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Kommentar: Das Fehlen einer Strategie wird sich rächen | Ukraine-Analysen | bpb.de

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Kommentar: Das Fehlen einer Strategie wird sich rächen

Susan Stewart

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Selenskyj übernahm zu einem Zeitpunkt, an dem sein Land in großen Schwierigkeiten steckte. Zahlreiche Reformprozesse waren ins Stocken geraten, der Minsker Prozess war zum Stillstand gekommen. Bald zeigte sich, dass Selenskyj stärker auf Personen als auf Institutionen setzt. Als Folge dessen herrscht im Regierungsapparat ein hoher Grad an politischer Unerfahrenheit.

Der damalige ukrainische Premierminister Oleksiy Honcharuk bei einer Pressekonferenz im März 2020. Honcharuk musste sein Amt recht schnell auf Bestreben des Präsidentenbüros wieder verlassen. (© picture-alliance, Photoshot)

Sicherlich hat Wolodymyr Selenskyj das Ruder zu einem Zeitpunkt übernommen, zu dem sein Land in großen Schwierigkeiten steckte. Zahlreiche der seit 2014 angelaufenen Reformprozesse waren ins Stocken geraten, und der Minsker Prozess, der die territoriale Integrität der Ukraine zumindest im Donbas wiederherstellen sollte, war zum Stillstand gekommen.

Bald zeigte sich, dass Selenskyj stärker auf Personen als auf Institutionen setzt, um diese Probleme anzugehen. Wie in seiner TV-Serie "Diener des Volkes" hievte er zahlreiche Personen in hohe Ämter, die er aus seinem früheren Leben kennt. Deswegen herrscht im Regierungsapparat ein hoher Grad an politischer Unerfahrenheit und dominieren persönliche Netzwerke über institutionelle Strukturen. Dies stellt zwar keine grundlegend neue Situation für die Ukraine dar. Dennoch hatten viele die Hoffnung mit Selenskyj verknüpft, dass er alte Gegebenheiten beseitigen und die Rolle existierender Seilschaften erheblich reduzieren würde.

Ein weiteres Phänomen, das in der ukrainischen Politik mehr als bekannt ist: Der Präsident verlangt schnelle Ergebnisse, statt auf eine langfristige Strategie zu setzen. Bei Selenskyj führt das unter anderem zu problematischen personellen Entscheidungen, zum Beispiel im Fall von Premierminister Olexij Hontscharuk, der auf Bestreben des Präsidentenbüros gehen musste, was den Rücktritt einiger reformorientierter Minister/innen nach sich zog. Es war zwar zu früh, um endgültige Schlussfolgerungen über die Leistungen seiner Regierung zu ziehen, aber viele seriöse Beobachter/innen im In- und Ausland attestierten ihr einen sinnvollen Ansatz, was die meisten Reformprozesse betrifft. Die Auswahl der neuen Minister/innen erfolgte hektisch und mündete zum Teil in eklatante Fehlbesetzungen, die nach einem Monat wieder aufgekündigt wurden. Der (gescheiterte) anschließende Versuch Selenskyjs, den in Politik und Bevölkerung umstrittenen ehemaligen georgischen Präsidenten Micheil Saakaschwili in die Regierung zu katapultieren, zeugt von einem chaotischen, unüberlegten Verhalten bei der Auswahl von Schlüsselfiguren.

In Bezug auf den Donbas gab es einige Anfangserfolge, wie den mehrfachen Austausch von Gefangenen, den Bau einer neuen Brücke beim Übergang in Stanyzja Luhanska oder die (kontroverse) Truppenentflechtung in drei Ortschaften. Es gab auch mehrere bilaterale Gespräche zwischen Selenskyj und Putin sowie ein Gipfeltreffen im Normandie-Format im Dezember 2019. Selenskyj und sein Team scheinen davon ausgegangen zu sein, dass diese Schritte sich steigern ließen. Ohne Änderung der russischen Haltung wird es allerdings unmöglich sein, substanziellere Fortschritte zu erreichen. Auch in Pandemie-Zeiten gibt es keine Anzeichen für eine Aufweichung der russischen Position. Und innerhalb der Ukraine werden weitere als Konzessionen wahrgenommene Handlungen auf erheblichen politischen und gesellschaftlichen Widerstand stoßen.

Statt konsequent auf eine Besserung der humanitären Lage zumindest in den von der Ukraine kontrollierten Territorien zu setzen, investieren Selenskyj und sein Team (vor allem sein Bürochef Andrij Jermak) viel Zeit und Energie in Verhandlungen und neue Vorschläge, obwohl kaum zu erwarten ist, dass die russische Seite ihnen entgegenkommt. Eine Strategie scheint es hier nicht zu geben, höchstens eine Kette von Ad-hoc-Schritten, die zwar die Avancen der ukrainischen Seite deutlich machen, aber das Ziel, Frieden herzustellen, höchstwahrscheinlich verfehlen werden, da dieser nicht im russischen Interesse liegt.

Was die Außenpolitik angeht, muss man leider feststellen, dass die innenpolitischen Probleme dazu führen könnten, dass der Westen sich mittel- bis langfristig von der Ukraine abwendet. Dies könnte eher die EU als die USA betreffen, weil für letztere Sicherheitsfragen dominieren. Im Fall der EU (und auch des IWF) schaut man wesentlich genauer auf die Reformlage, die sich angesichts der oben geschilderten Personalpolitik und des personenbezogenen Ansatzes eher verschlechtern wird. Derzeit ist durchaus noch ein Interesse seitens Berlin, Paris sowie Brüssel auszumachen, sowohl im Rahmen des Normandie-Formats als auch im Hinblick auf die Umsetzung des umfangreichen Assoziierungsabkommens. Der neue Hohe Vertreter für die EU-Außenpolitik Josep Borrell hat die Absicht geäußert, einen Schwerpunkt auf die Ukraine zu legen. Dies könnte sich allerdings ändern, wenn die Leistungen der Ukraine in etlichen Reformbereichen weiterhin nachlassen.

Gleichzeitig scheint das Interesse auf ukrainischer Seite eher zu schwinden. Zwar hält man im Prinzip an der bisherigen Linie fest, die die Integration in die EU und NATO priorisiert. Aber der Wunsch in Kyjiw nach schnellen Ergebnissen passt nicht zum EU-Ansatz, der langfristig angelegt ist. Hinzu kommt, dass das ukrainische Außenministerium nun eine Art pivot to Asia angekündigt hat. Es ist unklar, inwiefern dies aufgehen wird, da hierfür eine langfristige Strategie entwickelt werden müsste. Potenziell könnte dies aber ein zurückgehendes Interesse an der EU bedeuten, da die außenpolitischen Ressourcen der Ukraine begrenzt sind und man aufgrund des existentiellen Sicherheitsinteresses kaum weniger in die Beziehungen zu den USA investieren wird.

Dass Selenskyj auf vertraute, aber unerfahrene Personen sowie auf schnelle Ergebnisse setzt, weist auf das Fehlen eines strategischen Ansatzes hin. Trotz eigener Ankündigungen, dass er nur eine Amtszeit anstrebe, scheint er jetzt doch auf seine Popularität in der Bevölkerung zu achten. Sein bisheriges Vorgehen reduziert allerdings die Wahrscheinlichkeit einer Wiederwahl. Ohne eine systematische Vorgehensweise wird er am Ende dieser Amtszeit höchstens mit punktuellen Erfolgen dastehen, ohne sein Land in essenziellen Bereichen nach vorne gebracht zu haben. Sein wenig durchdachtes Vorgehen schafft zudem ein fluktuierendes Umfeld mit weiterhin schwachen Institutionen, in dem etablierte Akteure (vor allem Oligarchen und ihre Netzwerke) zusätzliche Chancen erhalten, ihr durch die Reformen der letzten Jahre verlorenes Terrain zurückzugewinnen.

Fussnoten

Dr. Susan Stewart ist Leiterin der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Sie arbeitet zur Innen- und Außenpolitik der Ukraine und Russlands und zur Östlichen Partnerschaft der EU.