Um 1900 arbeiteten 62 Prozent der Beschäftigten in Deutschland in der Landwirtschaft. Während des gesamten 20. Jahrhunderts ging dieser Anteil kontinuierlich zurück. Möglich wurde das durch enorme Produktivitätsfortschritte, die auf technischen und agrarwissenschaftlichen Entwicklungen fußen (Deutschland in Daten 2015, S. 236ff.).
Gleichzeitig musste der landwirtschaftliche Sektor durch staatliche Interventionen gestützt werden. Anders ist eine landwirtschaftliche Produktion in den industrialisierten Ländern Europas nicht aufrechtzuerhalten. Das galt sowohl für den Westen als auch für den Osten. Deshalb kann man in einer bundesdeutschen Darstellung der DDR-Landwirtschaft aus dem Jahre 1984 nachlesen, dass "in westlichen Ländern seit geraumer Zeit beträchtliche Mittel für die Landwirtschaft aufgewendet [werden], ohne dass eine Lösung der Strukturprobleme auch nur in Sicht wäre. Aus heutiger Perspektive muß man das Agrarprogramm der SED daher als Experiment mit offenem Ausgang ansehen" (DIW 1984, S. 204).
23_ITEM_02: Ein Landwirt in Deutschland ernährt so viele Menschen im Jahre... (bpb)
Einige Jahre später erfuhr diese Aussage eine ungeahnte Bestätigung, denn die Entwicklung der ostdeutschen Landwirtschaft nach der Wiedervereinigung ist eine ökonomische Erfolgsgeschichte jener Agrarbetriebe, die ihre zu Zeiten der DDR ausgebildeten großbetrieblichen Produktionsformen nach 1990 beibehielten. Die erfolgreiche Verstetigung agrarwirtschaftlicher Strukturen schließt jedoch negative Folgen für die ländlichen Regionen mit ein.
Die Vorgeschichte
Im Jahr 1946 wurden alle Großgrundbesitzer, die über 100 Hektar (ha) Ackerfläche besaßen, in der damaligen sowjetisch besetzten Zone enteignet. Das Land wurde überwiegend an so genannte "Neubauern" (hauptsächlich ehemalige Landarbeiter und Flüchtlinge) verteilt. In den 1950er Jahren begann in der DDR eine forciert vorangetriebene Kollektivierung der Landwirtschaft nach sowjetischem Vorbild. Unter starkem politischem Druck gaben bis 1960 die letzten bäuerlichen Familienbetriebe die eigenständige Produktion auf. Seitdem dominierten Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG), in denen die Ackerflächen gemeinschaftlich bewirtschaftet wurden. Doch anders als bei volkseigenen Industriebetrieben blieben die Produktionsmittel im Besitz der Personen, die sie in die LPG eingebracht hatten. In der Agrarwirtschaft handelt es sich um das Produktionsmittel "Grund und Boden“. Bis 1989 litt die Landwirtschaft in der DDR unter den üblichen Problemen sämtlicher anderer Sektoren der realsozialistischen Planwirtschaft: mangelnde Investitionen, geringe Produktivität, große Umweltbelastungen bei der Produktion. Seither hat sich jedoch die ostdeutsche Landwirtschaft zu einem Erfolgsmodell entwickelt: Sie ist geprägt durch große Betriebe mit hoher Produktivität und guter Gewinnsituation. Der Agrarbereich ist heute die einzige Branche, in der in Ostdeutschland mit besseren Ergebnissen gewirtschaftet wird als in den alten Bundesländern. Dieser Erfolg stand Anfang der 1990er Jahre noch nicht fest.
Von der LPG zur Agrargenossenschaft
Die wirtschaftliche Bedeutung der Landwirtschaft war in der DDR relativ groß. Im Jahr 1989 arbeiteten ca. 10,8 Prozent der Berufstätigen in diesem Bereich (Statistisches Jahrbuch der DDR 1990, S. 125). Die Vergleichszahl für die alten Bundesländer lag 1988 bei ca. 4,2 Prozent (Statistisches Jahrbuch 1990, S. 90). Es gab 1989 insgesamt 3.844 LPG und 464 volkseigene Güter, die im Durchschnitt sehr große Flächen bewirtschafteten. Ebenso wie die Betriebe der Industrie traf die Wiedervereinigung die DDR-Landwirtschaft völlig unvorbereitet. Doch anders als in allen anderen Branchen konnten sich die meisten LPG relativ schnell an die neuen Bedingungen anpassen und hatten innerhalb kurzer Zeit die westdeutsche Konkurrenz überholt. Die Gründe hierfür waren:
Es gab eine Übereinstimmung des Produktionskonzepts der DDR-Landwirtschaft und der Agrarordnung der Europäischen Union. Unter diesen Bedingungen konnten die ostdeutschen Agrarbetriebe ihre Vorteile bei der Massenproduktion im industriellen Maßstab ausspielen.
Die Agrarpolitik in der Bundesrepublik Deutschland war traditionell in sich widersprüchlich, weil sie einerseits den bäuerlichen Familienbetrieb propagierte, andererseits jedoch die Agrarordnung faktisch eine Massenproduktion unterstützte. Nach der Wiedervereinigung kam es zunächst zu einer klaren Bevorzugung bei der Einrichtung bäuerlicher Einzelbetriebe als Nachfolger aufgelöster LPG. Größeren Betriebsformen wurden von der westdeutschen Agrarpolitik geringe Überlebenschancen eingeräumt.
23_ITEM_03: Agrarstruktur in Deutschland 1993 (bpb)
Diese Politik ließ sich aber nicht durchsetzen, weil die Betroffenen selbst anders entscheiden konnten. Der Hintergrund hierfür war die klare Rechtslage beim genossenschaftlichen Eigentum, im Gegensatz zum Volkseigentum in den anderen Wirtschaftsbereichen. Die ländlichen Genossenschaftsmitglieder entschieden sich in großer Mehrheit für die Weiterführung der LPG in neuen Unternehmensformen. Angesichts der wirtschaftlichen Turbulenzen in der Umbruchsphase 1990/91 waren nur verhältnismäßig wenige bereit, das Wagnis einer bäuerlichen Existenz als "Wiedereinrichter" auf sich zu nehmen. Die seit Jahrzehnten andauernden Probleme bäuerlicher Betriebe in den alten Bundesländern – auch mit dem Begriff "Höfesterben" bezeichnet (Wehler 2008) – waren wohlbekannt. Zudem waren und sind landwirtschaftliche Privatbetriebe in Ostdeutschland im Durchschnitt wesentlich größer – und damit rentabler – als diejenigen in den alten Bundesländern.
Nachdem anfangs versucht wurde, größere Nachfolgebetriebe von LPG zu benachteiligen, fand ein politisches Umdenken schon 1991/92 statt, auch um einen Zusammenbruch der ostdeutschen Landwirtschaft zu verhindern. Der Deutsche Bauernverband gab im selben Zeitraum seinen anfänglichen Widerstand auf und stimmte zu, dass Interessenorganisationen der früheren LPG in die traditionelle bäuerliche Interessenvertretung aufgenommen wurden. Außerdem fanden sich in den neuen ostdeutschen Landwirtschaftsministerien starke Fürsprecher der Agrargenossenschaften. Lehmbruch und Mayer schrieben 1998, "dass der an der Bewirtschaftung [in Form von Agrargenossenschaften] festhaltende Kern der ostdeutschen Landwirtschaft inzwischen ein politisch beachtliches Vetopotential gewonnen hat" (S. 354 f.).
Bis August 1992 ließen sich ca. 3.000 landwirtschaftliche Nachfolgebetriebe als so genannte "juristische Personen" zumeist als Agrargenossenschaften registrieren. Sie wiesen eine Durchschnittsgröße von 1.136 ha auf. Damit waren sie im Mittel zwar kleiner als die früheren LPG. Doch wurden sie innerhalb kurzer Zeit wesentlich produktiver, weil sie sich nun auf ihre ökonomischen Kernaufgaben beschränken und intensive Rationalisierungsmaßnahmen durchführen konnten. In großem Umfang wurden nicht-ökonomische Funktionen wie Angebote der Daseinsvorsorge ausgegliedert, welche die LPG in noch höherem Maße als andere Betriebe in der DDR wahrnehmen mussten. Die "Verschlankung" der Betriebsstrukturen führte zu einem starken Personalabbau. Teilweise wurde die Beschäftigtenzahl um 90 Prozent reduziert. Insgesamt ist die Landwirtschaft der Wirtschaftsbereich in Ostdeutschland, in dem im Vergleich zu der Zeit vor 1989 der größte Beschäftigungsabbau stattgefunden hat. Schon 1993 arbeiteten nur noch etwa 2,8 Personen je ha Fläche, verglichen mit 5,5 Personen/ha im Westen.
In den folgenden Jahren wurden nochmals starke Produktivitätsgewinne in der ostdeutschen Landwirtschaft verzeichnet. Auf der Datenbasis von Testbetrieben, für die 2007/08 vom Bundesministerium für Landwirtschaft betriebswirtschaftliche Zahlen und die Wirtschaftskraft nach EU-Kennziffern erhoben wurden, zeigten sich bekannte allgemeine Größeneffekte. Größere Betriebe standen wirtschaftlich besser da, was sich auch in den Veränderungsraten der Betriebszahl ablesen lässt. Aufgrund der hohen Anzahl großer Betriebe war die Einkommenssituation ostdeutscher Landwirte im Durchschnitt besser als die ihrer westdeutschen Kollegen. Außerdem zeichneten sich ostdeutsche Betriebe durch eine hohe Rentabilität aus. Der Gewinn war verhältnismäßig hoch, bezogen auf die erzielten Umsätze oder das eigene Kapital.
Das wirtschaftliche Fazit lautet also: die ostdeutsche Landwirtschaft ist konkurrenzfähig. Zum Teil bestehe sogar laut Auskunft ostdeutscher Agrarbetriebe keine Notwendigkeit mehr, Agrarsubventionen an sie zu zahlen (die Aussage bezieht sich auf Interviews mit Vorsitzenden von Agrargenossenschaften in Thüringen im Jahr 2009; vgl. auch Deutschlandfunk 2019).
"Gesunde Betriebe – krankes Land"
Die LPG mussten in der DDR nicht nur die üblichen nicht-ökonomischen Funktionen wahrnehmen. Vertraglich waren sie dazu verpflichtet, kommunale Infrastrukturen bereitzustellen und zu unterhalten. Damit stellten sie den Kern einer "umfassenden sozio-ökonomischen Organisationsform des ländlichen Raums" in der DDR dar (Lehmbruch/Mayer 1998, S. 356). In dem Maße, wie es den neuen Agrarbetrieben in den 1990er Jahren gelang, durch Abgabe von Verantwortlichkeiten, Rationalisierungen und Personalabbau wirtschaftlich erfolgreich zu werden, zerbrach diese alte Ordnung. Die Bindungen an das Dorf oder an die Region wurden lockerer. Der Sozialwissenschaftler Rainer Land sah schon im Jahre 2000 eine zunehmende regionale "Entbettung" der neuen ostdeutschen Agrarbetriebe.
Im Schatten modernisierter Agrarstrukturen entstanden deshalb neue Probleme. Die Standortnachteile ländlicher Regionen in Ostdeutschland hängen teilweise damit zusammen, dass die Agrargenossenschaften nur noch für eine geringe Zahl von Personen aus der Region überhaupt Arbeit bieten, es im näheren Einzugsbereich aber kaum andere Verdienstmöglichkeiten gibt. Der hohe Anteil der Landwirtschaft an der Bruttowertschöpfung z.B. im Nordosten Deutschlands kommt auch dadurch zustande, dass die Einkommensmöglichkeiten in anderen Wirtschaftssektoren derselben Region nur unterdurchschnittlich sind. Dies ist ein weiteres Kennzeichen der industriellen Schwäche Ostdeutschlands. Mann und Schaechterle (2000) haben die Entwicklung der ostdeutschen Agrarstrukturen auf die anschauliche Formel gebracht: "Gesunde Betriebe, krankes Land."
23_ITEM_07: Wegzugsüberlegungen nach Geschlecht (bpb)
Diese Probleme haben sich in den letzten Jahren in der Weise noch verschärft, dass sich zunehmend Finanzinvestoren in ostdeutsche Betriebe eingekauft haben. Nach Untersuchungen des Thünen-Instituts liegt inzwischen der Anteil solcher Investoren in manchen ostdeutschen Regionen bei einem Viertel bis einem Drittel (Tietz 2017). Damit wird die Wertschöpfung in bereits strukturschwachen Gegenden weiter reduziert und abgezogen. In dem Bericht 2019 zum deutschen Einigungsprozess geht auch der Bundesbeauftragte für die ostdeutschen Bundesländer auf dieses Problem ein. Es wird außerdem ausgeführt, dass durch die neuen Eigentümerinteressen regionalpolitische Ziele nicht mehr verfolgt werden könnten und sich beobachten lasse, dass steigende Bodenpreise die Entwicklungsmöglichkeiten in vielen Betrieben begrenzten (Jahresbericht 2019, S. 75).
23_ITEM_08: Überregional aktive Investoren als Mehrheitseigentümer (bpb)
Ein zweites Problem betrifft nicht nur Ostdeutschland und die Landwirtschaft, sondern allgemein ländliche Räume in Deutschland. Sie sind für Jugendliche nur noch eingeschränkt attraktiv. Nach einer Studie über die Lebenssituation und die Zukunftsvorstellungen von Jugendlichen in sechs ländlichen Regionen in Deutschland denkt die Mehrheit der befragten Jungen und Mädchen darüber nach, in der Zukunft wegzuziehen. Die Häufigkeiten variieren mit der Schulform, aber auch bei den Schülern an berufsbildenden Schulen liegt der Prozentsatz derjenigen mit Wegzugsüberlegungen in den ostdeutschen Regionen bei 48-55 Prozent. Nach den Analysen der Autoren sind die Gründe für die Wegzugsgedanken: "fehlende Arbeitsplätze in den Regionen, bessere Zukunftsperspektiven und Entwicklungsmöglichkeiten andernorts, die Verwirklichung eigener Ausbildungspläne und der Wunsch nach anderen Lebensstilen und -möglichkeiten. Bei Berufsschülern sind es in erster Linie fehlende berufliche Entwicklungsmöglichkeiten und Zukunftsperspektiven, die sie veranlassen, über einen Wegzug nachzudenken" (Becker/Moser 2013 S. 94). Es soll an dieser Stelle keine detaillierte Interpretation der Daten gegeben werden (vgl. Externer Link: Item Abwanderung), sondern diese Befragungsergebnisse illustrieren ein demografisches Problem, mit dem die (ostdeutsche) Landwirtschaft zunehmend konfrontiert werden wird, gerade weil sich die Erwerbstätigenquote im primären Wirtschaftssektor inzwischen der 1-Prozentgrenze nähert (im Jahre 2017 waren es 1,4 Prozent, DBV 2019, S. 9).
Drei Jahrzehnte nach der Wende zeichnet sich ab, dass nur wenig von den Strukturen der DDR Bestand haben wird, doch die ostdeutsche Agrarstruktur gehört dazu. Die Ironie der Geschichte besteht darin, dass die durch massiven Zwang und gegen vielfältige Proteste durchgesetzte kollektivierte Landwirtschaft nur durch freiwillige Entscheidungen der Genossenschaftsmitglieder nach der Wende erhalten blieb. Diese Form der landwirtschaftlichen Massenproduktion konnte erst unter den Bedingungen der europäischen Agrarordnung, die diese Produktionsform bevorteilt, ihre Stärken entfalten. Zukünftig wird es darum gehen müssen, damit verbundene nachteilige Effekte wie die Vernachlässigung ländlicher Regionen zu bewältigen. In ökologischer und ethischer Perspektive besteht zudem die vermutlich noch größere Herausforderung, die Nachhaltigkeit einer industrialisierten Landwirtschaft zu erweisen – angesichts beispielsweise von Grundwassergefährdung, Artensterben und Tierschutz.
Dr. habil. Bernd Martens, studierte Soziologie, Informatik, Sozialgeschichte und Volkswirtschaftslehre in Hamburg. Von 2001-12 war er am Sonderforschungsbereich 580 "Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch" an der Universität Jena in einem Forschungsprojekt über wirtschaftliche Eliten im erweiterten Europa und als wissenschaftlicher Geschäftsführer tätig. Von 2013 bis 2017 arbeitete er am Zentrum für Sozialforschung an der Universität Halle in verschiedenen Forschungs- und Evaluationsprojekten. Von 2018 bis 2019 war er am DZHW (Deutsches Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung) Berlin im Nacaps-Projekt tätig. Seit 2020 arbeitet er in der Außenstelle Leipzig des DZHW. (Nacaps steht für National Academics Panel Study und ist eine Längsschnittstudie des DZHW über Promovierende und Promovierte in Deutschland. In regelmäßigen Abständen befragt Nacaps bundesweit Promovierende und Promovierte zu ihren Promotionsbedingungen, Karriereabsichten und Karriereverläufen sowie zu ihren allgemeinen Lebensbedingungen.)