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Regulierung des Gesundheitswesens | Gesundheitspolitik | bpb.de

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Regulierung des Gesundheitswesens

Renate Reiter

/ 10 Minuten zu lesen

In Frankreich werden die Versorgung, die Finanzierung und die Organisation des Gesundheitssystems vorrangig zentral durch den Staat und und die gesetzliche Krankenversicherung reguliert. Reformen sollen vor allem der institutionellen Komplexität der gesetzlichen Krankenversicherung und der Verhandlungsmacht der Ärzte Herr werden.

Eine Krankenschwester bereitet die Medikamente für Patienten im Krankenhaus vor. (© picture alliance / AFP Creative)

Zentralstaat, gesetzliche Krankenversicherung, Gebietskörperschaften

Die Regulierung des Gesundheitswesens ist in Frankreich überwiegend eine Angelegenheit des Zentralstaates. Sie wird dabei von der staatlichen Exekutive (Regierung, Ministerialbürokratie und vor allem: Gesundheitsministerium sowie staatliche Agenturen) dominiert. Seit Mitte der 1990er Jahre hat der Staat die gesetzliche Krankenversicherung verstärkt in seine gesundheitspolitische Regulierungstätigkeit einbezogen. Allerdings verbleibt die Assurance maladie, die seit 2004 in allen regulativen Angelegenheiten durch den Generaldirektor der UNCAM (Union nationale des caisses d’assurance-maladie) – der Dachorganisation der gesetzlichen Krankenkassen und in Personalunion durch den Direktor der CNAMTS (Régime général) –vertreten wird, in der Rolle eines ‘Co-Regulierers‘. Ihre spezifischen Kompetenzen kann die UNCAM nur im Zusammenwirken mit den staatlichen Akteuren und nur unter der umfassenden Aufsicht des Staates ("Tutelle", deutsche Übersetzung: Vormundschaft) wahrnehmen. Die Gebietskörperschaften (Regionen, Départements, Kommunen) spielen bei der Regulierung des Gesundheitswesens eine marginale Rolle. Sie sind allenfalls in den nachgeordneten Gremien zur dezentralen Präzisierung der nationalen gesundheitspolitischen Vorgaben, Pläne und Strategien und zur Steuerung der Implementation der nationalen Gesetze und Regelungen auf regionaler und départementaler Ebene vertreten und hier meist nur assoziiert.

Zuvorderst ist der Zentralstaat für die Rahmengesetzgebung auf den Gebieten der allgemeinen Sozialversicherung und der gesetzlichen Krankenversicherung sowie auf dem Gebiet der Versorgung mit ambulanten und stationären Leistungen und Diensten sowie auf dem Gebiet der öffentlichen Gesundheit zuständig. Die formalen Verfahrensgrundlagen hierfür sind in der Verfassung der Fünften Republik niedergelegt. Neben der übergeordneten Gesetzgebungskompetenz sind auch zahlreiche exekutive Kompetenzen auf der zentralstaatlichen Ebene angesiedelt. Angesiedelt sind diese häufig bei diversen Agenturen und Fachbehörden, die dem Gesundheitsministerium unterstellt sind und ihm zuarbeiten . Eine Besonderheit besteht seit Inkrafttreten der Gesundheits- und Sozialversicherungsreform im Jahr 1996 ("Plan/ Réforme Juppé") darin, dass das Parlament indirekt an der Budgetkontrolle der gesetzlichen Krankenversicherung, also einer im Kern exekutiven Funktion, mitwirkt. So beschließt die erste Parlamentskammer (Assemblée nationale) seither alljährlich zusammen mit dem Finanzierungsgesetz für die Sozialversicherung (Loi de financement de la sécurité sociale, LFSS) auch eine Obergrenze für den Haushalt der gesetzlichen Krankenversicherung. Sie bestimmt auch die zulässige Ausgabenprogression sowie ein "nationales Ausgabenziel" bzw. einen nationalen Ausgabendeckel, den sogenannten "Objectif national des dépenses de l’assurance-maladie" (ONDAM).

Sieht man von diesem besonderen Recht des Parlaments ab, liegen die Exekutivaufgaben im Bereich der Regulierung des Gesundheitswesens in den Händen der zentralstaatlichen Exekutive. Sie werden dabei zum Teil von der Regierung insgesamt ausgeübt, zum Teil ausschließlich vom Gesundheitsministerium (Ministère des Affaires Sociales et de la Santé) wahrgenommen. Sie sind schließlich zum Teil Gegenstand interministerieller Koordinationen und Kooperationen zwischen dem Gesundheitsministerium und anderen einschlägigen Ministerien, wie dem Bildungs- und Jugendministerium; dem Ministerium für Solidarität und sozialen Zusammenhalt; dem Wirtschafts- und Finanzministerium; dem Ministerium für die öffentlichen Haushalte, die öffentliche Verwaltung und die Reform des Staates sowie dem Ministerium für Landwirtschaft und Nahrungsmittelversorgung. Die zuständigen Ministerien wiederum haben einen Teil der gesundheitsbezogenen Regulierungsaufgaben an nachgeordnete Behörden oder auch staatliche oder halbstaatliche Agenturen oder Sonderorganisationen delegiert. Oder sie haben diese den eigenen oder auch interministeriellen Verwaltungsdirektionen übertragen.

Unter den Agenturen oder Sonderorganisationen im Bereich des Gesundheitsministeriums ist insbesondere die "Haute Autorité de Santé" (HAS) zu nennen, die u.a. Aufgaben im Bereich der Regulierung des Leistungskatalogs und der Akkreditierung von Gesundheitseinrichtungen wahrnimmt. Unter den (inter-) ministeriellen Verwaltungsdirektionen sind vor allem die "Direction général de la santé" (DGS) als oberste Verwaltungseinheit des Gesundheitsministerium in Bezug auf die Regulierung und Kontrolle der öffentlichen Gesundheit, die "Direction général de l’offre de soins" (DGOS) als Regulierungs- und oberste Kontrollinstanz für den stationären Sektor, sowie die "Direction de la sécurité sociale" (DSS) bei der Budgetregulierung der gesetzlichen Krankenversicherung von herausgehobener Bedeutung. Zu den wichtigsten Kompetenzen der zentralstaatlichen Bürokratie im Gesundheitsbereich zählen:

  • die Aufsicht über die gesetzliche Krankenversicherung mit ihren einzelnen Kassen (CNMATS, CCMSA, RSI, Kassen der Sonderregime) (DSS);

  • die Aufsicht über die dekonzentrierten Behörden des Zentralstaates auf regionaler und départementaler Ebene (DRASS und DDASS) bei der Implementation der nationalen Gesetze und Verordnungen (Gesundheitsministerium, DGS, DGOS, DSS);

  • die Aufsicht über die dezentralen, teilautonomen Agenturen des Zentralstaates auf regionaler und départmentaler Ebene (z.B. die Agences régionales de santé, ARS), d.h. die Regulierung und Kontrolle dieser Agenturen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben der Planung und Implementation der regionalen/ lokalen öffentlichen Gesundheitspolitiken (Gesundheitsministerium, DGS, DGOS);

  • die Aufsicht über die privaten Zusatzversicherungen (Gesundheitsministerium, Wirtschafts- und Finanzministerium, DSS);

  • die Ernennung des Generaldirektors der UNCAM und zugleich Direktors der größten gesetzlichen Krankenkasse, der CNAMTS (zentralstaatliche Regierung/ Premierminister);

  • die Festlegung der Bestimmungen zur Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung auf Basis des ONDAM (Höhe der Beiträge, Krankenhausgebühr, Zuzahlungen) (Gesundheitsministerium, DSS);

  • die Genehmigung der Bestimmungen der UNCAM zu Höhe und Umfang des Selbstbehalts (Ticket modérateur) und der Praxis- bzw. Behandlungsgebühr (Gesundheitsministerium);

  • die Genehmigung der zwischen der gesetzlichen Krankenversicherung und den Leistungserbringern ausgehandelten nationalen Vereinbarungen zur Festsetzung der Arzthonorare und Regelung der gemeinsamen Aktionen von Kassen und Ärzten (z.B. im Bereich Prävention, Qualitätskontrolle etc.) (Gesundheitsministerium)

  • die Genehmigung des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung und der CMU (Gesundheitsministerium);

  • die Krankenhausplanung und die Festlegung der Bestimmungen zur Finanzierung der öffentlichen sowie der privaten Krankenhäuser, die sich am öffentlichen Versorgungssystem beteiligen (Gesundheitsministerium, DGOS, DSS)

  • die Ausbildung, Zulassung und Überwachung der akademischen Gesundheitsberufe (Gesundheitsministerium, Bildungsministerium, HAS) sowie die Rekrutierung, Akkreditierung und Evaluation des Personals in den öffentlichen Versorgungseinrichtungen (Gesundheitsministerium, HAS).

Der Generaldirektor der UNCAM übt – stets unter der umfassenden Fach- und Rechtsaufsicht ("Tutelle") des Staates/ Gesundheitsministeriums – die folgenden regulativen Kompetenzen aus (Hassenteufel 2009: 371-372):

  • die Definition des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung auf Vorschlag der HAS;

  • die Festlegung der maximalen Höhe der Erstattung von medizinischen Leistungen durch die gesetzliche Krankenversicherung;

  • die Festlegung von Bestimmungen zu Höhe und Umfang des Selbstbehalts (Ticket modérateur) und der Praxis- bzw. Behandlungsgebühr;

  • die Aushandlung der jährlichen nationalen Ausgaben- und Verwaltungsvereinbarung ("Convention d’objectifs et de gestion", COG) mit dem Gesundheitsministerium zum Zweck der Budgetkontrolle der gesetzlichen Krankenversicherung;

  • die Aushandlung der nationalen Vereinbarungen zwischen der gesetzlichen Krankenversicherung und den Leistungserbringern zur Festsetzung der Arzthonorare und Regelung der gemeinsamen Aktionen von Kassen und Ärzten;

  • die Aushandlung von Vereinbarungen mit den einzelnen Kassen unter dem Dach der UNCAM zur Umsetzung der nationalen politischen Vorgaben in Bezug auf die Leistungserstattung und die sonstigen Aufgaben der Kassen

Bei der Durchführung seiner gesundheitspolitischen Bestimmungen auf den dezentralen Ebenen bedient sich der Zentralstaat in erster Linie seiner eigenen dekonzentrierten Behörden in den Regionen und Départements, im Einzelnen den:

  • Directions régionales des affaires sanitaires et sociales (DRASS),

  • Directions départementales des affaires sanitaires et sociales (DDASS),

  • Präfekturen auf regionaler und départementaler Ebene (bei nicht rein fachlichen Verwaltungsakten (Budgetkontrolle, Rechtmäßigkeitskontrolle etc.).

Hinzu kommen außerdem seit den Gesundheitsreformen 1996, 2004 und 2009 weitere dekonzentrierte, doch mit vergleichsweise größerer Autonomie (z.B. eigener Haushalt) ausgestattete Organisationseinheiten, namentlich die 26 regionalen Krankenhausagenturen (Agences régionales de l’hospitalistion, ARH) bzw. ihre Nachfolgerorganisationen, die regionalen Gesundheitsagenturen (Agences régionales de santé, ARS) und die Unions régionales des caisses d’assurance-maladie [URCAM] als regionale Untergliederungen der UNCAM). Letztere zeichnen sich ungeachtet ihrer gemischt öffentlich-privaten Zusammensetzung durch eine Dominanz der staatlichen Repräsentanten in ihren entscheidenden Gremien aus.

Die Gebietskörperschaften, d. h. in erster Linie Regionen und Départements, z. T. aber auch die Kommunen (große Städte) spielen im Feld der Gesundheitspolitik - ungeachtet der seit Beginn der 1980er Jahre durchgeführten Dezentralisierungsreformen (vgl. "Interner Link: Kleine Landeskunde") und abgesehen von der Ausnahme der Krankenhauspolitik - eine marginale Rolle. Für den Bereich der Krankenhauspolitik im engeren Sinne und für die verwaltungs- und investitionspolitischen Entscheidungen der einzelnen Krankenhäuser ist festzuhalten, dass hier insbesondere die Bürgermeister von Gemeinden mit eigenem kommunalen Krankenhaus qua Amt traditionell in den Aufsichtsgremien der jeweiligen Einrichtung vertreten sind.

Durch die Stärkung der Exekutivfunktionen der Krankenhausverwaltungsdirektoren im Zuge der Krankenhausreformen von 2003 ("Plan Hôpital 2007") und 2009 ("Loi HPST") (vgl. Abschnitt Interner Link: "Versorgungsstrukturen"/ "stationäre Versorgung") und die gleichzeitige ‘Teilentmachtung‘ der Aufsichtsräte der kommunalen Krankenhäuser ist der kommunale Einfluss auf krankenhauspolitische Entscheidungen allerdings in den vergangenen Jahren stark beschnitten worden. Ansonsten besitzen lediglich insbesondere die Départements in einzelnen an die Gesundheitspolitik angrenzenden Bereichen, z.B. bei der Pflege von Behinderten und alten Menschen oder auch der präventiven Versorgung von Schwangeren und der Mutter-Kind-Betreuung, seit 1982 eigene Aufgaben. Weiterhin sind gewählte Repräsentanten der unterschiedlichen Gebietskörperschaften in den diversen nachgeordneten Gremien zur Feinregulierung der Implementation staatlicher Vorgaben und Politiken vertreten (z.B. in den Qualitätsräten der regionalen Gesundheitsagenturen [ARS]). Häufig ist diese Vertretung allerdings nicht-obligatorisch und mit keinerlei autonomen Entscheidungskompetenzen für die lokalen Mandatsträger verbunden.

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Erläuterung

Antwort a) ist richtig: Neben der übergeordneten Gesetzgebungskompetenz sind zahlreiche exekutive Kompetenzen auf der zentralstaatlichen Ebene angesiedelt.
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Auf welcher Ebene sind die Gesetzgebungskompetenz und die exekutiven Befugnisse im Bereich des Gesundheitswesens in Frankreich angesiedelt?

Erläuterung
Antwort a) ist richtig: Neben der übergeordneten Gesetzgebungskompetenz sind zahlreiche exekutive Kompetenzen auf der zentralstaatlichen Ebene angesiedelt.

Reformansätze: Dezentralisierung, Zentralisierung, Stärkung der Legitimität

Der Zentralstaat und eingeschränkt auch die gesetzliche Krankenversicherung halten zwar die Fäden der Regulierung der Versorgung mit medizinischen Leistungen, ihrer Finanzierung und ihrer Organisation in Händen, allerdings zeichnen sich beide Seiten durch eine spezifische Ohnmacht gegenüber den Leistungserbringern vorrangig im ambulanten Sektor und hier insbesondere bei den frei praktizierenden niedergelassenen Ärzten des "Secteur 2" (vgl. Abschnitt "Interner Link: Versorgungsstrukturen") aus (Leicher 2010). Doch nicht allein die Regulierung der ambulanten ärztlichen Tätigkeit gestaltete sich seit dem Bestehen der allgemeinen Sozialversicherung schwierig, auch das Verhältnis des Staates zu den Krankenkassen des Régime général verlief in der Vergangenheit nicht ohne Komplikationen. Seit der Errichtung der größten und wichtigsten Kasse, der CNAMTS, im Jahr 1967 scheiterten mehrere Anläufe des Staates, die Kassen bei der Budgetverwaltung und -kontrolle in die Verantwortung zu nehmen. Die institutionelle Komplexität der Assurance maladie insgesamt und die mangelhafte Koordination insbesondere zwischen den drei Hauptkassen des Régime général (CNAMTS, MSA, RSI) sind, neben der ungleich verteilten Verhandlungsmacht zwischen Kassen und Ärzten, zwei Gründe hierfür.

Vor diesem Hintergrund stellt die Restrukturierung der Kassenlandschaft durch Gründung der UNCAM im Zuge der Gesundheitsreform von 2004 und die Übertragung wesentlicher Selbstverwaltungsaufgaben im Bereich der Finanzierung der Assurance maladie auf den Generaldirektor der UNCAM einen wichtigen Dezentralisierungsschritt dar. Einen weiteren Schritt zur Dezentralisierung des Gesundheitssystems ist der Gesetzgeber vermeintlich mit der Errichtung der "Agence régionales de santé" (ARS) im Jahr 2009 (vgl. Abschnitt "Interner Link: Versorgungsstrukturen") gegangen. Dieser zweite Schritt wurde bereits mit der Sozialversicherungsreform des damaligen Premierministers Alain Juppé im Jahr 1996 vorbereitet. Die Reform von 1996 brachte u.a. die Einrichtung entsprechender Agenturen mit sich: Die Agences régionales d’hospitalisation (ARH) mit der Aufgabe der Ausübung bestimmter Planungs- und Regulierungsfunktionen auf dezentraler regionaler Ebene wurden errichtet. Dies geschah zunächst allein im stationären Sektor. Die ARH gingen im Jahr 2004 in den funktional erweiterten ARS auf.

Experten des französischen Gesundheitssystems sehen in dieser Entwicklung allerdings eher ein Zeichen einer verstärkten Zentralisierung. Sie weisen darauf hin, dass es sich bei den ARH bzw. ARS nicht um lokale Behörden, sondern um staatliche oder staatlich-kontrollierte Behörden mit moderner Organisationsstruktur (Agenturkonstruktion, Haushaltsautonomie) und einem modernisierten Verständnis der Beziehungen zu lokalen und privaten Akteuren (Kooperation/Governance anstelle von hierarchischer Kontrolle) handelt. Außerdem weisen sie darauf hin, dass mit der Umstrukturierung auch die Aufsichtsfunktionen der staatlichen Gesundheitsbehörden zuungunsten der Handlungs- und Entscheidungsspielräume der regionalen Organisationseinheiten der Krankenkassen gestärkt worden sind (Hassenteufel 2009: 372-373).

Eine Zentralisierungsdynamik wohnt auch der Entscheidung aus dem Jahr 1996 inne, die Assemblée nationale durch den jährlichen Beschluss eines nationalen maximalen Ausgabenziels (ONDAM) an der Haushaltspolitik in Bezug auf die gesetzliche Krankenversicherung partizipieren zu lassen. Die Politik versprach sich von diesem Schritt zur Stärkung der staatlichen Kompetenzen zugleich eine Stärkung der Legitimität der nationalen Gesundheitspolitik und hierbei in erster Linie der nationalen Politik der Ausgabenbegrenzung im Gesundheitswesen. So ist es seither nicht mehr die Exekutive, sondern das Parlament – also der Souverän –, das den Akteuren im Gesundheitssystem den Auftrag zur Kosteneinsparung erteilt. Schließlich hat seit Ende der 1990er Jahre – ebenfalls als Schritt zur Steigerung der Legitimität der Gesundheitspolitik – eine Stärkung der Patientenrechte stattgefunden. Diese ist das Ergebnis unterschiedlicher patientenfreundlicher Entscheidungen des Verfassungsgerichts, des Conseil constitutionnel, aber auch des "Gesetzes über die Patientenrechte und die Qualität des Gesundheitswesens" vom 4. März 2002 (Loi du 4 mars 2002 sur les droits des malades et la qualité du système de santé), mit dem die Informationsrechte der Patienten und die Transparenz des System verbessert wurden.

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Antwort b) ist richtig: Die Einführung der regionalen Gesundheitsagenturen 'Agences régionales de santé (ARS)' bewirkte eine Zentralisierung des Gesundheitswesens.
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Was bewirkte die Einführung der regionalen Gesundheitsagenturen 'Agences régionales de santé (ARS)'?

Erläuterung
Antwort b) ist richtig: Die Einführung der regionalen Gesundheitsagenturen 'Agences régionales de santé (ARS)' bewirkte eine Zentralisierung des Gesundheitswesens.

Offenheit über die Zukunft des Regulierungsmodells

Seit Ende der 1990er Jahre richtet sich das französische Gesundheitssystem implizit an der Idee einer 'regulierten Koordination' aus. Diese Ausrichtung manifestiert sich u.a. in:

  • der Errichtung diverser öffentlich-privater Koordinationsgremien in unterschiedlichen Regulierungsbereichen und auf unterschiedlichen Ebenen des Gesundheitssystems;

  • die Stärkung der Rolle und Autonomie der gesetzlichen Krankenversicherung;

  • die Modernisierung des Verwaltungsapparats durch Einführung moderner Managementpraktiken (z.B. Regulierung durch Agenturen, Kontraktualisierung etc.).

Über die Zukunft dieses Regulierungsmodells, das trotz der erfolgten Öffnungsschritte nach wie vor stark zentralistisch ist, herrscht sowohl unter Praktikern als auch unter Experten des Gesundheitswesens Uneinigkeit. So wird auf der einen Seite für Teilbereiche des französischen Gesundheitswesens eine verstärkte Privatisierung und Einführung oder Zementierung wettbewerblicher Interaktionsregeln konstatiert. Dies gilt insbesondere für den zwischen öffentlichen und privaten Einrichtungen aufgeteilten Krankenhaussektor, aber auch für die freie Ärzteschaft, die sich traditionell nicht allein von den Imperativen der medizinischen Ethik, sondern auch einer konkurrenzorientiert-marktwirtschaftlichen Handlungslogik leiten lässt (Leicher 2010). Auf der anderen Seite wird allerdings im Hinblick auf andere Bereiche – dies gilt insbesondere für die Regulierung der Finanzierung des öffentlichen Gesundheitswesens – ein verstärkter Zug in eine weitere Zentralisierung und Verstaatlichung beobachtet (Hassenteufel 2009: 373). Die Einführung der Sozialsteuer CSG ("Contribution sociale généralisée") (vgl. Abschnitt "Interner Link: Finanzierung") könnte z.B. als Indiz für eine solche Entwicklung herangezogen werden (Palier 2010).

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Antwort c) ist richtig: Die Assurance maladie wird zentral durch die Generaldirektorin/ den Generaldirektor der UNACAM vertreten.
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Antwort c) ist richtig: Die Gebietskörperschaften spiele eine untergeordnete Rolle.
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Antwort b) ist richtig: Die Festlegung der Obergrenze der Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung ist Aufgabe des Parlaments.
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Durch wen wird die Assurance maladie vertreten?

Erläuterung
Antwort c) ist richtig: Die Assurance maladie wird zentral durch die Generaldirektorin/ den Generaldirektor der UNACAM vertreten.

Welche Rolle spielen die Gebietskörperschaften bei der Regulierung des französischen Gesundheitswesens?

Erläuterung
Antwort c) ist richtig: Die Gebietskörperschaften spiele eine untergeordnete Rolle.

Worin besteht die Aufgabe des Parlaments bei der Ausgabenkontrolle für das Gesundheitswesen?

Erläuterung
Antwort b) ist richtig: Die Festlegung der Obergrenze der Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung ist Aufgabe des Parlaments.

Quellen / Literatur

Hassenteufel, Patrick (2009): Le rôle de l’État dans la régulation de l’assurance maladie, in: Bras, Pierre-Louis/Pouvourville, Gérard de/Tabuteau, Didier (2009): Traité d’économie et de gestion de la santé, Paris: Presses de la Fondation nationales des Sciences Politiques, 369-377.

Leicher, Claude (2010): Le médecin libéral en 2010, in: Les Tribunes de la santé 28/3 (automne 2010), 55-63.

Palier, Bruno (2005): Gouverner la Sécurité sociale. Les transformations du système français de protection sociale depuis 1945, Paris: Presses universitaires de France.

Palier, Bruno (2010): La réforme des systèmes de santé, Paris: Presses Universitaire de France (PUF).

Literaturtipp

Hassenteufel, Patrick (2009): Le rôle de l’État dans la régulation de l’assurance maladie, in: Bras, Pierre-Louis/Pouvourville, Gérard de/Tabuteau, Didier (2009): Traité d’économie et de gestion de la santé, Paris: Presses de la Fondation nationales des Sciences Politiques, 369-377.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zu nennen sind hier z.B. die « Agence nationale de sécurité du médicament et des produits de santé "(ANSM), die "Agence nationale de sécurité sanitaire de l’alimentation, de l’environnement et du travail" (ANSES), das "Etablissement français du sang" (EFS), oder auch das "Institut national du cancer" (INCa).

  2. Der Aufbau der Ministerialbürokratie und die Organisation der Ministerien in Frankreich unterscheidet sich von der entsprechenden Organisation in Deutschland u.a. dahingehend, dass französische Ministerien nicht in "Abteilungen" untergliedert sind, sondern in "Generaldirektionen" (directions générales). Diese sind entweder vollständig und exklusiv einem Ministerium (also dem jeweiligen Minister und seinem behördeninternen 'Kabinett‘) unterstellt oder aber sie arbeiten – bei inhaltlichen Überschneidungen – auch mehreren Ministerien zu. In diesem Fall greifen Mechanismen der interministeriellen Koordination.

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Dr. Renate Reiter, Institut für Politikwissenschaft der FernUniversität in Hagen