Unternehmerverbände und Gewerkschaften - Mitgliederstand und verbandspolitische Reichweite
Wolfgang SchroederSamuel Greef
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Auf Arbeitnehmer- wie auch auf Arbeitgeberseite gibt es Organisationen, die auf freiwilliger Mitgliedschaft basieren. Diese Mitgliederorganisationen handeln als tarifpolitische Kollektivakteure, die im Laufe der Zeit arbeitsteilig gegliederte, bürokratisierte und professionalisierte Apparate aufgebaut haben.
Das deutsche Modell der Arbeitsbeziehungen, das sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs herausgebildet hat, basiert auf komplexen und voraussetzungsvollen Strukturen, wirkmächtigen Akteuren und Regeln der Interessenvermittlung. Für die Wirtschaft und die Arbeitsgesellschaft werden sie durch das ordnungspolitische Modell der sozialen Marktwirtschaft gerahmt. Idealerweise folgt die Regelung der Arbeitsbeziehungen zwischen den Gewerkschaften, als Vertretern der abhängig Beschäftigten, und den Arbeitgeberverbänden dem Modus eines sozialpartnerschaftlichen Interessenausgleichs.
Der Einfluss von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden gründet auf ihrer Organisationskraft, den konkreten ökonomischen Bedingungen und Herausforderungen sowie situationsbedingten Kräfteverhältnissen. Diese Ausgangslage wird durch seit Langem eingeübte Rechts- und Machtpositionen strukturiert, wozu insbesondere die Tarifautonomie, das Streikrecht, die betriebliche Mitbestimmung und die korporatistische (staatliche Einbindung) Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen zählen. Durch die Pfadabhängigkeitsthese – von bewährten Handlungsmustern wird nicht ohne Not abgewichen – und die Machtressourcentheorie, der zufolge es nicht zuletzt auf die Kräfteverhältnisse zwischen organisierten Gegenspielern ankommt, lässt sich erklären, weshalb trotz sichtbarer organisationspolitischer Auszehrungstendenzen und Mitgliederverlusten der überbetrieblichen verbandlichen Akteure immer noch eine relativ stabile Anordnung der Verbände besteht. Dennoch stehen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände seit einigen Jahren hierzulande vor erheblichen Herausforderungen, um die sich strukturell vertiefenden Spannungen zwischen Einflusslogik und Mitgliedschaftslogik auszubalancieren.
Verbandliche Ausgangslage 1990
Die tarifpolitischen Kollektivakteure auf Arbeitnehmer- wie auch auf Arbeitgeberseite sind Organisationen, die auf freiwilliger Mitgliedschaft basieren. Diese Mitgliederorganisationen haben im Laufe der Zeit arbeitsteilig gegliederte, bürokratisierte und professionalisierte Apparate aufgebaut. Zugleich sind sie darauf angewiesen, über ein hinreichend großes Unterstützungsnetzwerk im ehrenamtlichen Bereich verfügen zu können. Insofern ist die Frage nach der Lage der Verbände insbesondere auch immer eine Frage nach dem Stand ihrer Organisationsfähigkeit.
Gewerkschaften bis zur Wiedervereinigung: Parallelstruktur von DGB in der Bundesrepublik und FDGB in der DDR
In Westdeutschland gründeten sich 1945 auf Branchenebene parteipolitisch unabhängige Einheitsgewerkschaften. Ihr Dachverband ist der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB). Diese Einheitsgewerkschaften traten an die Stelle der politischen Richtungsgewerkschaften, die 1933 von den Nationalsozialisten verboten worden waren. Nach dem Branchenprinzip organisiert, haben sie den Anspruch, alle Beschäftigten einer Branche, unabhängig von deren beruflicher Tätigkeit oder Stellung im Beruf, zu organisieren. Zwar entstanden später dennoch eine eigene Angestelltengewerkschaft (DAG 1949-1990), der Christliche Gewerkschaftsbund (1955), die Beamtengewerkschaften und einige weitere kleinere, insbesondere berufsorientierte Organisationen . Dies änderte jedoch nichts an der Vormachtstellung des einheitsgewerkschaftlichen Organisationsmodells, dessen Höhepunkt (bezogen auf Mitgliederstärke) etwa Anfang der 1980er Jahre lag.
Obwohl die Gewerkschaften keinen direkten Zugang in die Betriebe besitzen, gelang es ihnen, eine relativ stabile Beziehung zu den betrieblichen Interessenvertretern (Betriebs- und Personalräten) aufzubauen. Diese sind zu etwa 70-80 Prozent zugleich Gewerkschaftsmitglieder. Dennoch lag auch zu den Hochzeiten der Mitgliederrekrutierung der gewerkschaftliche Organisationsgrad (d.h. der Anteil an allen abhängig Beschäftigten) in Westdeutschland unter 35 Prozent. Die DGB-Gewerkschaften sind zudem bis heute meist männerdominierte Organisationen geblieben, in denen der Frauenanteil seit den 1970erJahren zwar kontinuierlich stieg, 1990 aber immer noch unter 25 Prozent betrug. Dies lag vor allem in der schwachen Erwerbsquote der Frauen begründet (Abbildung 1).
Die DGB-Gewerkschaften sind bis heute über von ihnen abgeschlossene Tarifverträge, betriebliche und überbetriebliche Mitbestimmungsstrukturen sowie ein gemäßigtes Streikverhalten in der Lage, die Einkommens- und Arbeitszeitstandards in der Bundesrepublik zu prägen. In der DDR hingegen bestand mit dem FDGB (Freier Deutscher Gewerkschaftsbund) eine parteipolitisch geprägte Staatsgewerkschaft. Diese basierte auf dem Prinzip der Zwangsmitgliedschaft und war mehr für die Kontrolle der Beschäftigten zuständig als für deren Emanzipation. Sie streikte nie, war aber in vielfältiger Weise in die kulturellen und der privaten Reproduktion dienenden Angebote der Kombinate und Betriebe eingebunden. Dem FDGB gehörten ca. 9,5 Millionen Mitglieder an, von denen etwa die Hälfte Frauen waren. Im Einigungsjahr 1990 löste sich der FDGB auf und die DGB-Gewerkschaften weiteten ihre Organisationen und Handlungsmuster, dem Prinzip des Institutionentransfers folgend, in die fünf neuen Länder aus.
Arbeitgeberverbände
Arbeitgeberverbände gehören zu den Unternehmensverbänden, die kollektives Handeln von wirtschaftlich konkurrierenden Anbietern organisieren. Sie artikulieren und vertreten gemeinsame Unternehmensinteressen gegenüber dem politischen System, den Gewerkschaften sowie der Gesellschaft. Während ebenfalls zu den Unternehmensverbänden zählende Wirtschaftsverbände wie z.B. der Bundesverband Deutscher Banken als Lobbyisten die wirtschaftspolitischen Interessen gegenüber der Politik vertreten und auf der Ebene der Branchen eine koordinierende Politik betreiben, übernehmen die öffentlich-rechtlich organisierten Industrie- und Handelskammern (IHK), denen teilweise hoheitliche (staatliche) Aufgaben übertragen sind, die Selbstregulation auf der regionalen Ebene. Als besonderer Typus der Unternehmensverbände schließen die Arbeitgeberverbände mit den Gewerkschaften bindende Regelungen in Form von Tarifverträgen ab. Ferner vertreten sie die sozialpolitischen Interessen ihrer Mitgliedsfirmen und beteiligen sich an staatlichen Gremien sowie an der Selbstverwaltung der Sozialversicherungen. Insofern ist es, in Bezug auf die verschiedenen Märkte, auf denen Unternehmen agieren, zu einer organisatorischen Aufgliederung in eine güterbezogene und eine arbeitsmarktbezogene Verbändelandschaft gekommen.
Bis in die 1980er Jahre hinein wurde den Arbeitgeberverbänden in der Forschung eine bemerkenswerte organisatorische Stabilität bescheinigt (vgl. Silvia 2017: 258). Dies lässt sich am Beispiel von Gesamtmetall verdeutlichen. Als Dachverband der Arbeitgeber der Metall- und Elektroindustrie gilt Gesamtmetall als ressourcenreichster und professionellster deutscher Arbeitgeberverband (Abbildung 2).
Zwar verzeichnete auch Gesamtmetall in den 1970er und 1980erJahren einen leichten Rückgang in der Anzahl der organisierten Mitgliedsfirmen. Insbesondere die großen Unternehmen hielten dem Verband jedoch die Treue, so dass auch 1989 noch über 70 Prozent aller Beschäftigten der Metall- und -Elektroindustrie in Unternehmen arbeiteten, die zugleich Mitglied in den Regionalverbänden von Gesamtmetall waren.
Entwicklung nach der Wiedervereinigung (1990-2004)
Gewerkschaften: Organisationstransfer nach Ostdeutschland und Mitgliederverluste
Mit der Wiedervereinigung stieg die Mitgliederzahl der DGB-Gewerkschaften sprunghaft um fast vier Millionen von acht auf 12 Millionen Mitglieder an. Ausschlaggebend dafür war die Entscheidung der DGB-Gewerkschaften, keinen mühsamen Organisationsaufbau in den neuen Bundesländern zu betreiben. Stattdessen wurde einfach die Mitgliedschaft im ohnehin symmetrisch organisierten FDGB auf den DGB übertragen.
Der Organisationstransfer nach Ostdeutschland ist gleichzeitig eine der Erklärungen für den anschließenden dramatischen Mitgliederrückgang des DGB. Denn der Organisationsgrad des FDGB war bei der Wiedervereinigung mit 51,1 Prozent deutlich höher als im Westen mit 27,2 Prozent. Mit dem Wegbrechen vor allem ostdeutscher Mitglieder glich sich der Organisationsgrad in Ost- und Westdeutschland dann rasch an. Bereits zehn Jahre nach der Wiedervereinigung war die Mitgliederbasis des DGB wieder auf acht Millionen zurückgegangen (Abbildung 4).
Der Mitgliederrückgang ist aber auch den Schwierigkeiten der Gewerkschaften geschuldet, sich an die veränderten Betriebs- und Arbeitsmarktstrukturen anzupassen. Zu lange haben sich die Gewerkschaften auf ihre korporatistische Einbindung verlassen und sich an ihrer Kernklientel orientiert, dem männlichen Facharbeiter in der Industrie. Auf die Feminisierung des Arbeitskräftepools, d.h. die wachsende Nachfrage nach weiblichen Beschäftigten, auf den Strukturwandel im Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft und die Ersetzung von Arbeitern durch Angestellte haben die Gewerkschaft zu spät und zu zögerlich reagiert, ebenso wie auf den sich ausbreitenden Niedriglohnsektor und auf neue Arbeitsformen jenseits des Normalarbeitsverhältnisses wie etwa die Zeitarbeit.
So gab es zwar durchaus Versuche, neuen Mitgliedergruppen zu erreichen, wie etwa mit dem Konzept der Zielgruppenarbeit. Die Gewerkschaften reagierten auf den Mitgliederschwund aber vor allem mit organisationspolitischen Stabilisierungsstrategien: Erstens halbierte sich durch Zusammenschlüsse die Zahl der DGB-Gewerkschaften seit 1995 von 16 auf 8. Zweitens wurden betriebswirtschaftliche Instrumente zur Kostensenkung und Effizienzsteigerung genutzt. Dazu zählen der Rückzug aus der Fläche, Personalabbau und der Aufbau wissensbasierter Dienstleistungsapparate mit kostenoptimierter Bürokratie (vgl. Müller/Wilke 2014: 154ff.). Drittens konzentriert sich die Arbeit der Organisation zunehmend auf das sogenannte "Kerngeschäft", dessen Definition einer jeweils aktuell auszutarierenden und umstrittenen Neubestimmung unterliegt.
Arbeitgeberverbände
Der dramatische Mitgliederrückgang der Gewerkschaften nach der Wiedervereinigung findet sich spiegelbildlich auch bei den Arbeitgeberverbänden, wie das Beispiel Gesamtmetall zeigt. Auch Arbeitgeberverbände müssen sich heute mit zahlreichen Prozessen der Desorganisierung auseinandersetzen. Die Mitgliedschaft von Unternehmen im Arbeitgeberverband mit Tarifträgerschaft ist im Laufe der Jahrzehnte für kleinere und mittlere Betriebe vom Regel- zum Ausnahmefall geworden. Diese Entwicklung setzte bereits in den 1980er Jahren ein. Hinzu kommt, dass staatliche Akteure und Politik zwar weiterhin den Kontakt mit den Verbänden suchen, um eine möglichst weitgehende Breitenwirkung zu erreichen, aber ebenso intensiv direkte persönliche Kontakte mit wichtigen Unternehmensvertretern pflegen.
In der Folge hat sich der Organisationsgrad tarifgebundener Mitgliedsunternehmen in den Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektroindustrie seit der Wiedervereinigung stark reduziert (Abbildung 5).
In Westdeutschland ging der Organisationsgrad zwischen 1991 und 2004 von 43 auf 24 Prozent zurück. Im Osten ist der Rückgang (von 56 auf 7 Prozent) ungleich dramatischer. Auch der Beschäftigtenorganisationsgrad ist seit Jahren rückläufig, insbesondere in Ostdeutschland. Dieser Prozess wird nur dadurch etwas relativiert, dass viele größere Betriebe Verbandsmitglieder geblieben sind. Es waren mehrheitlich kleine und mittelgroße Unternehmen, die austraten oder nicht eintraten – was angesichts des in Ostdeutschland vorherrschenden klein- und mittelbetrieblichen Unternehmensbesatzes schwer wiegt. In der Folge lag der Beschäftigtenorganisationsgrad trotz eines Rückgangs um fast 20 Prozentpunkte bei immerhin noch 53,5 Prozent.
Die Entwicklung von 2005 bis zur Gegenwart
Gewerkschaften: Neue Mitgliederorientierung
Der sich seit 2010 deutlich abschwächende Mitgliederrückgang im DGB ist auf eine neue Mitgliederorientierung zurückzuführen. Der Blick in die Daten der Einzelgewerkschaften zeigt jedoch, dass es erhebliche Unterschiede in der Mitgliederentwicklung gibt. Seit 2010 konnten nur die GdP, die GEW und die IG Metall ihre Mitgliederzahlen steigern. Grundlage dieser Erfolge sind konkret messbare, mit eigenen Strukturen, Ressourcen, Personen und Zielen ausgestattete mitgliederorientierte Aktivitäten.
Von den beiden großen Mitgliedsgewerkschaften gelang es nur der IG Metall, ihre Mitgliederentwicklung zu konsolidieren. Die IGM verfolgt seit 2015 unter dem Begriff der Erschließung ein umfassendes Programm zur Mitgliederrekrutierung. Anders sah es im Dienstleistungssektor aus: Dort sind – trotz günstiger Arbeitsmarktentwicklung – aufgrund schwieriger Betriebsstrukturen, prekärer Beschäftigungsverhältnisse und nicht hinreichender Investitionsfähigkeit der Gewerkschaften die Mitgliederzahlen weiter gesunken. In der Folge lag der Organisationsgrad für Gesamtdeutschland 2018 nur noch bei 14,7 Prozent. Die um etwa einen Prozentpunkt niedrigeren Werte der ESS-Erhebung für 2016 weisen für Ost- und Westdeutschland sich einander annähernde, aber immer noch leicht unterschiedliche Werte aus. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad lag demnach im Westen bei 14,1 Prozent und im Osten bei 12,1 Prozent.
Arbeitgeberverbände: Einführung von Mitgliedschaften und Verbänden ohne Tarifbindung (OT)
Mehrheitlich sind es kleinere Unternehmen, die sich von den Arbeitgeberverbänden fernhalten. Dagegen sind Traditionsunternehmen mit einer größeren Belegschaft, starker gewerkschaftlicher Präsenz und Betriebsrat nach wie vor in hohem Maße verbandlich organisiert. Umgekehrt bedeutet dies: Dort, wo der gewerkschaftliche Organisationsgrad gering ist, die Firma relativ klein und ihr Alter vergleichsweise jung, ist die Wahrscheinlichkeit einer Verbandsmitgliedschaft gering. Das erklärt, neben der fehlenden verbandspolitischen Tradition, wesentlich die schwach ausgeprägte Organisationsneigung von ostdeutschen Betrieben, da es sich nicht nur mehrheitlich um kleine, sondern auch neugegründete Firmen handelt. Bei großen Betrieben mit über 500 Beschäftigten liegen die Organisationsgrade in Ost- und Westdeutschland nicht weit auseinander. Die zentrale Erklärung für den geringen Organisationsgrad im Osten liegt in der geringen Zahl größerer Betriebe (Abbildung 7).
Als Gegenreaktion verfolgen die Arbeitgeberverbände seit Anfang der 1990er Jahre eine Doppelstrategie: Einerseits versuchen sie, die tariflichen Regelungsmuster zu dezentralisieren, zu differenzieren und zu flexibilisieren. Andererseits öffnen sie die Verbandsmitgliedschaft. Mit sogenannten Mitgliedschaften ohne Tarifbindung (OT) wird einerseits erfolgreich versucht, die Mitgliederzahl und damit die verbandliche Einnahmesituation zu stabilisieren. In einzelnen Regionen ist die Zahl der OT-Mitglieder höher als die der tarifgebundenen Mitglieder.
Andererseits ermöglicht diese Strategie, den tarifpolitischen Druck auf die Gewerkschaften zu erhöhen. Verbandsmitgliedschaften mit und ohne Tarifbindung erlauben eine "menüartige" Auswahl zwischen verschiedenen Verbandsleistungen. Zugleich gibt es in einigen Regionen/Branchen reine OT-Verbände, die nur noch sozial- und tarifpolitische Beratungsarbeit anbieten. Mittelfristig kann damit eine Neuordnung der deutschen Verbände- und Tariflandschaft einhergehen, welche die tarifpolitische Selbstregulation, also die Tarifautonomie untergraben und auf längere Sicht auflösen kann.
Die Zahlen zeigen, dass der Zuwachs der Arbeitgeberverbände ausschließlich im OT-Bereich stattfindet. Zwischen 2005 und 2017 stieg die Zahl der OT-Mitgliedsbetriebe bei Gesamtmetall in Westdeutschland von 1.432 auf 3.591 und in Ostdeutschland von 7 auf 134. Zugleich ging die Zahl der tarifgebundenen Mitglieder weiter zurück. Im Osten von 240 auf 217 und im West von 4.189 auf 3.202 (Abbildung 7). Die Einführung von OT-Verbänden und Mitgliedschaften erwies sich so als kluge Strategie zur Konsolidierung des Mitgliederstandes – und damit auch der Verbandsfinanzen. Zugleich wird sie zu einer großen Belastung für die Arbeitsbeziehungen und die Tarifautonomie.
Die Breite der Wirkung von Tarifverträgen wird maßgeblich durch den Organisationsgrad der Arbeitgeberverbände bestimmt. Der für die AGV beschriebene Mitgliederrückgang beziehungsweise die sich ausweitenden OT-Mitgliedschaften spiegeln sich daher deutlich im Sinken der (Flächen-)Tarifbindung wider (Abbildung 8).
Fazit: Drei Welten der Arbeitsbeziehungen
Die Beziehungen zwischen den Sozialpartnern sind sowohl in den unterschiedlichen Branchen der deutschen Wirtschaft als auch im regionalen Vergleich sehr unterschiedlich ausgestaltet. Während im exportorientierten Sektor von einer "Partnerschaft ohne Konflikt" die Rede ist, zeichne sich in großen Teilen der binnenmarktorientierten Wirtschaft ein Bild von organisatorisch schwachen Sozialpartnern und von "Konflikten ohne Partnerschaft" (vgl. Streeck 2016; Schroeder 2016). Auch wenn dieses Bild zugespitzt ist, profiliert es die unterschiedlich gearteten Bedingungen in den verschiedenen Welten der Arbeitsbeziehungen.
Tabelle: Verteilung der Beschäftigten zwischen den drei Welten (im Ost-West-Vergleich)
Anmerkung: Jeweils Anteil aller abhängig Beschäftigten in West- bzw. Ostdeutschland, die in einem Betrieb arbeiten, welcher der ersten, zweiten oder dritten Welt zuzuordnen ist.
1. Welt
2. Welt
3. Welt
FTV + BR / HTV + BR
BR, FTV, HTV
Ohne TV, ohne BR
Westdeutschland
34%
30%
36%
Ostdeutschland
33%
20%
47%
Quelle: IAB Betriebspanel 2018; Eigene Darstellung und Berechnung.
Ein wesentliches Kennzeichen der Entwicklung in den Arbeitsbeziehungen ist die zunehmende Heterogenität. Dazu zählen die disparaten Stärken der Kollektivakteure, die unterschiedlichen Ausprägungen des Tarifvertragssystems sowie neue Konkurrenten. In einer Annäherung kann von drei Welten der Arbeitsbeziehungen gesprochen werden (vgl. Schroeder/Greef 2014: 142f.): In der ersten Welt, insbesondere der exportorientierten Industrie, finden sich organisations- und verpflichtungsfähige Kollektivakteure. Hier gelten Flächentarifverträge und es existieren betriebliche Mitbestimmungsgremien. Die zweite Welt, die vor allem in Randbereichen des industriellen Sektors und situativ vergleichsweise gut erschlossener Dienstleistungsbetriebe existiert, ist durch organisationspolitische Ambivalenz gekennzeichnet. Zumindest ein Element aus Flächen-, Haustarifverträgen und betrieblicher Mitbestimmung ist hier vorzufinden. In der dritten Welt, wie in großen Teilen des einfachen Dienstleistungssektors, aber auch in Ostdeutschland und im Handwerk sind sowohl die Gewerkschaften als auch die Arbeitgeberverbände kaum vertreten. Hier ist Tariflosigkeit ebenso die Regel wie die Abwesenheit von Mitbestimmungsgremien (Abbildung 9).
Als Reaktion auf diese Entwicklung hat sich der Staat stärker eingebracht und durch Mindestnormen versucht die Lücken zu füllen, die die erodierende Tarifautonomie in einzelnen Branchen hinterlassen hat. Der Staat ist damit zu einem zentralen Adressaten gewerkschaftlicher Politik geworden – vom Mindestlohn, über die Sozial- und Technologiepolitik bis hin zu stützenden Maßnahmen in der Tarifpolitik (Allgemeinverbindlichkeit). Aus Sicht der Arbeitgeberverbände ist ein verstärktes Eingreifen des Staates in der Regel nicht wünschenswert. Zugleich forcieren sie jedoch indirekt diese Entwicklung durch ihre OT-Strategie. Damit entledigen sie sich immer mehr ihrer eigentlichen Kernaufgabe: dem Aushandeln und Abschließen von Tarifverträgen. In der Folge übernehmen sie immer stärker die Rolle von Dienstleistungsanbietern und entwickeln sich damit tendenziell vom Arbeitgeber- zum Wirtschaftsverband.
Die weitere Entwicklung der Sozialpartnerschaft in Deutschland ist daher davon gekennzeichnet, dass der Staat zunehmend aktiver werden muss, um ihren Funktionsmodus unter den veränderten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen zu flankieren. Das Einziehen von staatlichen Untergrenzen hat jedoch zugleich negative Auswirkungen auf die Selbstregulationskräfte der Sozialpartner. Diese müssen sich daher weiterhin verstärkt um Konzepte zur Organisationsstabilisierung bemühen. Das ist wohl eine längere Geschichte von richtigen Weichenstellungen und Ressourcenzuteilungen, um das Potential für eine verbesserte Handlungsfähigkeit zu entwickeln.
Prof. Dr. Wolfgang Schroeder ist seit 2006 Professor an der Universität Kassel. Fachgebiet: Politisches System der BRD - Staatlichkeit im Wandel. Seit 2016 ist er WZB-Fellow und forscht in der Abteilung Demokratie und Demokratisierung.
Dr. Samuel Greef ist Politologe und Informatiker. Er arbeitet als wissenschaftlicher Assistent an der Universität Kassel zu den Forschungsschwerpunkten Digital- und Netzpolitik, Digitalisierung, Industrie 4.0 sowie in der Verbände- und Gewerkschaftsforschung.