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Analyse: Historische Narrative und nationale Identität | Ukraine-Analysen | bpb.de

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Analyse: Historische Narrative und nationale Identität Der Zweite Weltkrieg in russischen und ukrainischen Geschichtslehrbüchern

Lina Klymenko

/ 10 Minuten zu lesen

Die postsowjetischen Staaten sind noch nicht sehr alt. Ihre nationale Identitäten und die Deutungen historischer Ereignisse entwickeln und verändern sich weiterhin. Dieser Beitrag analyisiert die Unterschiede zwischen den historischen Narrativen zur ukrainisch-russischen Beziehungsgeschichte in beiden Ländern.

In ukrainischen Geschichtsbüchern dominiert ein Leidens-Narrativ die Darstellung des Zweiten Weltkriegs. Im Mittelpunkt steht die ukrainische Bevölkerung und ihr Leiden unter zwei Besatzern - Russland und Nazi-Deutschland. Das Foto zeigt ukrainische Kinder 1941 in der Nähe von Charkow. (© picture-alliance/akg)

Einleitung

Seit dem Zerfall der Sowjetunion verfolgen die politischen Eliten der postsowjetischen Staaten verschiedene Ansätze zur Nationsbildung. Nationsbildung bedeutet, dass der Bevölkerung das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer nationalen Gemeinschaft gegeben werden soll, damit sich eine nationale Identität herausbildet. Der Prozess der Nationsbildung manifestiert sich in verschiedenen Maßnahmen wie der Förderung einer gemeinsamen Sprache, einer gemeinsamen Geschichte oder einer gemeinsamen Kultur. Wichtige Aspekte dieses Prozesses sind die Etablierung historischer Narrative und die Umdeutung historischer Ereignisse.

Die Rolle von Geschichtslehrbüchern bei der Formierung nationaler Identität

Eine gemeinsame Geschichte verleiht einer Gruppe das Gefühl, Gemeinsamkeiten zu teilen und sich von anderen Gruppen zu unterscheiden. Da dies im Sinne der politischen und gesellschaftlichen Eliten eines Staates ist, konstruieren diese häufig eine offizielle Version der nationalen Geschichte. Hierbei kommen bevorzugt historische Narrative zur Anwendung, d. h. es werden historische Ereignisse aus bestimmten Blickwinkeln betrachtet und die Bedeutung dieser Ereignisse für eine Gemeinschaft hervorgehoben. Zentral ist also die Wahrnehmung der historischen Ereignisse. Der Zweck konstruierter historischer Narrative ist dabei, Symbole und ideologische Orientierungen für Bevölkerungsgruppen zu vermitteln und politische Herrschaft zu legitimieren.

In der Etablierung historischer Narrative spielen Lehrbücher eine zentrale Rolle. Für den Schulunterricht zugelassene Geschichtslehrbücher sind in politische und institutionelle Rahmen eingebettet und werden von Historikern und Pädagogen im Auftrag des Staates verfasst und verbreitet. Damit sind sie politische Dokumente. Das Ziel offizieller Geschichtslehrbücher ist es, den Schüler/innen bestimmte Werte und das Gefühl einer nationalen Identität zu vermitteln. Entsprechend basieren sie auf den vom Staat bevorzugten historischen Narrativen und geben hierbei einerseits historische Erfahrungen der Bevölkerung wieder, andererseits interpretieren sie aber auch neu, um ein nationales Gedächtnis zu schaffen. Zudem stellen historische Narrative in Geschichtslehrbüchern eine eigene Diskursform dar: Die Hauptfiguren sind in einem bestimmten räumlichen und zeitlichen Rahmen agierende Menschen, und das Agieren dieser Menschen ist durch Sequenzen und Kausalitäten strukturiert.

Der Zweite Weltkrieg in postsowjetischen Geschichtslehrbüchern

In diesem Beitrag werden sechs Geschichtslehrbücher darauf hin untersucht, wie nationale historische Narrative zur Darstellung des Zweiten Weltkrieges verwendet werden. Auf ukrainischer Seite werden drei verschiedene Bücher mit dem Titel "Geschichte der Ukraine" betrachtet: eines von Pometun und Hupan (2011), eines von Kultschyzkyj und Lebedewa (2011) und eines von Turtschenko (2011). Die russische Version des Zweiten Weltkrieges wird anhand dreier unterschiedlicher Lehrbücher mit dem Titel "Geschichte Russlands" analysiert: eines von Lewandowskij et al. (2011), eines von Kiselew und Popow (2012) und eines von Wolobujew und Kuleschow (2010). All diese Lehrbücher wurden durch das Bildungsministerium des jeweiligen Landes für die 11. Klasse in allgemeinbildenden Schulen empfohlen.

In den genannten Büchern wird der Zweite Weltkrieg mittels vier verschiedener Narrative porträtiert: dem Narrativ der Gründung, dem Narrativ des Widerstands, dem Narrativ des Leidens und dem Narrativ der zivilisatorischen Mission. Kombinationen dieser Narrative erlauben es den Lehrbüchern, in der gewünschten Weise nationale Räume zu konstruieren, wichtige Ereignisse zu präsentieren und ausgewählte Akteure des Zweiten Weltkrieges vorzustellen (samt Kategorisierung in Helden oder Feinde). Die vier Narrative sind somit das zentrale Werkzeug, mit dem den Schüler/innen das Verständnis für nationale Zugehörigkeit vermittelt wird. Betrachtet man hierbei nur die ukrainischen oder nur die russischen Bücher, so fällt auf, dass die Lehrbücher den Zweiten Weltkrieg grundsätzlich ähnlich interpretieren, obwohl sie die Narrative in unterschiedlichem Umfang nutzen.

Das Narrativ der Gründung

Im Zusammenhang mit nationaler Geschichte bezieht sich ein Gründungsnarrativ auf eine neue politische, soziale oder wirtschaftliche Ordnung, die für eine Nation als wichtig empfunden wird. Das Narrativ befasst sich hierbei mit den Ereignissen, die den Anfang dieser neuen Ordnung markieren. Alle betrachteten Lehrbücher bringen den Molotow-Ribbentrop-Pakt und den Anfang des Zweiten Weltkrieges in Verbindung mit der Vereinigung des jeweiligen Nationalterritoriums und der nationalen Gemeinschaft. Allerdings unterscheiden sich die Lehrbücher in der Konzeption dieser beiden Begriffe.

Den russischen Lehrbüchern zufolge begann der Zweite Weltkrieg mit der Erweiterung der Grenzen der Sowjetunion. Der am 23. August 1939 geschlossene Molotow-Ribbentrop-Pakt und sein Geheimprotokoll werden als Chance für die sowjetische Führung unter Josef Stalin dargestellt: Sie konnte hierdurch die Grenzen des Staates verschieben und das militärische und wirtschaftliche Potenzial des Landes stärken. Die Bücher erzählen von der Integration der Westukraine und von West-Belarus in die Sowjetunion. Auch beschreiben sie, wie Estland, Lettland, Litauen, Bessarabien und die Nord-Bukowina sowie nach dem Winterkrieg auch Teile Finnlands unter Zwang in die Sowjetunion eingegliedert wurden. Auf diese Weise legen die russischen Lehrbücher nahe, das ehemals sowjetische Territorium mit dem Nationalterritorium Russlands zu identifizieren und das sowjetische Volk (bzw. die sowjetischen Völker) mit der russischen Nationalgemeinschaft gleichzusetzen.

Die ukrainischen Lehrbücher beschreiben den Molotow-Ribbentrop-Pakt und das Geheimprotokoll einerseits als Ausdruck totalitärer Herrschaft des nationalsozialistischen Deutschlands und der stalinistischen Sowjetunion, andererseits aber auch als Auftakt zur Vereinigung des ukrainischen Nationalterritoriums. Sie konzentrieren sich auf den Einmarsch der Roten Armee in Polen und die darauffolgende Eingliederung der Westukraine in die Ukrainische SSR. Behandelt wird zudem die spätere Integration Bessarabiens und der Nord-Bukowina in die Sowjet-Ukraine. Für die Lehrbücher führte all dies zur Vereinigung der west- und ostukrainischen Bevölkerung und damit zur Geburt der heutigen ukrainischen Nation.

Das Narrativ des Widerstands

Ein Widerstandsnarrativ soll die Mitglieder einer nationalen Gemeinschaft vereinigen, indem es sie als eine Kollektivität darstellt, die heroisch gegen den identifizierten Feind kämpfte und gewann. In allen untersuchten Lehrbüchern besteht das Widerstandsnarrativ aus dem gemeinsamen Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland. Unterschiede zwischen den Büchern bestehen jedoch hinsichtlich der Kategorisierung der kämpfenden Helden, ihrer Verbündeten und der Feinde.

Die russischen Lehrbücher betonen den Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 und definieren ihn als Beginn einer zweiten Zeitrechnung: des Großen Vaterländischen Krieges. Sie setzen die Sowjetunion mit Russland gleich, indem die Sowjetunion als russisches Nationalterritorium und die Rote Armee als russische Armee dargestellt werden. Die Lehrbücher erörtern zahlreiche Schlachten, z. B. in und um die sowjetischen Städte Brest, Odessa, Sewastopol, Kiew oder Smolensk. Die Schlachten um Moskau, Stalingrad und Kursk werden besonders hervorgehoben. Speziell thematisiert wird die Befreiung von Belarus und der Ukraine von der deutschen Besatzung. Der Kampf der Sowjetunion gegen Nazi-Deutschland wird als gemeinsamer Kampf des sowjetischen Volkes (bzw. der sowjetischen Völker) dargestellt, wobei insbesondere die Rote Armee, die sowjetischen Partisanen und die gesamte sowjetische Zivilbevölkerung gemeint sind. Repressionen durch die Rote Armee und Deportationen ethnischer Gruppen werden kurz erwähnt. Auf der Gegenseite, als Feinde, stehen die Nazi-Deutschen und ihre Kollaborateure. Lewandowskij et al. (2011) erwähnen in diesem Zusammenhang explizit die Organisation der Ukrainischen Nationalisten um Stepan Bandera (OUN-B) und zählen sie zu den Feinden. In der Summe wird den Schüler/innen vermittelt, der Widerstand gegen Nazi-Deutschland sei das gemeinsame Werk aller ehemaligen sowjetischen Völker.

Die ukrainischen Lehrbücher betonen ebenfalls den Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion, und auch sie bezeichnen den daraus entstandenen Krieg als Großen Vaterländischen Krieg. Jedoch fokussieren die Bücher auf das heutige ukrainische Territorium. Lediglich Kultschyzkyj und Lebedewa (2011) erwähnen außerdem die Schlacht um Moskau. Die Assoziation mit dem ukrainischen Nationalterritorium wird hergestellt, indem zahlreiche Schlachten auf diesem Gebiet – z. B. in und um die Dubno–Luzk–Riwne-Linie, Odessa, Sewastopol und Kiew – sowie die Befreiung aller ukrainischen Siedlungen beschrieben werden. Dabei identifizieren die Lehrbücher das ukrainische Volk als den Hauptakteur, repräsentiert durch die ukrainischen Soldaten in der Roten Armee, den ukrainischen Teil der sowjetischen Partisanen und die ukrainische Zivilbevölkerung. Das ukrainische Volk wird somit als nationale Einheit dargestellt, in der die Mitglieder geschlossen gegen den Feind kämpfen. Als Feind definieren die ukrainischen Lehrbücher hierbei nicht nur das nationalsozialistische Deutschland, sondern auch das sowjetische Regime. Entsprechend präsentieren alle ukrainischen Lehrbücher die OUN-B um Stepan Bandera und die Ukrainische Aufstandsarmee (UPA) als Kämpfer für die ukrainische Unabhängigkeit. Zudem heben sie hervor, dass die OUN-B am 30. Juni 1941 in Lwiw einen unabhängigen ukrainischen Staat ausrief. Allerdings sprechen die Bücher auch die Zusammenarbeit der OUN-B mit Nazi-Deutschland an. Zu bemerken ist außerdem, dass das Lehrbuch von Kultschyzkyj und Lebedewa (2011) nur sehr wenige Informationen über die OUN und die UPA bietet.

Das Narrativ des Leidens

Ein Leidensnarrativ fungiert zumeist als Aufruf, die moralische Überlegenheit einer Nation anzuerkennen und damit ihr Leid zu kompensieren. Dieses Narrativ findet sich in allen untersuchten Geschichtslehrbüchern, und es bezieht sich stets auf das Leid der nationalen Gruppen während des Zweiten Weltkrieges. In den ukrainischen Lehrbüchern stellt das Leidensnarrativ ein wichtiges Merkmal der Darstellung des Zweiten Weltkrieges dar, während es in den russischen Lehrbüchern nur sehr schwach ausgeprägt ist.

In den russischen Lehrbüchern umfasst das Narrativ des Leidens Beschreibungen, wie das sowjetische Volk und bestimmte ethnische Gruppen (auch Juden) unter der deutschen Besatzung litten und vernichtet wurden. Wolobujew und Kuleschow (2010) befassen sich detaillierter mit diesem Punkt. Erwähnt wird auch das Leid der russischen Bevölkerung während der Belagerung von Leningrad. Allerdings wird das Leiden der sowjetischen Bevölkerung von den russischen Lehrbüchern zwar beschrieben, häufig aber als notwendiges und heldenhaftes Opfer für den Sieg über Nazi-Deutschland dargestellt. Die Bücher schneiden ebenfalls kurz stalinistische Repressionen in der Roten Armee und das Leiden der sowjetischen Zivilbevölkerung unter der repressiven sowjetischen Politik an. Wolobujew und Kuleschow (2010) gehen detaillierter auf diesen Punkt ein.

In den ukrainischen Lehrbüchern bezieht sich das Leidensnarrativ auf die ukrainische Bevölkerung. Hier nimmt dieses Narrativ eine zentrale Rolle in der Darstellung des Zweiten Weltkrieges ein, und es umfasst das Leiden unter gleich zwei Regimes: dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus. Es wird betont, das ukrainische Volk habe zu Beginn des Zweiten Weltkrieges in keiner Weise über sein eigenes Schicksal entscheiden können. Die Lehrbücher beschreiben zudem, wie die ukrainische Bevölkerung und bestimmte ethnische Gruppen (auch Juden) unter der Besatzung Nazi-Deutschlands auf dem ukrainischen Territorium litten und vernichtet wurden. Das Leid des ukrainischen Volkes wird ausführlich dargestellt: Die Bevölkerung der Westukraine litt nach ihrer Eingliederung in die Sowjetunion und nach ihrer Befreiung durch die Rote Armee unter der Re-Sowjetisierung. Die ukrainischen Soldaten der Roten Armee litten ebenso unter der sowjetischen Führung. Insgesamt wirkt das Leidensnarrativ als moralischer Aufruf an die europäische Gemeinschaft, das gemeinsame Leiden der ukrainischen Bevölkerung und damit die ukrainische Bevölkerung als nationale Gemeinschaft anzuerkennen. Zudem baut es Distanz zu der mit Russland geteilten sowjetischen Geschichte auf, indem das sowjetische Regime explizit verurteilt wird.

Das Narrativ der zivilisatorischen Mission

Ein Narrativ zivilisatorischer Mission vermittelt den Beitrag einer Nation zu einem gewünschten (internationalen) Gesellschaftszustand. Es dient als Aufruf an andere Völker, die kulturelle und moralische Überlegenheit einer Nation anzuerkennen. Dieses Narrativ ist in allen untersuchten russischen Lehrbüchern, aber nur in einem der untersuchten ukrainischen Lehrbücher zu finden.

Die russischen Lehrbücher stellen die militärischen Aktionen der Roten Armee in Europa als zivilisatorische Mission dar. Sie beschreiben die Befreiung Rumäniens, Bulgariens, Polens, Ungarns, Österreichs und Jugoslawiens durch die Rote Armee und insbesondere die Kapitulation Nazi-Deutschlands. Hierbei wird der 9. Mai 1945 als Tag des Sieges der Sowjetunion über das nationalsozialistische Deutschland hervorgehoben. Dieser Teil des Narrativs dient als moralischer Aufruf, die Leistungen der russischen Nation zur Rettung Europas anzuerkennen. Ferner schildern die Bücher die Beziehungen der Sowjetunion zu den Alliierten, den Krieg der Sowjetunion gegen Japan, dessen Kapitulation am 2. September 1945 und das Ende des Zweiten Weltkrieges sowie schließlich die Eingliederung fernöstlicher Territorien in die Sowjetunion und ihren gewachsenen Einfluss in dieser Region. Hierdurch wird die Sowjetunion als Weltmacht dargestellt und dazu aufgerufen, das heutige Russland als Nachfolger der Sowjetunion und als den westlichen Ländern gleichberechtigt zu betrachten.

Zwei der analysierten ukrainischen Lehrbücher beschreiben die militärischen Aktionen der Roten Armee in Europa überhaupt nicht. Einzig das Buch von Kultschyzkyj und Lebedewa (2011) schildert diesen Punkt und betont die Leistung des ukrainischen Volkes und der anderen Völker der Sowjetunion (einschließlich der russischen und belarussischen Bevölkerung). Alle Lehrbücher jedoch heben die Kapitulation Nazi-Deutschlands und den Tag des Sieges hervor, und sie betonen den materiellen und technischen Beitrag des ukrainischen Volkes zum Sieg. Somit dient das Narrativ hier hauptsächlich als Aufruf, die Leistung der ukrainischen Bevölkerung zur Rettung der europäischen Gemeinschaft anzuerkennen.

Fazit

Dieser Beitrag vermittelt ein Grundverständnis davon, welche Bedeutung der Zweite Weltkrieg in den heutigen postsowjetischen Ländern für die Konstruktion nationaler Zugehörigkeit besitzt. Wie die Untersuchung der Geschichtslehrbücher ergibt, schließt die Formierung nationaler Identität nicht nur die heutigen Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine ein, sondern auch ihre Beziehungen zu den europäischen bzw. zu den westlichen Ländern insgesamt. Die Analyse der historischen Narrative deckt hierbei auf, wie stark sich die Vorstellungen über das Nationalterritorium und die Nationalgemeinschaft zwischen Russland und der Ukraine unterscheiden.

Zudem zeigt die Analyse, dass die russischen Lehrbücher insbesondere ein Narrativ der zivilisatorischen Mission, die ukrainischen Bücher vor allem ein Narrativ des Leidens verwenden. Hierdurch porträtieren die russischen Bücher den Zweiten Weltkrieg als heroisches Ereignis, das die Sowjetunion (bzw. Russland) zur Großmacht erhob, und legitimieren dadurch die Teilnahme Russlands an der Weltpolitik. Die ukrainischen Lehrbücher dagegen stellen den Krieg als tragisches Ereignis dar und betonen die dramatische Lage des ukrainischen Volkes zwischen zwei totalitären Regimes, wodurch sie das Recht des ukrainischen Volkes auf einen eigenen Nationalstaat hervorheben.

Aufgrund seiner Kürze diskutiert dieser Beitrag einige Aspekte der Narrative nicht – beispielsweise die Argumentationsstrategien in der Darstellung historischer Figuren und ihrer Motive, die sprachlichen Besonderheiten des Diskurses oder die didaktischen Mittel der Geschichtsvermittlung. Zudem kann hier nicht dargelegt werden, wie kontrovers einige Interpretationen der historischen Figuren und Ereignisse in den Lehrbüchern sind. Schließlich wird in diesem Beitrag auch nicht auf die Frage eingegangen, inwiefern sich die Schüler/innen die Ideen der Lehrbücher auch zu eigen machen, da hierbei neben der Ausgestaltung des Schulunterrichts auch das familiäre Umfeld und die Medien eine wesentliche Rolle spielen.

Lesetipps

  • Myeshkov, Dmytro: Die Geschichtspolitik in der Ukraine seit dem Machtwechsel im Frühjahr 2014, in: Ukraine-Analysen Nr. 149 vom 15.04.2015, http://www.laender-analysen.de/ukraine/pdf/UkraineAnalysen149.pdf

  • Myshlovska, Oksana, Andre Liebich: Stepan Banderas Nachleben wird gefeiert, in: Ukraine-Analysen Nr. 140 vom 5.11.2014, http://www.laender-analysen.de/ukraine/pdf/UkraineAnalysen140.pdf

  • Simon, Gerhard: "Ukrainisierung: Krise und Krieg führen das Land zusammen", in: Ukraine-Analysen Nr. 135 vom 24.06.2014, http://www.laender-analysen.de/ukraine/pdf/UkraineAnalysen135.pdf

Fussnoten

Lina Klymenko promovierte an der Universität Wien in Politikwissenschaft und forscht heute als Postdoktorandin am Karelischen Institut der Universität Ostfinnlands (Itä-Suomen Yliopisto). Die Schwerpunkte ihrer Arbeit sind Erinnerungspolitik und Politik der nationalen Identität in postsowjetischen Ländern. Für mehr Informationen siehe Externer Link: http://www2.uef.fi/en/ktl/lina_klymenko.
Dieser Beitrag entstand in Anlehnung an: Klymenko, Lina, 2016. Narrating the Second World War: History Textbooks and Nation-Building in Belarus, Russia, and Ukraine. Journal of Educational Media, Memory, and Society (im Druck).