Traditionen der Alterssicherung/Vorläufer
Eine Betrachtung der historischen Wurzeln und der Entwicklung vor dem "Gesetz betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung" von 1889 ist wichtig, da manche Grundelemente der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) bereits vor ihrer Konstituierung gelegt wurden. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von einer "Pfadabhängigkeit" der Geschichte von Sozialsystemen.
Soziale Lage
Die frühe Ausgestaltung der Alterssicherung in Deutschland als beitragsfinanzierte, solidarische Sozialversicherung ist den sozialen Umständen ihrer Zeit geschuldet:Diese Beschreibung der historischen Ausgangslage der Gesetzlichen Rentenversicherung (1889) und der anderen frühen Sozialversicherungssysteme (Krankenversicherung 1883; Unfallversicherung 1884) ist nicht als monokausale Erklärung zu verstehen.
Es geht um die Beschreibung eines Übergangs, der einige Zeit brauchte, in der Industrialisierung und damit verbundenen Veränderungen der Arbeitsbedingungen seinen Kulminationspunkt, gleichzeitig mit den damit verbundenen Produktivitätsfortschritten auch eine Finanzierungsbasis fand. Er hatte durchaus im 18. Jahrhundert auch in einigen Aspekten "Vorbilder" − Joachim Rückert (1990, S. 36 ff.) verweist hier speziell auf die Staatseisenbahn-Verwaltungen und die Knappschaftseinrichtungen.
Die agrarische Feudalgesellschaft war schon länger in Auflösung, das Handwerk veränderte sich durch das um sich greifende Verlagswesen in Richtung größerer Betriebe und die Mobilität der Gesellschaft nahm durch Arbeitswanderung zu. Gleichzeitig stieg die durchschnittliche Lebenserwartung an und die Familien verloren teilweise ihre Schutz- und Fürsorgefunktion für die Alten und Invaliden. Dabei führten Erwerbsunfähigkeit oder höheres Alter zu einer Notlage größer werdender Teile der Bevölkerung (vgl. Kasten).
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Alter war in der Frühen Neuzeit nur für Wenige ein Ruhestand
War diese nicht vorhanden oder nicht in der Lage oder willens, den Alten zu helfen, blieb nur eine Versorgung durch das Gemeinwesen. Generell half die öffentliche Hand jedoch nur in den wenigsten Fällen mit dem Allernötigsten aus."
Quelle: Schlag 2011, S. 22
Überforderte Armenfürsorge
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Altersarmut als Ausgangspunkt staatlicher Rentenversicherung
Mit der rosigen Vorstellung der würdig, arbeits- und sorgenfrei im Kreis der Familie Alternden hatte die Realität der Frühen Neuzeit nichts zu tun
Zum gesellschaftlich wahrgenommenen Problem wurde die Frage der Altersversorgung aber erst in dem Moment, als immer mehr Personen ein wirklich hohes Alter erreichten und gleichzeitig nicht mehr in der Lage waren, ihren Lebensabend selbständig oder durch die Unterstützung der Familie zu finanzieren. Erst in diesem Moment begann man, staatliche Systeme zu entwickeln, die nicht nur die Bedürftigen unterstützten, sondern auch Zahlenden offenstanden."
Quelle: Schlag 2011, S. 27
Die Arbeiterfrage
Neben dieser Überforderung der kommunalen Armenfürsorge wurde insbesondere die schnell wachsende produktionsmittellose Arbeiterschaft zu einem sozialpolitischen Sprengsatz. Im Falle von Krankheit, Invalidität oder Alter war für sie Armut vorprogrammiert (wobei auch schon die Lebenslage der aktiven Arbeiterschaft kein Zuckerlecken war).Die Sozialpolitik, die sich bis über die Mitte des 18. Jahrhunderts hinaus auf die schlimmsten Aspekte des Arbeitsschutzes beschränkte, musste auf die soziale Arbeiterfrage zwangsläufig reagieren. Die erstarkende Gewerkschaftsbewegung und Sozialdemokratie waren neben Armut und Arbeiterfrage die zweite Triebkraft für die Entstehung der staatlichen Sozialversicherungspolitik - einerseits aus sozialpolitischer Notwendigkeit, andererseits zum Machterhalt im Sinne einer politischen Repression (vgl. Kasten).
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Sozialistengesetz und Sozialversicherung - Peitsche und Zuckerbrot
Otto von Bismarck sagte in seiner Reichstagsrede vom 15. März 1884: "Bei Einbringung des Sozialistengesetzes hat die Regierung Versprechungen gegeben dahin, dass als Korollar dieses Sozialistengesetzes die ernsthafte Bemühung für eine Besserung des Schicksals der Arbeiter Hand in Hand mit demselben gehen sollte. Das ist meines Erachtens das Komplement für das Sozialistengesetz".
Beide Quellen zitiert nach Lampert, Althammer 2004, S. 67