"Sicherheit" als Elementarbedürfnis und sozialstaatliches Versprechen
Everhard Holtmann
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Themen der öffentlichen und sozialen Sicherheit stehen auf der Dringlichkeitsliste der Bevölkerung für die Politik weit oben. In welchem Maße diese an die Politik gerichteten Erwartungen als erfüllt angesehen werden, beeinflusst in der Parteiendemokratie wesentlich das Vertrauen in die staatlichen Institutionen und die Wahlchancen der Parteien.
"Sicherheit" ist ein elementares Grundbedürfnis menschlichen Daseins. Dieses Bedürfnis wird seit alters her gespeist durch nicht enden wollende Erfahrungen mannigfacher Lebensrisiken. Andauernde Anstrengungen, diese individuellen Risiken gemeinschaftlich dadurch unter Kontrolle zu bringen, dass sie institutionell eingehegt werden, zum Beispiel durch Polizei, Krankenkassen, Hygienebehörden, Sozialämter oder auch ehrenamtliches Engagement, sind ein Kennzeichen moderner Staatlichkeit und entwickelter Zivilisation.
Ging es in früheren Zeiten vornehmlich noch darum, auf unerwartet einbrechende Unsicherheit durch Naturkatastrophen, Seuchen oder kriegerische Verheerungen abwehrend zu reagieren, ist heutzutage längst auch Prävention, also das Bestreben, möglichen Risiken und Gefahren vorzubeugen, handlungsleitend geworden. Ein historisch wegweisendes Beispiel hierfür war die Einführung umfassender und bis heute wiederholt angepasster parastaatlicher Systeme sozialer (Ver-)Sicherung in den 1880er Jahren des Deutschen Reiches (siehe Beitrag "Systeme sozialer Sicherung"). Aktuell legt die öffentliche Debatte um die Einführung einer allgemeinen Impfflicht gegen das Corona-Virus den doppelten Kern der Sicherheitserwartung, nämlich Heilung und Vorsorge, exemplarisch frei.
Das Gefühl von Sicherheit und ihr Einfordern durch so gut wie alle Bürgerinnen und Bürger deckt in der Gegenwart die gesamte Breite persönlicher Fährnisse, "Sorgenkonten" und Lebenserwartungen ab. Mit Bezug auf allgegenwärtige Risiken und typische Gefahrenlagen lassen sich drei Dimensionen von Sicherheit unterscheiden: Zum einen geht es um den Schutz von Leib und Leben, also im juristischen Sprachgebrauch um innere bzw. öffentliche Sicherheit. Deren Gewährleistung obliegt nach unserem Staatsverständnis dem Rechtsstaat und dem staatlichen Gewaltmonopol (Benz 2008, Holtmann 2020; zur klassischen Begriffsdefinition Weber 1976: 28, 38, 361 u. ö.). Zum zweiten geht es um soziale Sicherheit. Diese beinhaltet eine gesicherte Lebensgestaltung, d.h. die Gewähr einer gesunden, materiell auskömmlichen und menschenwürdigen Existenz, wobei die sogenannten Daseinsgrundbedürfnisse, sprich Ernährung, Arbeit, Wohnen, Bildung, Teilhabe am sozialen Leben und Reproduktion, angemessen abgesichert werden. Hier kommt mit Erfüllung der Sozialstaatsfunktion eine weitere zentrale staatliche Aufgabe zur Geltung. Schließlich geht es drittens um psychische Verhaltenssicherheit, also einen Zustand mentalen Wohlbefindens, der in seelischer Balance gründet und in Chancen persönlicher Selbstentfaltung seine Bestätigung findet.
Im Folgenden werden diese drei Dimensionen von Sicherheit inhaltlich näher behandelt. Zuvor wird anhand von Umfragedaten veranschaulicht, wie konstant in der Bevölkerung ein diffuses Sicherheitsbedürfnis vorherrscht, welches die Bereichssicherheiten überformt. Abschließend kommt zur Sprache, welche Bedeutung die Erfüllung des Sicherheitsversprechens für die Legitimation der Politik in unserer Demokratie hat.
"Sicherheit" als ein weit verbreiteter gesellschaftlicher Leitwert
In der Einstellungsforschung wird "Sicherheit" neben "Freiheit" und "Gleichheit" zu den generellen Werten gerechnet (Roller 1999). Wird in Umfragen die hypothetische Frage gestellt, ob die Menschen eher der Freiheit oder der Sicherheit Vorrang einräumen, so fällt - ungeachtet gewisser zeitbedingter Schwankungen – die Antwort regelmäßig klar zugunsten von Sicherheit aus. Gefragt: "Wenn Sie sich für Freiheit oder Sicherheit entscheiden müssten, was wäre Ihnen wichtiger?", optierten im Sommer 2020 etwa in Sachsen-Anhalt zwei Drittel der Befragten für Sicherheit (Abbildung 1). Dabei nimmt die Priorisierung von Sicherheit mit steigendem Alter zu. Während unter 30-Jährige zu 53 Prozent vorrangig die sichere Seite suchen, sind es bei über 60Jährigen 82 Prozent (SAM 2020: 116). Im gleichen Jahr bestätigte sich dieses Meinungsbild wie in den Vorjahren auch für Thüringen (Abbildung 2).
Dieses regionale Stimmungsbild wird durch nationale Umfragen gestützt. Im Jahr 2015 beispielsweise befürworteten bundesweit 79 Prozent der Jugendlichen die Zielmarke "nach Sicherheit streben" (Zhaw 2018: 35). Noch vor der Wiedervereinigung fand das allgemeine Grundbedürfnis nach Sekurität Ausdruck als ein Merkmal gesamtdeutscher Identität: Im März 1990 äußerten ca. 90 Prozent der Ostdeutschen, aber auch rund 80 Prozent der Westdeutschen, ihnen sei "nach Sicherheit zu streben" wichtig (Gabriel/ Holtmann u.a. 2015: 66). Der Hochschätzung von Sicherheit unterliegt, das zeigt dieser Ost-West-Vergleich, ein doppeltes Motiv. Sie wird, wie im Osten Deutschlands während des Umbruchs 1990, aktiviert durch schockartige Krisenerfahrungen (vgl. Beitrag "Wirtschaft im Schock"), und sie ist ein nachhaltiger Sozialisationseffekt der beide deutsche Teilstaaten schon vor 1990 kennzeichnenden Sozialstaatlichkeit.
Dass die Hybrid-Kategorie "beides gleichermaßen" im Jahr 2020 den höchsten bisher gemessenen Wert erreichte (Abbildung 2), verweist nach Einschätzung der Autor*innen des Thüringen-Monitors auf aktuelle Herausforderungen der Politik. In Zeiten einer globalen Pandemie scheine "die Gleichrangigkeit beider Zielsetzungen an Bedeutung zu gewinnen". Dabei nehme das Bedürfnis nach Freiheit bei den über 35Jährigen kontinuierlich ab, während gleichzeitig das Sicherheitsbedürfnis wachse. Und: "Je höher der Bildungsgrad der Befragten, desto höher ist ihr Freiheits- und je niedriger ihr jeweiliges Sicherheitsbedürfnis" (Thüringen-Monitor 2020: 58)
Zweifel an öffentlicher Sicherheit: Kriminalitätsfurcht
"Deutschland ist ein sicheres Land." Zu diesem Schluss kommt in der Zusammenschau empirischer Befunde der 2017 veröffentlichte Deutsche Viktimisierungs-Index des Bundeskriminalamtes (BKA 2017: 4). Dies gelte sowohl für die tatsächliche Kriminalitätsbelastung als auch für die gefühlte Sicherheit. "Die Kriminalitätsfurcht hat zwar im Vergleich zu 2012 im Schnitt etwas zugenommen, bewegt sich jedoch weiterhin auf einem insgesamt erfreulich niedrigen Niveau" (Ebenda: 4).
Furcht vor kriminellen Übergriffen ist in Deutschland gleichwohl nachweisbar. Den Angaben dieses amtlichen Berichts zufolge fühlt sich zwar die große Mehrheit der Bevölkerung (ca. 79 Prozent) nachts in ihrer Wohngegend sicher, doch immerhin jede(r) Fünfte (22 Prozent) unsicher. Ebenso viele (22 Prozent) haben Angst, Opfer eines terroristischen Anschlags zu werden. Dabei ist die Kriminalitätsfurcht im Osten Deutschlands stärker ausgeprägt (BKA 2017: 46, 48).
Nach Bundesländern aufgeschlüsselt, differiert die allgemeine Kriminalitätsfurcht in der Wohnumgebung zwischen 17,5 Prozent (Schleswig-Holstein) und 30,2 Prozent der Bevölkerung (Sachsen-Anhalt) (Abbildung 3). Dieses regionale Gefälle weist eine dynamische Entwicklung auf: "Die gefühlte Unsicherheit hat seit 2012 in fast allen Bundesländern tendenziell zugenommen" (Ebenda: 53). Nicht nur räumlich, sondern auch differenziert nach gesellschaftlichen Gruppen stellt sich Furcht vor Kriminalität unterschiedlich dar. Traditionell sind Frauen nicht nur in wesentlich größerem Maße von Kriminalitätsfurcht betroffen als Männer, sondern bei Frauen ist das Unsicherheitsempfinden seit 2012 auch stärker angewachsen (Ebenda: 48f.).
Kriminalexperten wissen zudem: Um das subjektive Sicherheitsgefühl der deutschen Bevölkerung ist es "häufig schlechter bestellt ist als um die durch objektive Messungen und Erhebungen beschriebene tatsächliche Sicherheitslage" (Ebenda: 3). Dass die gefühlte Kriminalität höher ausfällt, hat offenbar auch damit zu tun, dass eine unterschiedlich große Anzahl strafbarer Handlungen "im Dunkelfeld" bleibt (Ebenda: 5), also in der Kriminalstatistik nicht auftaucht. Das betrifft unter anderem sexuelle oder häusliche Gewalt gegen Frauen oder sexuellen Kindesmissbrauch (Ebenda: 24).
Wertet man die Ergebnisse der Kriminalstatistik getrennt für die alten und neuen Bundesländer aus, so zeigt sich, dass das Unsicherheitsgefühl der Bevölkerung in beiden Landesteilen gleichermaßen um rund vier Prozentpunkte angestiegen ist. "Die charakteristischen Unterschiede zwischen Ost und West bleiben somit relativ unverändert erhalten: In Ostdeutschland fühlt sich etwa jeder Vierte unsicher in seiner Wohnumgebung (26 Prozent), in Westdeutschland jeder Fünfte (21 Prozent)." Dabei fürchten sich Ostdeutsche häufiger vor Raubüberfällen und terroristischen Anschlägen als Westdeutsche (Ebenda: 54).
Gewährleistung sozialer Sicherheit: eine gefestigte Erwartungshaltung im deutschen Sozialstaat
Das "Sozialstaatspostulat" (Hans-Hermann Hartwich 1970) ist im Grundgesetz der Bundesrepublik verankert. Diese Rechtsnorm verpflichtet laut Bundesverfassungsgericht Politik und Verwaltung, besonders den Gesetzgeber, "für einen Ausgleich der sozialen Gegensätze und damit für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen" (BVerfGE 22: 180, 204). Ein weiteres höchstrichterliches Urteil fordert "staatliche Für- und Vorsorge" ein für "Einzelne oder Gruppen der Gesellschaft, die aufgrund persönlicher Lebensumstände oder gesellschaftlicher Benachteiligung in ihrer persönlichen oder sozialen Entfaltung gehindert sind" (BVerfGE 45: 376, 387).
Damit erhielt kraft ständiger Rechtsprechung des BVerfG der Sozialstaat, dessen historische Wurzeln bis zu den Bismarck´schen Sozialreformen der 1880er Jahre und der damaligen Einführung der gesetzlichen Kranken-, Unfall-, Invaliden- und Altersversicherung zurückreichen, in der Bundesrepublik Verfassungsrang. Im Wege der Sozialgesetzgebung und flankiert von fachgerichtlichen Entscheidungen sind die staatlichen Schutzschilde sozialer Sicherung seither stetig verstärkt worden (vgl. Lampert 1994). Da die deutsche sozialstaatliche Traditionslinie auch im autoritären Wohlfahrtsstaat der DDR, wenngleich unter gänzlich anderen Systemvorzeichen, fortgeführt worden war, hatte sich parallel in beiden deutschen Staaten schon lange vor 1990 eine ausgeprägte staatsgerichtete Erwartungshaltung ausgebildet, die sich lediglich graduell unterschied.
Im Jahr der Wiedervereinigung – und teilweise schon an deren Vorabend - wurde diese bemerkenswert hohe Einstellungskonvergenz im Spiegel vergleichender Umfragedaten offen erkennbar. "Nach Sicherheit streben" erachteten im März 1990 annähernd 90 Prozent der Ostdeutschen, aber auch rund 83 Prozent der Westdeutschen als "wichtig" bis "außerordentlich wichtig" (Gabriel/ Holtmann u.a. 2014: 66). Dass in den frühen 1990er Jahren das Bedürfnis nach sozialer Sicherheit in Ostdeutschland überproportional anwuchs bzw. auf hohem Niveau anhielt (Tabelle 1), ist mit Blick auf die während dieser Umbruchsphase gemachten persönlichen Krisen- und Verlusterfahrungen nicht überraschend.
Tabelle 1: Staats- oder Eigenverantwortung in Risikofällen? – 1990 und 1996
(Angaben in Prozent)
Staatsverantwortung für
Westdeutschland
Ostdeutschland
1990
1996
1990
1996
Chancengleichheit
ja
86
87
96
94
nein
14
13
4
6
Vollbeschäftigung
ja
74
74
95
92
nein
26
26
5
8
gleiche Einkommen
ja
64
62
84
84
nein
36
38
16
16
Kontrolle Löhne/Gehälter
ja
31
27
79
68
nein
46
50
12
15
unentschieden
23
23
9
17
Daten entnommen aus Gabriel/ Holtmann 2015, S. 86f. - Quelle: Roller 1999
Die bei den Erwartungen an staatliche Eingriffe in die Arbeits- und Lebensverhältnisse erkennbare Ost-West-Differenz bildete auch noch knapp zweieinhalb Jahr-zehnte nach der Wiedervereinigung die unterschiedlichen Erfahrungshorizonte von Markt- und Planwirtschaft ab. Die Unterschiede fielen 2014 besonders deutlich dort aus, wo nach gewünschter Intervention oder Zurückhaltung des Staates gefragt wird (Abbildung 4).
Dass in Ost- wie Westdeutschland die große Mehrheit der Bevölkerung den Staat für die Absicherung der Elementarbedürfnisse wie Gesundheit, Einkommen, Wohnen, Arbeitslosenhilfe und Versorgung im Alter konstant in die Pflicht nimmt, resultiert nicht unbedingt aus einer konkret selbst erfahrenen Mangellage. Immerhin lag, so der Armuts- und Reichtumsbericht 2017, bei Erscheinen dieses Berichts der "Anteil der Menschen, die materiellen Entbehrungen ausgesetzt sind, […] stabil auf einem niedrigen Niveau mit einem Rückgang am aktuellen Rand" (5. ARB 2017: 1). Die sogenannte erhebliche materielle Deprivation war 2016 auf unter 3 Prozent gesunken (6. ARB 2021: XVII).
Der Anteil der Bundesbürgerinnen und -bürger, die mehr sozialstaatliche Leistungen auch um den Preis von Steuererhöhungen zu akzeptieren bereit ist, stieg im vergangenen Jahrzehnt um 7 auf 20 Prozent 2020 (Roose 2021: 39). Die Hälfte der Bevölkerung bezieht bei dieser Abwägung eine Mittelposition (Ebenda). Einmal mehr wird hier deutlich, dass der Sozialstaat für die große Mehrheit hierzulande zur selbstverständlichen Einrichtung geworden ist.
Die Delegation der Gewährleistung sozialer Sicherheit an den Staat entspringt vermutlich zum einen der zur Gewohnheit gewordenen Erfahrung, dass der Staat dafür, auch wenn sektorale Mängel kritisiert werden (vgl. FES 2022: 17), tatsächlich verlässlich garantiert. Zum anderen gründet die an Staat und Politik adressierte Erwartungshaltung in latenter Sorge vor möglichen und unwägbaren künftigen Verschlechterungen der eigenen Lebenslage. Drei Viertel der 2015 befragten deutschen Bevölkerung stimmten nämlich der Aussage zu, für jede(n) bestehe das Risiko, "irgendwann im Leben arm zu sein" (5. ARB 2017: 110) (Abbildung 5).
Individuelle Verhaltenssicherheit - Merkmale und Gefährdungen
Dass die Menschen persönliche Wertschätzung erfahren, dass sie ferner ihr Lebensumfeld, d.h. Familie, Nachbarn, Freundes- und Bekanntenkreis und Arbeitskollegen als vertraut, hilfreich, vertrauenswürdig und sozial gefestigt wahrnehmen sowie die eigenen Arbeits- und Lebensbedingungen als stabil empfinden, sind wesentliche Voraussetzungen für individuelle Verhaltenssicherheit.
Der Stand des zwischenmenschlichen Vertrauens wird innerhalb der deutschen Bevölkerung zwiespältig bewertet. Im Frühjahr 2019 stimmten der Aussicht, den meisten Menschen könne man vertrauen, rund 59 Prozent der Befragten zu. Unterdurchschnittlich ausgeprägt war der Vertrauensvorschuss bei Menschen mit formal niedriger Bildung, mit niedrigen Einkommen, Erwerbslosen und denjenigen, die sich der Unter- bzw. Arbeiterschicht zurechnen (Decker u.a. 2019: 27f.). Das bundesweite Vertrauensniveau von 2019 entspricht den schon fünf Jahre zuvor gemessenen Werten (vgl. Gabriel/ Holtmann u.a. 2015: 187). Wie letztere Vorläuferstudie zeigt, ist im Osten Deutschlands soziales Vertrauen geringer ausgeprägt. Regionale Analysen bestätigen diese Ost-West-Differenz: In Sachsen-Anhalt pflichteten im Jahr 2020 ca. 48 Prozent der Befragten der Aussage bei, man könne "nicht vorsichtig genug sein". Lediglich 40 Prozent meinten, "den meisten Menschen kann man trauen" (SAM 2020: 77).
Soziale Wertschätzung erfährt laut eigenem Bekunden etwa die Hälfte der Bevölkerung. Im September 2021 bestätigen 51 Prozent der Befragten, "Alles in allem bekommen Menschen wie ich in Deutschland den Respekt und die Anerkennung, die sie verdienen." Ein knappes Drittel (32 Prozent) verneint dies ausdrücklich (FES 2022: 11). Nicht wertgeschätzt fühlen sich Ostdeutsche (39 Prozent) häufiger als Westdeutsche (30 Prozent) (Ebenda).
Von der Gesellschaft ausgeschlossen zu sein, empfindet hierzulande nur eine Minderheit, darunter überdurchschnittlich viele gering Gebildete und von Armut Betroffene. Ältere fühlen sich von sozialer Isolation und Einsamkeit nicht häufiger betroffen als Jüngere (5. ARB 2017: 460f.). Das Gefühl, wegen ihrer politischen Meinung diskriminiert zu werden, haben vor allem Menschen, die sich (sehr) große Zukunftssorgen machen (anteilig davon 36 Prozent) bzw. "für Deutschland schwarzsehen" (22 Prozent) (Roose 2021: 132).
Gesellschaftlich weit verbreitet ist indessen die Angst vor sozialem Abstieg. Der 5. Armut- und Reichtumsbericht merkt dazu an: "Für die Menschen ist es von großer Bedeutung, dass sie und ihre Kinder den erreichten sozialen Status verbessern oder wenigstens erhalten können." Kämen hier Zweifel auf, könne dies "in allen Gesellschaftsschichten zu Verunsicherung führen" (Ebenda: 2). Zwar ist die Lesart, dass gerade in der sogenannten Mitte der Gesellschaft soziale Abstiegsangst grassiere, in der Forschung umstritten (Ebenda: 115, mit Verweis auf SOEP-Daten). Belegen lässt sich aber, dass Abstiegssorgen einkommensabhängig zu- oder abnehmen. Bezieher niedriger und mittlerer Einkommen hegen häufiger Verlustängste als Besserverdiener (vgl. Thüringen-Monitor 2021: 9).
Was die Mobilität auf der sozialen Leiter angeht, sind bzw. sehen sich abermals Ostdeutsche im Nachteil. Die vorab veröffentlichte Kurzfassung des 6. Armuts- und Reichtumsberichts stellt fest, dass "Aufstiege im beruflichen Status im Vergleich zum Vater in Ostdeutschland seltener sind als in Westdeutschland und anders als dort insbesondere für jüngere Generationen weiter abnehmen". Hingegen nehme der Anteil der Abstiege bei ostdeutschen Männern kontinuierlich zu. Zudem erwarteten Menschen in Ostdeutschland seltener als in Westdeutschland einen sozialen Aufstieg für sich selbst oder die eigenen Kinder (6. ARB 2021: XXXVI).
Sicherheit und soziale Gerechtigkeit – eingeforderte Bringschuld der Politik
Das Sicherheitsbedürfnis in seinen hier dargelegten Dimensionen bewirkt, eng verknüpft mit Gerechtigkeitsvorstellungen, in Deutschland einen Erwartungszusammenhang, aus dem breite Teile der Bevölkerung nachdrücklich eine Bringschuld der Politik ableiten. Dass es "in Deutschland alles in allem eher gerecht zugeht", meinten am Vorabend der Bundestagswahl 2021 ca. 51 Prozent der Befragten. 45 Prozent waren gegenteiliger Meinung. Als wahlentscheidendes Thema wurde gleichzeitig am häufigsten (von 28 Prozent) soziale Sicherheit genannt (infratest dimap 2021). Mit dieser Präferenz gehen konkrete Erwartungen an einen proaktiv sorgenden Sozialstaat einher: Beispielsweise wünschen sich 85 Prozent, dass der Staat sie darüber aufklärt, welche Leistungen ihnen zustehen (Decker u.a. 2019: 59).
Themen der öffentlichen und sozialen Sicherheit und deren gerechte Bearbeitung stehen auf der Dringlichkeitsliste der Bevölkerung für die Politik weit oben. In welchem Maße diese an die Politik gerichteten Erwartungen als erfüllt angesehen werden, beeinflusst in der Parteiendemokratie wesentlich das Vertrauen in die staatlichen Institutionen und die Wahlchancen der Parteien. Das gilt ganz besonders für das Krisenmanagement während einer Pandemie, welche das Sicherheitsbedürfnis in nahezu allen Lebensbereichen einschneidend berührt. Wie fortlaufende Umfragen zeigen, folgt in den 2020 anbrechenden Corona-Zeiten die Kurve der Regierungszufriedenheit exakt dem Verlauf der aufeinanderfolgenden Pandemiewellen (ARD-DeutschlandTrend und Politbarometer Januar 2022).
Breitet sich allerdings eine gesellschaftliche Grundstimmung aus, wo der Wunsch nach Reformen übermächtig wird, kann das beherrschende Thema Sicherheit seine Meinungsführerschaft verlieren. Eine solche Zäsur kennzeichnet die Gegenwart. Vor der Bundestagswahl 2021 plädierten 40 Prozent der Befragten für "einen grundlegenden Wandel in unserem Land", doppelt so viele wie vier Jahre zuvor (infratest dimap 2021). "Die Zeiten sind unsicher genug. Gut, dass die Regierung nichts überstürzt und Deutschland mit ruhiger Hand durch die Krisen lenkt" – dieser strukturkonservativen Sichtweise stimmten im Mai 2021 nur 31 Prozent zu; im Oktober 2020 waren es noch 47 Prozent gewesen (FES 2022: 13). Von der Sicherheitsdoktrin damit verabschiedet haben sich die Menschen indes nur vordergründig. Vielmehr ist verbreitete Kritik am Reformstau gleichbedeutend mit dem Wunsch, die in existentiellen Fragen (Klima und Umwelt, Digitalisierung der Arbeit, bezahlbarer Wohnraum, Versorgung im Alter) gewachsene Unsicherheit zu bewältigen.
Professor (a.D.) für Politikwissenschaft der Universität Halle-Wittenberg, Forschungsdirektor am Zentrum für Sozialforschung Halle e.V. (ZSH) an der Universität Halle-Wittenberg. Zu seinen Schwerpunkten gehören Parteien(system)forschung, Lokale Politikforschung, Demokratie- und Partizipationsforschung, Historische Politikforschung und Transformationsforschung.
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