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Leistungsausgrenzungen und Zuzahlungen

Thomas Gerlinger

/ 8 Minuten zu lesen

Seit Mitte der 1970er Jahre hat der Gesetzgeber zahlreiche Veränderungen in der Finanzierung von Gesundheitsleistungen vorgenommen, die in ihrer Gesamtheit zu einer deutlichen Privatisierung der Kosten geführt haben. Dies geschah vor allem durch eine Reihe von Leistungsausgrenzungen sowie durch die Einführung und Anhebung von Zuzahlungen.

Stethoskop und Blutdruckmessgeraet auf Euro-Scheinen (© picture alliance / Arco Images GmbH)

Tiefe Einschnitte erfolgten mit dem 2004 in Kraft getretenen GKV-Gesundheitsmodernisierungsgesetz (GMG), das 2003 von einer großen gesundheitspolitischen Koalition unter Beteiligung von Bündnis 90/Die Grünen verabschiedet worden war.

Beispiele für aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung ausgegliederte Leistungen

  • Sterbegeld

  • Entbindungsgeld

  • Arzneimittel, die der Verbesserung der Lebensqualität dienen

  • nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel

  • Kassenzuschuss für Fahrtkosten (bis auf wenige Ausnahmen)

  • Sterilisation ohne medizinische Notwendigkeit

Quelle: Eigene Darstellung

Über diese Einschnitte hinaus wurde eine Reihe von Leistungen eingeschränkt (z.B. bei der künstlichen Befruchtung). Das nachfolgende GKV-WSG ermöglichte es den Krankenkassen, Versicherte zu den Behandlungskosten heranzuziehen, wenn der Behandlung Folge ästhetischer Operationen, Tätowierungen oder Piercings war. Diese Ausschlüsse wurden damit begründet, dass diese Leistungen entweder versicherungsfremd oder nicht zweckmäßig bzw. nicht notwendig im Sinne des SGB V seien. Bei manchen dieser Leistungen (z.B. beim Sterbegeld) ist eine solche Sichtweise auch nachvollziehbar. Bei anderen wiederum existieren oft recht breite Grauzonen. Dies ist etwa der Fall bei der Messung der therapeutischen Wirksamkeit von Heilverfahren und Medikamenten oder bei der Grenzziehung zwischen medizinischer Notwendigkeit und bloßer Erhöhung der Lebensqualität. Leistungsausschlüsse können hier für zahlreiche Versicherte schwer zu rechtfertigende Nachteile mit sich bringen. Wiederum andere Leistungsausschlüsse (etwa der Zuschuss für Brillen) erscheinen unter dem Gesichtspunkt der Notwendigkeit generell als willkürlich und ungerechtfertigt.

Entscheidungen über Leistungsausschlüsse fallen aber nicht allein durch Gesetzesänderungen, sondern durch Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Erstattungsfähigkeit von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden. Dabei hat der GBA die im SGB V aufgeführten Anforderungen an die Eigenschaften von Leistungen zugrunde zu legen.

Zuzahlungen

Das GMG enthielt nicht nur eine Reihe von Leistungsausgrenzungen bzw. -einschränkungen, sondern nahm vor allem umfangreiche, im Wesentlichen noch heute geltende Änderungen an den Zuzahlungsbestimmungen in der GKV vor. Mit dieser Reform wurden neue Zuzahlungen eingeführt (Praxisgebühr - bereits wieder abgeschafft, häusliche Krankenpflege) und bestehende Zuzahlungen – zum Teil drastisch – erhöht. Sie orientieren sich seither an dem Richtwert von zehn Prozent der Kosten, wobei für jede einzelne Leistung mindestens fünf Euro (aber maximal der jeweilige Preis) und höchstens zehn Euro zuzuzahlen sind. Die im Jahr 2014 geltenden Zuzahlungsregelungen gehen aus der folgenden Tabelle hervor:

Zuzahlungen zu GKV-Leistungen im Jahr 2016

BereichZuzahlungGrenzen/Ausnahmen
Arznei- und Verbandmittel 10 % der Kostenmindestens 5 Euro, höchstens 10 Euro, nicht mehr als die Kosten des Mittels
Fahrkosten1pro Fahrt 10 % der Kostenmindestens 5 Euro, höchstens 10 Euro
Häusliche Krankenpflege
(max. 28 Tage im Jahr)
10 % der Kosten des Mittels zuzüglich 10 Euro je Verordnung10 % der Kosten des Mittels zuzüglich 10 Euro je Verordnung
Haushaltshilfe 10 % der kalendertäglichen Kostenmindestens 5 Euro, höchstens 10 Euro
Heilmittel 10 % der Kosten des Mittels zuzüglich 10 Euro je Verordnung
Hilfsmittel 10 % für jedes Mittelmindestens 5 Euro, höchstens 10 Euro, nicht mehr als die Kosten des Mittels, Ausnahme: Hilfsmittel, die zum Verbrauch bestimmt sind: 10 % je Verbrauchseinheit, maximal 10 Euro pro Monat
Krankenhausbehandlung 10,00 Euro pro Kalendertagmaximal 28 Tage pro Kalenderjahr
Stationäre Vorsorge 10,00 Euro pro Kalendertag
Medizinsche Rehabilitation (ambulant und stationär) 10,00 Euro pro Kalendertagbei Anschlussrehabilitation begrenzt auf 28 Tage pro Kalenderjahr unter Anrechnung der Zuzahlung für Krankenhausbehandlung
Medizinische Rehabilitation für Mütter und Väter (pro Kalendertag) 10,00 Euro pro Kalendertag
Soziotherapie 10 % der kalendertäglichen Kostenmindestens 5 Euro, höchstens 10 Euro
Zahnersatz135 bis 50 %abhängig von den eigenen Bemühungen zur Gesunderhaltung der Zähne

Fußnote: 1 Kinder sind bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres generell von Zuzahlungen befreit, Ausnahmen: Fahrkosten und Zahnersatz.

Quelle: vdek 2016.

Gesetzliche Sozial- und Überforderungsklauseln begrenzen allerdings in gewissem Maße die Höhe der individuellen Zuzahlungen:

  • Der Höchstbetrag für Zuzahlungen ist für jeden Versicherten auf maximal 2 Prozent der Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt begrenzt (§ 62 SGB V). Die Bezugnahme auf die "Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt" bedeutet, dass bei der Berechnung der Belastungsgrenze nicht nur das individuelle Bruttoeinkommen aus abhängiger Arbeit, sondern auch andere Einkunftsarten (z.B. Mieteinnahmen) sowie die Einkünfte anderer Haushaltsmitglieder herangezogen werden. Der Versicherte muss das Erreichen der Belastungsgrenze gegenüber seiner Krankenkasse nachweisen und die Zuzahlungsbefreiung beantragen. Sind die Voraussetzungen erfüllt, so hat die Krankenkasse dem Versicherten eine entsprechende Bescheinigung auszustellen bzw. die zu viel gezahlten Zuzahlungen zu erstatten. Im Jahr 2015 waren aufgrund der 2-Prozent-Regelung gut 513.000 Versicherte von Zuzahlungen befreit .

  • Für chronisch Kranke, die wegen derselben schwerwiegenden Krankheit in Dauerbehandlung sind, gilt eine reduzierte Zuzahlungshöhe von maximal 1 Prozent der Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt (§ 62 SGB V). Auch chronisch Kranke müssen die Befreiung beantragen und entsprechende Nachweise liefern. Außerdem müssen sie die Dauerbehandlung gegenüber ihrer Krankenkasse jeweils spätestens nach dem Ablauf eines Kalenderjahres nachweisen. Im Jahr 2015 waren aufgrund dieser Regelung knapp 5,2 Millionen Versicherte von Zuzahlungen befreit . Für chronisch Kranke, die nach einem bestimmten Datum geboren sind, gilt hingegen eine Zuzahlungsgrenze von zwei Prozent, wenn sie an einer Krankheit leiden, für die das SGB V eine Früherkennungsuntersuchung vorsieht und sie an dieser Früherkennungsuntersuchung nicht regelmäßig teilgenommen haben oder sich nicht über die Teilnahme ärztlich haben beraten lassen. Als schwerwiegend chronisch krank gilt nach einer Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), wer regelmäßig wegen ein- und derselben schwerwiegenden chronischen Erkrankung in ärztlicher Behandlung ist und gleichzeitig mindestens eines der folgenden Kriterien erfüllt: Pflegebedürftigkeit der Pflegestufe 2 oder 3, Behinderungsgrad oder eine Erwerbsfähigkeitsminderung von mindestens 60 Prozent, notwendige kontinuierliche medizinische Versorgung, ohne die "eine lebensbedrohliche Verschlimmerung der Erkrankung, eine Verminderung der Lebenserwartung oder eine dauerhafte Beeinträchtigung der Lebensqualität" (G-BA 2011) durch diese Erkrankung droht.

  • Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren sind von Zuzahlungen vollständig befreit, außer bei der Versorgung mit Zahnersatz.

Mit dem GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) wurde 2004 die zuvor geltende vollständige Zuzahlungsbefreiung für sozial Schwache abgeschafft, also solche Personen, die eine bestimmte Bruttoeinkommensgrenze unterschreiten oder Empfänger bestimmter staatlicher Fürsorgeleistungen waren.

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Antwort a) ist richtig: Die Höhe von Zuzahlungen beträgt 10 Prozent der Kosten, in der Regel jedoch mindestens 5 und höchstens 10 Euro je Leistung.
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Antwort a) ist richtig: Die Höhe von Zuzahlungen beträgt 10 Prozent der Kosten, in der Regel jedoch mindestens 5 und höchstens 10 Euro je Leistung.

In den zurückliegenden Jahren hat der Gesetzgeber verstärkt versucht, das Instrument der Zuzahlungen zu flexibilisieren, um die Inanspruchnahme von Leistungen durch die Versicherten in die gewünschte Richtung zu lenken. So sind Zuzahlungsnachlässe u.a. möglich, wenn die Versicherten

  • regelmäßig an qualitätsgesicherten Maßnahmen der Primärprävention oder der betrieblichen Gesundheitsförderung teilnehmen;

  • regelmäßig bestimmte Maßnahmen der Krankheitsfrüherkennung in Anspruch nehmen;

  • sich an der hausarztzentrierten Versorgung, an integrierten Versorgungsformen oder an strukturierten Behandlungsprogrammen für chronisch Kranke (Disease Management Programme) beteiligen.

Ebenso kann bei der Abgabe von rabattierten Arzneimitteln die betreffende Zuzahlung reduziert oder aufgehoben werden. Allerdings ist die Ermäßigung von oder der Verzicht auf Zuzahlungen an die begründete Erwartung geknüpft, dass dadurch insgesamt Einsparungen erzielt werden.

Das Gesamtvolumen der Zuzahlungen zu GKV-Leistungen hat sich im Vergleich zu den frühen 1990er oder gar den frühen 1980er Jahren erhöht. Im Jahr 2015 belief sich die Summe der Zuzahlungen auf gut 3,8 Milliarden Euro (Tabelle), also knapp zwei Prozent der GKV-Leistungsausgaben in diesem Jahr und rund 75 Euro pro GKV-Mitglied und Jahr.

Zuzahlungen zu GKV-Leistungen im Jahr 2015

in Mio. Euro

LeistungZuzahlungsvolumen
Ärztliche Behandlung ---
Zahnärztliche Behandlung ---
Arznei-, Verband- und Heilmittel aus Apotheken 2153
Heil- und Hilfsmittel, Behandlung durch sonstige Heilpersonen 716
Krankenhausbehandlung 750
Überschuss der Aufwendungen/der Erträge des Strukturfonds 66
Empfängnisverhütung, Sterilisation, Schwangerschaftsabbruch 2
Vorsorge- und Rehabilitationsleistungen 75
Behandlungspflege, Häusliche Krankenpflege 50
Ergänzende Leistungen zur Rehabilitation 9
Summe 3821

Quelle: BMG 2016: 15.

Dabei gehen die tatsächlichen finanziellen Belastungen privater Haushalte durch Gesundheitsleistungen noch weit über die in der GKV-Statistik ausgewiesenen Zahlen hinaus:

  1. Zu den GKV-Zuzahlungen sind die so genannten Aufzahlungen zu addieren, also die privaten Zahlungen zu solchen Leistungen, für die das GKV-Leistungsrecht nur Festzuschüsse vorsieht und der Patient die Differenz zu den Gesamtkosten selbst tragen muss. Dies betrifft v.a. den Zahnersatz und die Hilfsmittel. Der Umfang dieser Aufzahlungen ist erheblich, lässt sich aber nicht genau beziffern, weil sie privat zwischen Patient und Arzt fließen. Zudem ist es bei diesen Leistungen häufig schwierig, eine klare Trennlinie zwischen notwendigem und nicht notwendigem Leistungsumfang zu ziehen.


  2. Die GKV-Zuzahlungsstatistik enthält nicht die Zahlungen für die so genannten individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL). Dies sind solche Leistungen, die der Arzt als privatärztliche Leistungen für Kassenpatienten erbringt und deren Kosten die Patienten daher vollständig privat tragen müssen. Seit Ende der 1990er Jahre haben Ärzte IGeL erheblich ausgeweitet. Im Jahr 2010 belief sich der Gesamtumfang des IGeL-Marktes schätzungsweise auf 1,5 Milliarden Euro .

Zuzahlungen werden überaus kontrovers diskutiert. Befürworter von Zuzahlungen argumentieren, dass damit ein gesundheitsbewusstes Verhalten und eine verantwortungsvolle Inanspruchnahme von Leistungen gefördert werde . Dass Zuzahlungen einen solchen Effekt haben, konnte bisher empirisch nicht nachgewiesen werden. Der vorliegende Wissensbestand über die Einflussfaktoren auf das Gesundheitsverhalten spricht vielmehr gegen diese Behauptung. Es deutet nichts daraufhin, dass gesundheitsschädliche Lebensgewohnheiten aus finanziellen Motiven aufgegeben werden, zumal das Eintreten einer Erkrankung als Folge solcher Handlungen ein lediglich mögliches Ereignis in der Zukunft ist. Hier wird im Hinblick auf die eigene Gesundheit ein Kosten-Nutzen- Kalkül unterstellt, das in der sozialen Realität nicht existiert.

Überdies unterliegt der vermutlich größte Teil der gesundheitsrelevanten Determinanten (Arbeits-, Umwelt- und soziale Lebensbedingungen) nicht oder kaum dem Einfluss der betroffenen Personen. Die Gefahr, dass Versicherte, die individuell nicht an ihren Behandlungskosten beteiligt werden, zu einer übermäßigen Inanspruchnahme von Leistungen neigten («moral hazard»), ist bei chronischen bzw. schweren Erkrankungen oder risikoreichen Operationen ohnehin nicht gegeben ; allenfalls könnte man sie bei Bagatellerkrankungen vermuten, aber auch hier ist die Inanspruchnahme von Leistungen in aller Regel mit Eingriffen in den Tagesablauf und anderen Unannehmlichkeiten verbunden . Was die Wirkung von Zuzahlungen auf die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen angeht, deuten empirische Untersuchungen darauf hin, dass sie vor allem dann Steuerungseffekte haben, wenn sie für die Patienten finanziell deutlich spürbar sind . In diesem Fall treffen sie aber insbesondere sozial schwache Bevölkerungsschichten und bergen darüber hinaus die Gefahr, dass medizinisch notwendige Behandlungen aus finanziellen Gründen unterbleiben oder verzögert werden. Aber auch ungeachtet dessen stellen Zuzahlungen eine Verletzung des Solidarprinzips dar, weil sie Kranke und vor allem chronisch Kranke finanziell überproportional belasten und im Ergebnis die paritätische Finanzierung von Krankenbehandlungskosten aushöhlen.

Ende 2012 fasste der Bundestag den einstimmigen Beschluss, die wichtigste dieser Zuzahlungen, die Praxisgebühr, zum 1.1.2013 abzuschaffen. In der Bundesregierung hatte sich die FDP für eine Abschaffung der Praxisgebühr stark gemacht. Die Oppositionsparteien hatten diesen Schritt ohnehin schon seit langem gefordert. In dem Umstand, dass auch die schwarz-gelbe Koalition sich zu diesem Schritt durchrang, ist allerdings kein Anzeichen für eine grundsätzliche ordnungspolitische Umkehr zu sehen. Die FDP durfte hoffen, sich die Abschaffung dieser unpopulären Zuzahlung zuschreiben zu können und damit ihre schlechten Umfragewerte zu verbessern. Zugleich hatte dieser Schritt einen klientelpolitischen Hintergrund, denn die Vertragsärzte hatten sich seit Einführung der Praxisgebühr immer wieder über den damit verbundenen bürokratischen Aufwand beklagt. Die gute Finanzlage der gesetzlichen Krankenversicherung erleichterte der Koalition den Abschied von der Praxisgebühr. Zudem wurde in der Diskussion von verschiedener Seite auch darauf hingewiesen, dass dieses die ihr zugedachte Steuerungsfunktion – die Verringerung der Arztbesuche – verfehlt habe. Dies lässt sich auch als Hinweis darauf interpretieren, dass der Vorwurf einer verbreiteten unnötigen Inanspruchnahme ärztlicher Behandlung durch GKV-Versicherte nicht haltbar ist.

Einschränkungen des Solidarprinzips

Welche Kriterien staatliche Sozialpolitik bei der Finanzierung und der Leistungsgewährung zugrunde legt, ist Produkt sozialer Auseinandersetzungen und darauf bezogener Handlungsstrategien. Wenn die GKV am Beginn dieses Jahrhunderts in hohem Maße am Solidarprinzip ausgerichtet ist, so ist dies Ausdruck der in diesem Prozess wirkenden Kräfteverhältnisse und der auf ihrer Grundlage getroffenen Entscheidungen. Die Frage, ob und inwiefern die Ausrichtung am Solidarprinzip weiter Bestand haben soll, wird dabei durchaus kontrovers diskutiert. Ihre Beantwortung ist aus gegenwärtiger Perspektive offen.

Der Solidarausgleich hat sich in den Nachkriegsjahrzehnten als ein bedeutsamer Orientierungspunkt in der Entwicklung der GKV herauskristallisiert. Allerdings haben sich dort bis in die Gegenwart immer auch Bestimmungen zur Finanzierung sowie zum Leistungs- und Organisationsrecht gehalten, die dem Solidarprinzip zuwiderlaufen. Darin kommt zum Ausdruck, dass es bei Sozialpolitik immer auch darum geht, bestimmte soziale Gruppen durch die Gewährung von Privilegien an den Staat und die von ihm geschaffene Sozialordnung zu binden . Seit Mitte der 1970er Jahre und insbesondere durch die Gesundheitsreformen seit der Jahrhundertwende haben sich die Tendenzen zur Aushöhlung des Solidarprinzips deutlich verstärkt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist seine Geltung in der GKV in erster Linie durch die nachfolgend genannten Merkmale eingeschränkt.

Die erwähnten Leistungsausgrenzungen und Zuzahlungen führen dazu, dass Kranke, insbesondere chronisch Kranke, überproportional mit Kosten belastet und die das Solidarprinzip kennzeichnenden Umverteilungsmechanismen geschwächt werden.

Die seit 2003 verabschiedeten Reformen (GMG, GKV-WSG, GKV-FinG) stellen eine Abkehr vom Grundsatz der paritätischen Beitragsfinanzierung als einem Kernelement des Solidarprinzips in der GKV dar. Der 2005 eingeführte Sonderbeitrag für die Versicherten in Höhe von 0,9 Prozentpunkten, die Einführung eines Zusatzbeitrags 2009 und dessen Erhöhung im Jahr 2011 mit der Option seiner unbegrenzten Ausweitung bei gleichzeitigem Einfrieren des Arbeitgeberbeitragssatzes verlagern die Finanzierungslasten aller künftigen Ausgabenüberhänge auf die Schultern der Versicherten. Mehr noch: Das GKV-FinG 2010 hat mit den erwähnten Bestimmungen die Tür zu einem vollständigen Umbau des GKV-Finanzierungssystems aufgestoßen.

Die seit 2007 allen Versicherten eingeräumte Option für monetäre Wahltarife begünstigt junge und gesunde Versicherte. Personen mit höherem Erkrankungsrisiko und chronisch Kranke dürften von diesen Angeboten keinen Gebrauch machen. Dem Solidarsystem werden durch die betreffenden Beitragsermäßigungen Mittel entzogen, die auf die Versichertengemeinschaft umgelegt werden müssen. Der Solidarausgleich wird damit geschwächt. Zugleich erhalten die Krankenkassen damit eine Option, Strategien der Risikoselektion zu verfolgen. Mit Selbstbehalt- und Beitragsrückerstattungsmodellen halten Prinzipien der privaten Krankenversicherung Einzug in die GKV.

Fussnoten

Fußnoten

  1. BMG 2016: 16.

  2. BMG 2016: 15.

  3. Zok 2010: 4, Schnell-Inderst/Hunger/Hintringer et al. 2011: 10, 19, 30.

  4. Z.B. Breyer/Zweifel/Kifmann 2005.

  5. Z.B. Braun/Kühn/Reiners 1999: 59ff.; Reiners 2011.

  6. Hajen/Paetow/Schumacher 2011.

  7. Z.B. von der Schulenburg 1987; von der Schulenburg/Greiner 2007.

  8. Mielck 2000: 240ff.; Klose/Schellschmidt 2001: 136f.

  9. Esping-Andersen 1990.

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Thomas Gerlinger für bpb.de

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Prof. Dr. Dr. Thomas Gerlinger ist Professor an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld, AG 1: Gesundheitssysteme, Gesundheitspolitik und Gesundheitssoziologie.