Public Health: Koordination und Verzahnung von Ministerien, Kommunen und NHS
Die Kommunen sind traditionell für bevölkerungsbezogene Interventionen wie Bildung und Aufklärung, Wohnpolitik sowie für weite Bereiche des Gesundheitsschutzes (Hygiene, Lebensmittelsicherheit, Umweltschutz) zuständig. Public-Health-Maßnahmen werden daher von den kommunalen Gesundheitsbehörden geplant und in konkrete Programme und Projekte umgesetzt.
Die drei Labour-Regierungen (seit 1997) haben eine bessere Zusammenarbeit von nationalem Gesundheitsdienst und kommunalen Gesundheitsbehörden zur Bekämpfung sozial bedingter gesundheitlicher Ungleichheit zu einem wichtigen gesundheitspolitischen Ziel gemacht. Hierzu sollen sowohl die Förderung präventiver und gesundheitsförderlicher Interventionen als auch die Erarbeitung lokaler Gesundheitsstrategien beitragen. Dabei existieren zahlreiche Programme zur Integration der Arbeit des National Health Service (NHS), der kommunalen Gesundheitsbehörden und der nicht staatlichen Akteure. In besonders von gesundheitlichen Problemen betroffenen Regionen sind zum Beispiel Health Action Zones (HAZs) eingerichtet worden. Zudem sitzt im Vorstand eines jeden Primary Care Trusts ein Beauftragter für Public-Health-Probleme, der direkt vor Ort in Zusammenarbeit mit einem Public Health Team die bessere Koordinierung von nationalem Gesundheitsdienst und kommunalen Gesundheitsbehörden bewerkstelligen soll.
Primäre Gesundheitsversorgung: Das "Gatekeeper-System" im Wandel
Die hausärztliche Versorgung wird von Hausärztinnen und -ärzten ("General Practitioners", GPs) ausgeübt, die in der Regel in Gruppenpraxen tätig sind. Patientinnen und Patienten tragen sich dazu bei ihrer Hausärztin oder ihrem Hausarzt vor Ort in ein Patientenregister ein. Eine freie Arztwahl wie in Deutschland in der hausärztlichen Versorgung ist nicht ohne Weiteres möglich, obwohl Patientinnen und Patienten durchaus die zuständige Hausärztin oder den zuständigen Hausarzt wechseln können. Allerdings muss die neu gewählte Hausärztin/der neu gewählte Hausarzt die Patientin oder den Patienten akzeptieren und in das eigene Register aufnehmen.
Die Hausärztinnen und Hausärzte behandeln ihre Patientinnen und Patienten in ihrer Praxis oder überweisen sie zur Weiterbehandlung an Einrichtungen der fachärztlichen (sekundären) Krankenversorgung (Krankenhäuser und intermediäre Organisationen). Ein direkter Zugang zu Krankenhausleistungen besteht für Patientinnen und Patienten – mit Ausnahme von Notfällen – in Großbritannien daher nicht. Die Hausärztin oder der Hausarzt fungiert vielmehr als "Lotse" ("Gatekeeper") der Patientin oder des Patienten und steuert sie/ihn auf dem Behandlungsweg durch das NHS.
Im internationalen Vergleich liegt die Versorgung mit Hausärztinnen und -ärzten in Großbritannien deutlich unter der Versorgungsdichte in Deutschland. In Großbritannien waren 2011 gut 40.000 General Practitioners (Allgemeinärzte) tätig (Thomson et al. 2013). Damit kamen rund 0,7 Allgemeinärzte auf 1.000 Einwohner. Dies sind etwas weniger als in Deutschland, wo in der hausärztlichen Versorgung im Jahr 2011 gut 60.000 Ärzte tätig waren (0,75 auf 1.000 Einwohner) (Rosenbrock/Gerlinger 2013). Zählt man noch die Fachärzte hinzu, so ist die Arztdichte in Großbritannien deutlich geringer als in Deutschland: Bezogen auf alle Ärzte gab es in diesem Jahr in Großbritannien 2,8 Ärzte auf 1.000 Einwohner, in Deutschland immerhin 3,8 (OECD 2013).
Neben den Hausärztinnen und -ärzten arbeiten noch Zahnärztinnen und -ärzte, Apothekerinnen und Apotheker sowie Optikerinnen und Optiker ebenfalls als selbstständige Kleinunternehmer für den NHS und stellen zusammen jene Gruppe von Gesundheitsdienstleistungen bereit, die als Family Health Services bezeichnet werden. Zudem werden von kommunalen Krankenhäusern, Tageskliniken und kommunalen Gesundheitsdiensten ergänzende Leistungen bereitgestellt. Hierunter fasst man zum Beispiel die fürsorgliche und pflegerische Tätigkeit von Gemeindeschwestern, Gesundheitsbesuchern, Hebammen und Krankenpflegepersonal ("Community Health Services") zusammen. Hausärztinnen und -ärzte arbeiten in Primary Health Care Teams eng mit diesen Berufsgruppen und den kommunalen Gesundheitsbehörden zusammen. Die primäre Gesundheitsversorgung umfasst daher nicht nur kurative Maßnahmen zur Heilung und Behandlung von akuten oder chronischen Erkrankungen, sondern auch präventive und gesundheitsförderliche Maßnahmen zur Verbesserung der allgemeinen Gesundheit der lokalen Bevölkerung ("Family Health Services" + "Community Health Services" = "Primary Care").
Sowohl ein landesweiter Telefondienst ("NHS Direct") als auch von speziell ausgebildeten Krankenschwestern und -pflegern geleitete Einrichtungen zur Behandlung kleinerer Verletzungen und Erkrankungen ("NHS Walk-In Centres") entlasten die meist als Gruppenpraxis geführten hausärztlichen Praxen. Die NHS Walk-In Centres befinden sich vor allem im Zentrum von kleineren und größeren Städten.
Fachärztliche Krankenversorgung: Krankenhäuser und intermediäre Organisationen
Die hausärztliche und die fachärztliche (sekundäre) Versorgung sind in Großbritannien durch die Dominanz des Gatekeeper-Systems und die Konzentration von fachärztlichen Tätigkeiten im Krankenhaussektor traditionell strikt getrennt. Im internationalen Vergleich liegt die Krankenhausdichte in Großbritannien historisch sehr niedrig. 2011 gab es in Großbritannien lediglich mit 3,0 Akutbetten auf 1.000 Einwohner, in Deutschland 8,3 (OECD 2013).
Die starre Grenze zwischen ambulanter hausärztlicher und stationärer fachärztlicher Versorgung wird durch den medizinischen Fortschritt ("minimalinvasive Medizin" und "Standardisierung von operativen Eingriffen") und durch die politische Förderung von Wettbewerb im sekundären Sektor allerdings durchlässiger. Zum einen können zusätzlich qualifizierte Hausärztinnen und -ärzte auch kleinere Operationen und spezialisierte Diagnoseverfahren ambulant durchführen. Zum anderen lagern Krankenhäuser einfache Eingriffe auf der Grundlage hoch standardisierter Operationsverfahren tendenziell aus dem Krankenhaus in ambulante – privatwirtschaftlich wie auch staatlich geführte – Tages- und Polikliniken aus ("Treatment Centers"). Die fachärztliche Versorgung in Großbritannien basiert daher mittlerweile nicht nur auf zahlreichen staatlichen und kommunalen Krankenhäusern, sondern auch auf privaten Krankenhäusern und zahlreichen (privaten und staatlichen) Tages- und Polikliniken. Anfang gab es im englischen NHS rund 400 Akutkrankenhäuser (häufig mit mehreren Klinikstandorten). Knapp 150 von ihnen hatten den Status eines "NHS Trusts" und etwa 250 den eines "NHS Foundation Trusts"). Die öffentlichen Krankenhäuser decken den Großteil der stationären Versorgung in England ab (etwa 90 Prozent). Private Häuser sind einstweilen noch von geringer Bedeutung.
Persönliche soziale Dienste
Ein weiterer wichtiger Bereich des britischen Gesundheitssystems ist die Versorgung von vulnerablen sozialen Gruppen von Erwachsenen und Kindern mit unterstützenden persönlichen sozialen Diensten. Zu diesen hilfsbedürftigen Personengruppen gehören ältere hilfsbedürftige Menschen, psychisch Kranke sowie Menschen mit physischen und geistigen Beeinträchtigungen. Zwar werden diese Dienstleistungen weitgehend von den Kommunen auf der Grundlage von Bedürftigkeitstests finanziert (siehe oben), in der Regel jedoch nicht von ihnen erbracht. Bei der Gruppe dieser persönlichen sozialen Dienste spielt der private Sektor eine bedeutende Rolle, der in England sowohl Kapitalunternehmen als auch karitative Einrichtungen umfasst.
Die Langzeitpflege von erwachsenen Menschen wird entweder in privaten oder kommunalen Pflegeheimen, privaten Wohnanlagen oder zu Hause durch private oder kommunale Pflegedienste erbracht. Im Jahr 2006 wurden in 2.200 Einrichtungen 259.200 Menschen betreut, von denen 80 Prozent über 65 Jahre alt waren. Der Anteil kommunaler Einrichtungen ist seit Jahren rückläufig und betrug im Jahr 2006 nur noch zehn Prozent. Entsprechend sind die Anteile privater Leistungserbringer gewachsen – von 20 Prozent im Jahr 1993 auf 90 Prozent im Jahr 2006. Im Jahr 2009 wurden auf ihren Antrag hin knapp 400.000 daraufhin begutachtet, ob sie einen Bedarf an sozialen Dienstleistungen aufweisen (Boyle 2011).. Auch hier, bei den sozialen Dienstleistungen, ist der Anteil privater Leistungserbringer mit etwa 70 Prozent deutlich größer als Leistungen, die die Bedürftigen direkt von kommunalen Einrichtungen bekommen haben (30 Prozent). Der Großteil der sozialen Dienste entfällt dabei auf ältere Menschen über 65 Jahre.
Zur besseren Integration der medizinischen und sozialen Versorgung für Menschen mit Mehrfacherkrankungen oder mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen können Primary Care Trusts oder auch andere Versorgungseinrichtungen des NHS wie zum Beispiel Akutkrankenhäuser ("NHS Trusts") oder psychiatrische Krankenhäuser ("NHS Mental Health Trusts") zusammen mit den kommunal zuständigen Behörden gemeinsame Einrichtungen gründen ("Care Trusts"). Trotz der hohen politischen Bedeutung, die dieser Integration von medizinischen und sozialen Versorgungsbereichen zugewiesen wird, haben sich bislang nur wenige gemeinsame freiwillige Partnerschaften zwischen NHS-Akteuren und kommunalen Behörden gebildet.