In repräsentativen Demokratien übernimmt das Volk nur bei der Wahl der politischen Führung die Rolle eines Entscheidungsträgers. Durch die seit 1990 durchgeführten direktdemokratischen Reformen wurde das bisher bestehende Entscheidungsmonopol der Institutionen und Akteure der repräsentativen Demokratie allerdings durchbrochen.
Die Bedeutung von repräsentativer und direkter Demokratie
Demokratie bedeutet Herrschaft des Volkes. Die Vorstellungen über die konkrete Gestaltung demokratischer Ordnungen gehen jedoch auseinander. Dies schlägt sich auch in der politischen Praxis nieder. Die Schweiz praktiziert eine andere Form der Demokratie als die Vereinigten Staaten. Das britische Demokratiemodell unterscheidet sich vom deutschen ebenso wie vom niederländischen, vom schwedischen oder vom französischen. Mit Blick auf die Vielfalt demokratischer Ordnungen unterscheidet man zwischen parlamentarischen und präsidentiellen, föderativen und unitarischen, konsens- und wettbewerbsorientierten und nicht zuletzt: direkten und repräsentativen Demokratien.
Direkte und repräsentative Demokratien beruhen auf dem Prinzip der Volkssouveränität. In direkten Demokratien trifft das Volk alle politischen Personal- und Sachentscheidungen. Konsequent zu Ende gedacht, ruht die ungeteilte Staatsgewalt beim Volk in seiner Gesamtheit. Die Bildung weiterer – exekutiver und rechtsprechender – Institutionen mag durch technische Erfordernisse begründet sein, normativ erwünscht ist sie jedoch nicht. Diese im Denken Rousseaus verankerte Sichtweise wurde in der politischen Praxis moderner Demokratien nicht realisiert. In kleinen politischen Einheiten wie in schweizerischen Landgemeinden und einigen Kantonen dienen Volksversammlungen als der Ort, an dem öffentliche Angelegenheiten debattiert und durch Konsensbildung oder Mehrheitsbeschlüsse entschieden werden. In den modernen Nationalstaaten der Gegenwart bringen Volksabstimmungen die Idee der Selbstregierung des Volkes zum Ausdruck. In beiden Fällen gewährleisten die Verfassungen die demokratischen Grundsätze der Gewaltenteilung und der Unabhängigkeit der Justiz.
Im Gegensatz zu direkten Demokratien übernimmt das Volk in repräsentativen Demokratien nur bei der Wahl der politischen Führung die Rolle eines Entscheidungsträgers. Demokratische Wahlen setzen einen offenen, freien und fairen politischen Wettbewerb und eine Möglichkeit zur Auswahl zwischen konkurrierenden Führungsangeboten voraus. Dabei überträgt die politische Gemeinschaft ihren Vertretern auf Zeit die Befugnis, an ihrer Stelle verbindliche Entscheidungen zu treffen. Dadurch entsteht eine Legitimationskette, die in allen Einzelfragen eine autoritative Entscheidungsbefugnis der Volksvertreter begründet, diese im Gegenzug aber den Wählern rechenschaftspflichtig macht. Demnach sind die Volksvertreter zwar nicht an Aufträge und Weisungen der Wählerschaft gebunden (siehe Artikel 38 GG). Sie sind aber dazu verpflichtet, die an sie gestellten Forderungen zur Kenntnis zu nehmen, sie gegeneinander abzuwägen, bei ihren Entscheidungen zu berücksichtigen, ihre Entscheidungsgründe offen zu legen und die Verantwortung für die getroffenen Entscheidungen zu übernehmen. Am Ende einer Wahlperiode entscheiden die Regierten darüber, ob die Regierenden ihre Erwartungen erfüllt haben und verlängern in Abhängigkeit vom Ausgang dieser Bilanz das Mandat der bisherigen politischen Führung oder übertragen es einer konkurrierenden politischen Gruppierung.
Repräsentative und direkte Demokratie in Deutschland - geschichtlicher Hintergrund
Lange Zeit setzten Wissenschaft und Praxis die moderne Form der Demokratie mit der repräsentativen Demokratie gleich. Die für eine direkte Demokratie typische unmittelbare Selbstregierung des Volkes galt als unvereinbar mit der Realität moderner Gesellschaften. Seit einigen Jahren werden jedoch zunehmend Forderungen laut, die repräsentative Demokratie durch den Einsatz direktdemokratischer Verfahren zu modernisieren und den Bürgern über die Stimmabgabe bei Wahlen hinausgehende politische Entscheidungsrechte einzuräumen (Geissel und Newton 2012). Mit Ausnahme der CDU/CSU fordern alle derzeit im Bundestag vertretenen politischen Parteien, von der Linkspartei bis zur AfD, die Einführung direkt-demokratischer Mitwirkungsmöglichkeiten auf der Bundesebene.
Bei einer isolierten Betrachtung kann sich diese Forderung auf Artikel 20, Absatz 2 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland berufen. Der Bestimmung, nach der alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, folgt unmittelbar der Verweis auf die Ausübung der Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen (direktdemokratisch) und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung (repräsentativdemokratisch). Ungeachtet dessen hat sich der parlamentarische Rat im Jahr 1949 eindeutig für eine repräsentative Demokratie entschieden. Volksabstimmungen sind seither auf der Bundesebene nur über die Neugliederung des Bundesgebietes, nicht aber über die Verfassung oder über einzelne Gesetze möglich.
Andere Regelungen gelten für die Länder und Kommunen (Gemeinden, Kreise). Einige alte Bundesländer hatten den Prozess der Verfassungsgebung bereits vor der Verabschiedung des Grundgesetzes 1949 abgeschlossen und ihren Verfassungen verschiedene direktdemokratische Verfahren vorgesehen. Die neuen Bundesländer, deren Verfassungen stark durch die Erfahrungen mit dem demokratischen Umbruch in der DDR geprägt waren, nahmen von Anfang an Bestimmungen über direktdemokratische Verfahren auf und lösten damit auch in den alten Ländern direktdemokratische Reformen aus. Noch deutlicher als auf der Landesebene zeigten sich die Ausstrahlungseffekte der in den neuen Bundesländern in Gang gesetzten demokratischen Reformen in den Kommunalverfassungen. Vor der Wiedervereinigung enthielten lediglich die Gemeindeordnungen Baden-Württembergs (seit 1956) und Schleswig Holsteins (seit 1990) Regelungen über direktdemokratische Mitwirkungsrechte der Bürger. Nach der Vereinigung wurden diese auch in den alten Ländern flächendeckend eingeführt, zuletzt im Jahr 1999 im Saarland (Kost 2005).
Die direktdemokratischen Verfahren
Die seit 1990 durchgeführten direktdemokratischen Reformen durchbrachen das bisher bestehende Entscheidungsmonopol der Institutionen und Akteure der repräsentativen Demokratie. Die Einführung direktdemokratischer Verfahren verändert die formale Verteilung von Macht und Einfluss zu Gunsten der Bürgerschaft und zu Ungunsten der Parlamente. Die Stärke dieses Effektes hängt davon ab, um welche Verfahren es sich handelt, wie die Verfahren im Detail ausgestaltet sind und wie intensiv die Bevölkerung von ihnen Gebrauch macht.
Im engeren Sinne umfassen direktdemokratische Verfahren unterschiedliche Formen der bürgerschaftlichen Mitwirkung an Entscheidungen über politische Sachfragen (Schiller 2002: 13ff). Bezüglich der Stärke der damit verbundenen Eingriffe in das Machtgefüge repräsentativer Demokratien lassen sich folgende vier Grundformen unterscheiden.
Volksbefragungen wie das Votum der Briten über den Austritt aus der Europäischen Union dienen dem Zweck, die Parlamente und Regierungen über die Verteilung der Einstellungen der Bevölkerung zu einer bestimmten Streitfrage zu informieren. Die Initiative hierzu geht in der Regel vom Parlament oder von der Regierung aus. Diese Verfahren schränken die formalen Kompetenzen von Parlamenten nicht nennenswert ein. Letztere können frei darüber entscheiden, ob sie nach der Befragung eine Regelung der Frage in Angriff nehmen und dabei dem in der Befragung ermittelten Votum der Mehrheit folgen. Tatsächlich geht von Volksbefragungen jedoch eine wesentlich stärkere Wirkung aus, die dem Ergebnis einer verbindlichen Entscheidung der Wählerschaft nahe kommen kann. Dies ist vor allem der Fall, wenn es sich um ein bedeutsames politisches Thema handelt, wenn sich viele Stimmberechtigte an der Abstimmung beteiligt haben und wenn eine klare Mehrheit der Stimmberechtigten für eine der zur Abstimmung gestellten Alternativen votierte.
Bei Volksinitiativen handelt es sich um Instrumente des Agenda Setting, die das Parlament dazu zwingen, sich innerhalb einer bestimmten Frist mit einer politischen Streitfrage zu beschäftigen und darüber zu entscheiden. Ein Beispiel ist die im Jahr 2018 in Nordrhein-Westfalen eingeleitete Initiative "Straßenbaubeitrag abschaffen". Anders als bei Volksbefragungen leitet die Bürgerschaft ein solches Verfahren ein. Soweit bestimmte – in der Regel geringe – formale Voraussetzungen erfüllt werden, wächst ihm auf diese Weise eine Initiativfunktion in der Gesetzgebung zu. Eine nennenswerte Einschränkung des Handlungs- und Gestaltungsspielraums von Parlamenten geht von diesem Verfahren nicht aus. Vielmehr können sie sogar die Effektivität der parlamentarischen Arbeit steigern, indem sie das Parlament bei der Identifikation und Lösung dringlicher politischer Probleme unterstützen.
Volksbegehren, zum Beispiel das in Bayern 2018 eingeleitete "Volksbegehren Klimaschutz in die Verfassung" (Rehmet 2019: 41), gehen einen Schritt weiter als Volksinitiativen. Auch sie weisen der Bürgerschaft eine Agenda-Setting-Funktion im Gesetzgebungsprozess zu, können aber zusätzlich die Verteilung von Entscheidungskompetenzen verändern. Anders als bei der Volksinitiative verbleibt das Recht zur verbindlichen Entscheidung der in einem Begehren aufgegriffen Frage entweder bei der Volksvertretung oder es geht auf die Wählerschaft über. Aus diesem Grunde sind die Einleitung und der Erfolg von Volksbegehren in der Regel an höhere formale Voraussetzungen geknüpft als sie für Volksinitiativen gelten.
Abbildung 1: Überblick über die direktdemokratischen Verfahren
Funktion
Initiator
Formale Anforderungen
Formale Verbindlichkeit
Volksbefragung
Information über Mehrheitswillen
Parlament oder Regierung
keine
keine
Volksinitiative
Parlamentarische Beratung einer Streitfrage
Bürgerschaft
sehr gering
Behandlung des Themas
Volksbegehren
Herbeiführen einer Parlamentsentscheidung oder eines Volksentscheides über eine Streitfrage
Bürgerschaft
relativ hoch
Beschlussfassung über das Begehren
Volksentscheid
Entscheidung der Bürgerschaft über eine Streitfrage
Bürgerschaft, Parlament oder Regierung
hoch
Beschluss mit Gesetzeskraft
Quelle: eigene Darstellung
Von allen direktdemokratischen Verfahren greifen nur Volksentscheide in die für repräsentative Demokratien typische Verteilung formaler Entscheidungskompetenzen ein. Sie können entweder von der politischen Führung oder durch die Bevölkerung in Gang gebracht oder automatisch durch die Verfassung ausgelöst werden. Da sie dem Parlament Gesetzgebungskompetenzen entziehen und das Volk als Gesetzgeber einsetzen, ist die Durchführung von Volksentscheiden an das Erfüllen relativ anspruchsvoller Voraussetzungen gebunden. Eines der bekanntesten Verfahren war der im Jahr 2011 von der baden-württembergischen Landesregierung initiierte Volksentscheid über das Infrastrukturprojekt "Stuttgart 21."
Unter verschiedenen Bezeichnungen und in einer von Bundesland zu Bundesland variierenden Ausgestaltung finden sich die meisten der beschriebenen direktdemokratischen Verfahren in den Verfassungen und Gemeindeordnungen der deutschen Bundesländer. Wie sich dies auf die formale Machtverteilung in der repräsentativen Demokratie auswirkt, hängt nicht allein vom Vorhandensein der Verfahren, sondern auch von ihrer konkreten Ausgestaltung ab (vgl. dazu: Rehmet 2018, 2019). In der Debatte über die politische Bedeutsamkeit direktdemokratischer Elemente spielen fünf Verfahrensmerkmale eine besonders wichtige Rolle als Erfolgsbedingungen direktdemokratischer Beteiligung.
Quoren: Durch die Bevölkerung ausgelöste direktdemokratische Verfahren kommen nur dann zustande, wenn eine Mindestzahl von Bürgern sie durch ihre Unterschrift unterstützt. Um Gesetzeskraft zu erlangen, muss in der Regel ein Mindestanteil der Stimmberechtigten für die Vorlage votieren. Die sinnvolle Höhe der Quoren ist umstritten, weil niedrige Hürden einerseits die Anwendung direktdemokratischer Verfahren erleichtern, andererseits aber die Gefahr mit sich bringen, dass Minderheiten auf diesem Wege ihre Anliegen durchsetzen.
Verfahren der Unterschriftensammlung: Hier geht es um die Dauer der für das Sammeln von Unterschriften zur Verfügung stehenden Fristen und den Ort, an dem die Eintragung in die Unterschriftenlisten erfolgen kann (freie Sammlung oder Eintragung in Behörden). Lange Sammlungsfristen und eine freie Sammlung der Unterschriften erleichtern den Einsatz direktdemokratischer Verfahren.
Formvorschriften für Anträge: Die Entscheidung einer Frage durch das Parlament oder durch die Stimmberechtigten setzen einen förmlichen Antrag mit einer eindeutigen Formulierung der zu entscheidenden Frage voraus. Darüber hinaus fordert das Regelwerk fast immer eine Begründung des Antrages und häufig das Einreichen eines Kostendeckungsplanes. Kritiker bewerten diese Vorgaben als Erschwernis bei der Einleitung direktdemokratischer Verfahren.
Anwendungsbereich: Das typische Anwendungsfeld direktdemokratischer Verfahren sind Gesetze und Verfassungsänderungen. Nur wenige Länder machen Volksbegehren und Volksentscheiden sämtliche Gesetzgebungsmaterien zugänglich. Insbesondere Entscheidungen über Haushalts- und Finanzfragen sind direktdemokratischen Verfahren häufig entzogen.
Sperrfristen für eine Korrektur direktdemokratischer Voten: Die politische Tragweite eines Volksentscheides steigt mit der Länge des Zeitraums, in dem er weder durch einen Parlamentsbeschluss noch durch einen neuen Volksentscheid aufgehoben oder verändert werden kann.
Gemessen an diesen Kriterien variiert die in den Verfassungen und Gemeindeordnungen der deutschen Bundesländer festgelegte Bedeutsamkeit der Elemente der direkten Demokratie für den kommunalpolitischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess. Für den Zeitraum von 1990 bis 2005 attestierten Eder und Magin (2008) Sachsen-Anhalt, Mecklenburg Vorpommern und Sachsen auf der Landesebene besonders beteiligungsfreundliche Regelungen und stuften die Bestimmungen in Berlin, Hessen und dem Saarland als besonders restriktiv ein.
Direkte Demokratie: bevorzugt in West und Ost
Befürworter einer Stärkung direktdemokratischer Elemente verbinden ihre Forderung häufig mit der Erwartung, verbesserte Chancen zur direkten Mitwirkung an verbindlichen politischen Entscheidungen könnten die Bürgernähe der Politik steigern und die Politikverdrossenheit senken. Unabhängig davon, dass das immer wieder behauptete generelle Wachstum der Politikverdrossenheit sich empirisch nicht belegen lässt, weil dieser Begriff unscharf ist und daher als analytische Kategorie nicht recht taugt, dokumentieren mehrere Umfragen einen in der Bevölkerung weit verbreiteten Wunsch nach direkter Demokratie. Bereits im Jahr 1990 hielten drei Viertel der Ostdeutschen und die Hälfte der Westdeutschen Volksabstimmungen bei wichtigen Fragen für ein wesentliches Merkmal der Demokratie. Im Jahr 2014 vergaben 52 Prozent der Ostdeutschen und 44 Prozent der Westdeutschen auf einer Elf-Punkte-Skala (0 ganz unwichtig, 10 extrem wichtig) zur Messung der Unterstützung von Volksabstimmungen den Wert 9 oder 10. Die Antworten auf eine seit 1991 mehrfach gestellte Frage danach, ob die Befragten einer direkten Entscheidung des Volkes oder einer Entscheidung des Parlaments über wichtige Fragen den Vorzug geben, unterstreichen ebenfalls die starke Unterstützung der direkten Demokratie durch die Deutschen. In allen Umfragen votierte die Mehrheit in beiden Landesteilen für die direkte Demokratie. Im Osten lag dieser Anteil regelmäßig über 60 Prozent, im Westen schwankte er zwischen 47 und 60 Prozent.
Eine eindeutige Entwicklung der Einstellungen ist den in Abbildung 2 enthaltenen Daten nicht zu entnehmen. In den alten Bundesländern nahm die Präferenz für eine direkte Demokratie bis zum Jahr 2014 von 47 auf 60 Prozent zu, im Zeitraum 2014 – 2018 ging sie jedoch um vier Prozentpunkte zurück. Im Osten büßte die direkte Demokratie zwischen 1991 und 2010 etwas an Zustimmung ein, konnte diese aber in den darauf folgenden acht Jahren zurückgewinnen. Zwar haben sich, insbesondere zwischen 2014 und 2018, die von Anfang an vorhandenen Ost-West-Unterschiede vertieft, sie sind aber 2018 kleiner als im Jahr nach der Wiedervereinigung.
Direktdemokratische Aktivitäten
Obwohl über direktdemokratische Aktivitäten weniger Daten vorliegen als über andere Formen politischer Partizipation, dokumentiert die Forschung eine beträchtliche Kluft zwischen dem Wunsch nach (mehr) direkter Demokratie und der damit verbundenen aktiven Beteiligung. Die Zahl der im Zeitraum 1946 bis 2018 bundesweit auf der Landesebene durchgeführten direktdemokratischen Verfahren beläuft sich lediglich auf 493 Fälle. Davon waren 351 Volksbegehren und fakultative Referenden, 79 unverbindliche Volkspetitionen, 40 verpflichtende Referenden und 23 Verfassungsreferenden, vom Parlament eingeleitete Referenden oder Sonderabstimmungen (Rehmet 2019: 15). Auf der kommunalen Ebene wurden seit Einführung der betreffenden Verfahren bundesweit 6.261 Bürgerbegehren, 1.242 vom Rat initiierte Bürgerentscheide und 2.554 Bürgerentscheide auf Grund eines Bürgerbegehrens ermittelt (Rehmet u. a. 2018: 13ff).
Bei der Interpretation dieser Daten muss man allerdings berücksichtigen, dass direktdemokratische Verfahren erst seit 1999 in allen Bundesländern möglich sind und dass in den Bundesländern bis heute keine einheitlichen Regelungen existieren (Eder 2010: 92ff). Deshalb ist es kaum möglich, für die Jahre vor 1990 sinnvolle Aussagen über die Häufigkeit dieser Verfahren zu machen. Für den Zeitraum 2004 bis 2018 dokumentiert der Volksbegehrensbericht eine Zahl von 189 Verfahren, was einem Jahresdurchschnitt von 13 Fällen entspricht. Auf der kommunalen Ebene gab es seit dem Jahr 2000 bei einer Zahl von mehr als 10.000 selbständigen Gemeinden im Jahresdurchschnitt etwa 300 direktdemokratische Verfahren.
Erfahrungsgemäß lösen nicht alle Volksinitiativen und -abstimmungen eine gleich starke Mobilisierung der Öffentlichkeit aus. Sie fällt besonders hoch aus, wenn die Abstimmungen gemeinsam mit Parlamentswahlen erfolgen, sie erreicht in anderen Fällen aber nur ausnahmsweise die 40 Prozent-Marke. Dies gilt selbst dann, wenn bedeutsame politische Themen zur Abstimmung stehen. Die wenigen bundesweit repräsentativen Bevölkerungsbefragungen, die Informationen über die Beteiligung an direktdemokratischen Verfahren enthalten, vermitteln ein zwiespältiges Bild von ihrer Nutzung. Im Vergleich mit Parlamentswahlen beteiligen sich deutlich weniger Menschen an Volksabstimmungen, im Vergleich mit Politikerkontakten oder der Beteiligung an Demonstrationen erzielen direktdemokratische Aktivitäten dagegen eine relativ hohe Mobilisierung (vgl. dazu die Angaben im Beitrag „Politische Partizipation im Wandel“). Im Durchschnitt der Jahre 2002 – 2018 liegt sie, bei insgesamt steigender Tendenz, in Ost und Westdeutschland knapp über 20 Prozent. Im westlichen Teil Deutschlands ist dieser Wandel des Verhaltens der Bevölkerung mit einem Anstieg von 14 auf 41 Prozent noch stärker ausgeprägt als im Osten (von 23 auf 33%).
Beteiligung an direktdemokratischen Aktivitäten in West- und Ostdeutschland, 2002-2018 (bpb)
Abbildung 3. Beteiligung an direktdemokratischen Aktivitäten in West- and Ostdeutschland, 2002-2018. (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
Abbildung 3. Beteiligung an direktdemokratischen Aktivitäten in West- and Ostdeutschland, 2002-2018. (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
Eines der wichtigsten Argumente für partizipative Reformen betrifft die durch die neuen Verfahren eröffnete Chance, bisher Inaktive an den politischen Prozess heranzuführen oder Enttäuschte für ein Engagement zurückzugewinnen. Tatsächlich scheinen direktdemokratische Beteiligungsangebote eine gewisse Anziehungskraft auf bestimmte Gruppen von Inaktiven auszuüben. Zwar gelingt auf diese Weise keine Mobilisierung der gänzlich Inaktiven, und auch nur ein sehr kleiner Teil der Nichtwähler und der Nichtteilnehmer an Protestaktivitäten beteiligt sich an direktdemokratischen Verfahren. Eine größere Wirkung erzielen diese Angebote dagegen in der Gruppe, die sich nicht in politischen Parteien oder anderen Freiwilligenorganisationen engagiert und keine Politiker kontaktiert. Etwa zehn Prozent dieser Befragten haben nach eigenen Angaben im Durchschnitt der Jahre 2002 - 2014 an einer Volksabstimmung teilgenommen. Auf den ersten Blick ist dies keine sehr hohe Mobilisierungsquote. In absoluten Zahlen ausgedrückt waren aber immerhin ca. 6,5 Millionen Wahlberechtigte im untersuchten Zeitraum zwar nicht durch traditionelle, wohl aber durch direktdemokratische Beteiligungsangebote erreichbar. Wie andere Formen der Einflussnahme werden auch die direktdemokratischen vornehmlich von gut gebildeten Angehörigen der mittleren Altersgruppen genutzt. Ressourcenschwache und sozial schlecht integrierte Menschen sind unter den Teilnehmern unterrepräsentiert (Gabriel 2015).
Die Mobilisierung inaktiver Personen durch direktdemokratische Aktivitäten in West- und Ostdeutschland, 2014 (bpb)
Abbildung 4. Die Mobilisierung inaktiver Personen durch direktdemokratische Aktivitäten in West- and Ostdeutschland, 2014. (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
Abbildung 4. Die Mobilisierung inaktiver Personen durch direktdemokratische Aktivitäten in West- and Ostdeutschland, 2014. (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
Bessere Lösungen durch Volksabstimmungen? - Chancen und Probleme direkter Demokratie
Während das Institutionensystem der alten Bundesrepublik ohne große Abstriche am Modell der repräsentativen Demokratie ausgerichtet blieb, wurden die Elemente der direkten Demokratie seit der Wiedervereinigung in den Ländern und Kommunen ausgebaut. Nur auf der Bundesebene wurde das Modell einer repräsentativen Demokratie in Reinform beibehalten. Mittlerweile betrachten große Teile der Bevölkerung Volksbegehren und Volkentscheide auf allen Ebenen des politischen Systems als wichtige Elemente der Demokratie und fordern entsprechende Reformen. Obgleich sich während der letzten drei Jahrzehnte die institutionellen und die kulturellen Rahmenbedingungen einer erweiterten direktdemokratischen Beteiligung verbesserten, bleibt diese weit hinter dem Ausmaß der verbalen Unterstützung für direkte Demokratie zurück: Mehr als die Hälfte der Bundesbürger spricht sich in Umfragen für mehr direkte und weniger repräsentative Demokratie aus. Die in denselben Umfragen ermittelte Beteiligungsquote übersteigt aber nur selten die 30-Prozent-Marke.
Abweichungen zwischen Forderungen und den auf die Umsetzung dieser Forderungen gerichteten Aktivitäten sind in der Politik ebenso wie in anderen Lebensbereichen nicht ungewöhnlich. Sie können aber nicht unbeachtet bleiben, wenn man sich mit dem Wunsch nach einer Verschiebung der Gewichte zwischen repräsentativ-demokratischen und direkt-demokratischen Elementen im politischen System der Bundesrepublik auseinandersetzt. Unverkennbar existiert in Deutschland eher ein Mangel an Nachfrage nach direktdemokratischer Beteiligung als ein Mangel an entsprechenden Angeboten. Dies festzustellen soll nicht heißen, dass eine Verbesserung der Qualität der Angebote überflüssig wäre. Auf der anderen Seite ziehen weitere Erleichterungen der Verfahren und eine Ausweitung des Anwendungsbereiches, zum Beispiel auf die Bundesgesetzgebung, auf Haushalts- und Finanzfragen oder auf die Kommunal- und Regionalplanung, aber nicht automatisch eine breitere und sozial ausgewogenere Nutzung direkt-demokratischer Beteiligungsmöglichkeiten oder eine Verbesserung der Qualität politischer Entscheidungen nach sich. Die Daten über die Zahl der bisher durchgeführten Verfahren und die durch sie ausgelöste Mobilisierung der Bevölkerung beschreiben keine Erfolgsgeschichte der direkten Demokratie. Über die materielle Qualität der Resultate direktdemokratischer Entscheidungen in Deutschland und anderen Demokratien kann man ebenfalls geteilter Meinung sein. Wie andere Beteiligungsformen auch ist die Nutzung direktdemokratischer Verfahren ein Instrument, dessen sich Populisten und Extremisten ebenso bedienen wie Demokraten und auf das etablierte Parteien und traditionelle Lobbys ebenso zurückgreifen wie lockere Zusammenschlüsse von Bürgern und zivilgesellschaftliche Organisationen.
Nicht nur diese Sachverhalte verdeutlichen die mit der direktdemokratischen Auflockerung repräsentativer Strukturen verbundenen normativen Probleme, die bei Volkspetitionen und Volksbegehren anderer Natur sind als bei Volksentscheiden. Volksinitiativen und -begehren bringen bestimmte, oft vernachlässigte Themen auf die politische Agenda und lassen sich ohne Probleme in das System der repräsentativen Demokratie integrieren. Vielmehr können sie die Durchlässigkeit, Handlungsfähigkeit, Innovationskapazität und Verantwortlichkeit der Institutionen der repräsentativen Demokratie steigern. Entgegen manchen Befürchtungen hat weder ihre Einführung noch ihr Ausbau zu einer des politischen Systems mit Gesetzesinitiativen geführt.
Volksentscheide verlagern dagegen die Zuständigkeit für die Gesetzgebung von demokratisch legitimierten Repräsentanten auf die Wählerschaft selbst. Bei ihrer Einführung und Erleichterung ist eine Abwägung zwischen den Prinzipien der Partizipation und der politischen Verantwortlichkeit erforderlich: Einerseits stärkt eine Erleichterung des Verfahrens, insbesondere durch Absenkung der Zustimmungsquoren, den Einfluss der Wählerschaft auf die Gesetzgebung. Andererseits stärkt dieser Effekt in vielen Fällen die Durchsetzungschancen aktivistischer – für die politische Gemeinschaft keineswegs repräsentativer – Minderheitsgruppen. Je niedriger die Zustimmungsquoren angesetzt sind, desto größer werden die Chancen, Minderheitenforderungen nicht nur gegen demokratisch legitimierte Repräsentanten, sondern auch gegen die Mehrheit der Mitbürger durchzusetzen. Anders als in repräsentativen Demokratien, in denen die Wähler die Parlamentarier für ihre Entscheidungen zur Verantwortung ziehen können, verfügt der in einem Volksentscheid unterlegene Teil der Abstimmenden zudem gegenüber dem erfolgreichen Teil nicht über eine solche Möglichkeit. Ob dies die Qualität der Demokratie verbessert, darf bezweifelt werden.
em. Prof. Dr. Oscar W. Gabiel ist emeritierter Professor des Instituts für Sozialwissenschaften der Technischen Universität Stuttgart. Zu seinen Arbeitsgebieten gehören Politische Einstellungen und politische Kultur, politische und soziale Partizipation, Wahl- und Parteienforschung, Theorien und Methoden der vergleichenden empirischen Politikforschung und Vergleichende Kommunalpolitikforschung.
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