunigung, aber entlang der durch sie ausgelösten Konflikte auch die Kraft der Transformationsblockade. Sie ist jedenfalls weit mehr als nur eine krisenbedingte und konjunkturelle Unterbrechung des wirtschaftlichen und sozialen Alltags in unserer Gesellschaft. Sie greift als globale Krise tiefer. Inwiefern die Pandemie die Transformationen der Arbeitswelt in ihren unterschiedlichen Dimensionen (siehe oben) eher beschleunigt oder blockiert, ist noch nicht hinreichend klar bzw. entschieden. Unstrittig ist nur, dass die Pandemie unsere Aufmerksamkeit für bestimmte Entwicklungen im Arbeitsleben schärft bzw. geschärft hat:
Je länger die Pandemie dauert, desto intensiver kehrt die Frage nach Wert und Würde der Arbeit auf die arbeitsgesellschaftliche Tagesordnung zurück, und zwar in doppelter Weise. Einmal als Gerechtigkeitsfrage, indem auch in der Öffentlichkeit sehr viel intensiver über die Frage verhandelt und gestritten wird, was ein gerechter Lohn ist. In den Mittelpunkt tritt nicht nur die Frage, welche Berufe und Tätigkeiten welche Wertschätzung und Anerkennung erhalten, sondern auch, welche monetären und tariflichen Konsequenzen für bestimmte Arbeitsfelder zu ziehen sind, insbesondere für gemeinwohlorientierte Tätigkeiten.
Zum anderen kommt mit der Pandemie die Investitionsfrage auf den Tisch: In welche Bereiche, Branchen und Berufe der Arbeitsgesellschaft müssen wir künftig investieren? Der soziale Charakter der Arbeit wird deutlicher, d.h. Erwerbsarbeit und Beruf haben je nach Branche und Sektor einen spezifischen gesellschaftlichen Wert. So erzeugen bestimmte Branchen und Wirtschaftssektoren Kollektivgüter, von denen alle Mitglieder einer Gesellschaft profitieren. Daher müssen demokratische und sozialstaatlich verfasste Gesellschaften ein Interesse daran haben, dass diese Sektoren und Branchen hinreichend leistungsfähig sind. Diese Leistungsfähigkeit hängt von den Infrastrukturen und dem Personal ab.
Der soziale Charakter der Arbeit bzw. des Arbeits- und Berufslebens zeigt sich aber auch an der Betriebsform der Arbeit. Betriebe sind soziale Orte, die weit mehr sind als "nur" Arbeitsorte, an denen spezifische Arbeitsleistungen erbracht werden. Betriebe führen Menschen unterschiedlicher Herkunft und sozialer Laufbahnen, differenzierter beruflicher Profile und Kompetenzen, unterschiedlicher Altersgruppen und sozialkultureller Hintergründe zusammen. Sie bilden Kreuzungspunkte der Arbeitsteilung und der Sozialerfahrung. Betriebe prägen Traditionen und Mentalitäten aus und sie sind der Ansatzpunkt für das Finden gemeinsamer Interessen. Schaut man unter diesem Blickwinkel auf die Arbeitswelt, dann wird deutlich, dass Home-Office und Digitalität gegenläufige Entwicklungen zum Aufbau und zur Gestaltung sozialer Kreuzungspunkte sind. Zusammenhalt – ob sozial oder betrieblich – benötigt jedenfalls Kreuzungspunkte und soziale Orte.
Die Pandemie zeigt sehr deutlich auf, dass jede Arbeitserfahrung durch Kontextbedingungen geprägt ist. Ob wir die Gesellschaft als individualisiert oder singularisiert beschreiben, ändert nichts daran, dass Arbeitende immer Teil kollektiver Zusammenhänge sind, die über den Arbeitsort hinausgehen. Auch wenn sie mehr und mehr in ihrem Arbeits- und Berufsleben auf sich selbst zurückgeworfen sind, beispielsweise als Clickworker oder als Leiharbeitskräfte, so sind sehr viele Arbeitende dennoch aktiv in Verein und Nachbarschaft oder in Dorf und Quartier. Zudem sind die allermeisten auch in familiäre und verwandtschaftliche Bezüge eingebunden, also beteiligt an Bindungen, die ihre Haltungen gegenüber Arbeit und Gesellschaft prägen. Die Pandemie lehrt uns die Logik des Kollektiven, also von Gemeinschaftsbezügen, und sie dementiert die Wirkmacht der Logik des Singulären, sprich der Vereinzelung.
Transformationskonflikte in der Arbeitswelt
Mit Blick auf die Transformationen der Arbeitswelt sind perspektivisch folgende Konfliktfelder erkennbar, die künftig in hohem Maße das Erwerbsleben prägen werden: Das erste Feld greift die langjährige Debatte um die Prekarisierung der Arbeitswelt auf und kontrastiert sie mit dem akuten Fachkräftemangel, der sich durch die demografische Entwicklung noch einmal verschärfen wird (Abb. 5). Das gilt nicht nur hierzulande, sondern insbesondere in den mittel- und osteuropäischen Abwanderungsgesellschaften, die teils ganze Generationen qualifizierter Arbeitskräfte vor Ort verlieren oder zu verlieren drohen (vgl. Pfeffer-Hoffmann 2021).
Das zweite Spannungsfeld ist auf der Ebene der Beschäftigten angesiedelt. Entwickelt sich eine neue Soziallage der "essential workers", d.h. von Arbeitskräften im Bereich wichtiger Infrastruktur-Leistungen,die klassenübergreifend die Pflegekraft und den Oberarzt oder die Lageristen und Lehrkräfte umfasst? Welche Art von "klasseninternen" Spannungen ist hier erwartbar und inwieweit erleichtern oder erschweren diese Differenzen Transformationsprozesse? Schließlich zeichnet sich ein drittes Spannungsfeld ab, das in den Transformationsprozessen der Arbeit eine zentrale Rolle spielen wird: In welchem Verhältnis steht die Digitalisierung der Arbeitswelt zu den Anforderungen des klimagerechten und sozialökologischen Umbaus der Industriegesellschaft?
Was ist zu erwarten für die Zukunft der Arbeit? Die Zuspitzung sozialer Ungleichheit durch prekäre Beschäftigung? Eine nachlassende Integrationskraft der Erwerbsarbeit? Oder neue Perspektiven für eine Arbeitswelt, die die Ressourcen für kommende Generationen nicht vernichtet, sondern erhält und wachsen lässt? Vermutlich braucht es genau diese Konflikte als Triebfeder einer neuen, ökologisch geprägten, auf Klima- und Artenschutz orientierten Politik. Es kommt in der künftigen Arbeitsgesellschaft sehr viel stärker auf die Verbindung von Wissensarbeit und Handwerk, von öffentlichen und marktförmigen Dienstleistungen, von privatem Interesse und Gemeinwohl, von generalistischem Denken und regionalen Bezügen an. Denn nach wie vor ist die Erwerbsarbeit ein zentraler gesellschaftlicher Kohäsionsort, von dessen Gestaltung nicht zuletzt die Zukunft von Wohlfahrtsstaat, Gemeinwesen und Demokratie abhängt.
Prof. Dr. Berthold Vogel ist Geschäftsführender Direktor des Soziologischen Forschungsinstituts (SOFI) Göttingen an der Georg-August-Universität. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Soziologie staatlicher Ordnung; Analyse öffentlicher Güter; Diagnostik der vielfältigen Welt der Erwerbsarbeit, ihrer Akteure und Konflikte.
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