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Analyse: Eine Riesenverschuldung gegenüber den Erneuerbaren: Selenskyjs Energiepolitik könnte katastrophale Folgen für die Ukraine haben | Ukraine-Analysen | bpb.de

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Analyse: Eine Riesenverschuldung gegenüber den Erneuerbaren: Selenskyjs Energiepolitik könnte katastrophale Folgen für die Ukraine haben

Sergej Sumlenny Kyjiw) Sergej Sumlenny (Heinrich-Böll-Stiftung

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Der ukrainische Staat schuldet dem grünen Energiesektor knapp eine Milliarde Euro. Zur Jahreswende 2020/21 stand die Erneuerbare-Energien-Branche in der Ukraine vor dem Kollaps.

Der grüne Energiesektor steckt in der Krise. Das könnte Folgen für die ukrainische Wirtschaft insgesamt haben. (© picture-alliance)

Zusammenfassung

Der ukrainische Staat schuldet dem grünen Energiesektor knapp eine Milliarde Euro. Dies ist nicht nur eine Folge der Wirtschaftskrise und der Covid-19-Pandemie. Vor allem fehlt es an einer soliden Finanzplanung und die Personalpolitik der Regierung ist chaotisch. Sogar westliche Botschaften sahen sich gezwungen einzugreifen, bisher allerdings ohne Erfolg. Zur Jahreswende 2020/21 stand die ukrainische Erneuerbare-Energien-Branche vor dem Kollaps. Mehrere eigens für diesen Fall verabschiedete Gesetze wurden schlicht ignoriert. Weder die Einmischung westlicher Botschaften und der lautstarke Protest der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) noch Aufrufe der Zivilgesellschaft haben bisher Wirkung gezeigt. Diese Entwicklung könnte die ukrainische Energiereform endgültig zunichtemachen und Auslandsinvestitionen ein Ende bereiten: Dies könnte nicht nur erneuerbare Energien betreffen, sondern die ukrainische Wirtschaft insgesamt.

Eine vorprogrammierte Riesenverschuldung?

Die Energiewende und der Ausbau von erneuerbaren Energien wurde schon in den ersten Jahren der Präsidentschaft Petro Poroschenkos zu einer der prioritären Entwicklungsrichtungen des ukrainischen Energiesektors erklärt. Unter anderem war die Reduzierung der ukrainischen Abhängigkeit von Energieimporten (was immer als "Energieunabhängigkeit von Russland" zu verstehen war) eine treibende Kraft dieser Reform. Weitere wichtige Ziele der Reform waren auch, die Oligarchen schrittweise zu schwächen und die Attraktivität der ukrainischen Energiewirtschaft für ausländische Investoren zu steigern. Aber schon in den Jahren 2016 und 2017 war klar, dass die Abnahmepreise für Strom aus Wind- und Solaranlagen sehr hoch sind und damit eine Last für den Staatshaushalt darstellen. So war zum Beispiel der Abnahmepreis, der im Beschluss des nationalen Ausschusses für staatliche Regulierung in den Bereichen Energie und Kommunaldienstleistungen vom 29. Dezember 2015 festgelegt wurde, für die meisten Windkraftanlagen ca. 2,87 Hrywnja (ca. 0,11 €) pro Kilowattstunde. Der Abnahmepreis für viele Solaranlagen wurde auf knapp 12 Hrywnja pro Kilowattstunde (ca. 0,46 €) festgelegt. Im Sommer 2018 betrug der Stromabnahmepreis für viele Solaranlagen schon knapp über 15 Hrywnja (ca. 0,48 €) pro Kilowattstunde. Trotzdem waren diese Preise berechtigt, da die Investitionsattraktivität des vom Krieg und politischen Turbulenzen stark angeschlagenen Landes sehr niedrig war und viele Risiken abgesichert werden mussten. Denn zu Beginn der russischen Invasion wurden große Windkraftanlagen in der Region Donezk und Solaranlagen auf der Krim entweder zerstört oder enteignet.

Im Jahr 2017 verabschiedete das ukrainische Parlament ein Gesetz über den Elektrizitätsmarkt, um die Abnahme des Stroms zu regulieren, der von Windkraft- und Solaranlagen generiert wird. Das Gesetz sah eine gesonderte Gruppe von Energieherstellern vor, welche ihren Strom nach dem sogenannten "Grünen Tarif" absetzen durften. Es handelte sich dabei um Energiehersteller, welche erneuerbare Energien, vor allem Solar- und Windenergie, produzieren und diese mit garantierten Preisen (vergleichbar zum EEG in Deutschland) verkaufen durften. Im April 2019 verabschiedete die Rada eine Novelle des Gesetzes. Für den zentralisierten Einkauf des "grünen Stroms" sollte ein staatseigener Betrieb gegründet werden, der als "Garantierter Abnehmer" (Garantowanyj Pokupez, GarPok ) dienen sollte. Dieser wurde schließlich im Mai 2019 gegründet und nahm ab dem 01. Juli 2019 seine Arbeit auf. Der "Garantierte Abnehmer" sollte nicht nur bei den Solar- und Windparks, sondern auch bei Atom- und Wasserkraftwerken Strom einkaufen und diesen weiter in die Netze einspeisen. Binnen der ersten sechs Monate 2019 kaufte der "Garantierte Abnehmer" 3,1 Gigawattstunden Strom aus erneuerbaren Energien zu einem Gesamtpreis von 15,8 Milliarden Hrywnja (ca. 531 Millionen €). Anfang 2020 ging der "Garantierte Abnehmer" bereits davon aus, dass im Jahr 2020 zwischen neun und zwölf Gigawattstunden des grünen Stroms mit einem Gesamtpreis von 46 bis 58 Milliarden Hrywnja (1,7 bis 2,2 Milliarden €) produziert werden. Diesen Strom, so die Überlegung, könnte der staatseigene Betrieb dann für 19 bis 24 Milliarden Hrywnja (0,72 bis 0,9 Milliarden €) auf dem freien Markt weiterverkaufen. Effektiv hätte dies bedeutet, dass in der Bilanz des Unternehmens eine rote Zahl zwischen 27 und 34 Milliarden Hrywnja (1,02 und 1,29 Milliarden €) entstanden wäre. Nur ein kleiner Teil von diesem Verlust konnte der Betrieb aus anderen Einnahmequellen kompensieren. Den Großteil sollte der ukrainische Netzbetreiber Ukrenergo erstatten. Grundlage dafür ist das Gesetz über den Elektrizitätsmarkt. Dabei schuldete Ukrenergo dem "Garantierten Abnehmer" schon Ende Februar 2020 2,5 Milliarden Hrywnja (92 Millionen €), bis zum 20. Februar waren es bereits 1,9 Milliarden (70 Millionen €).

Regierungschaos unter Selenskyjs Führung schadet dem Energiesektor

Die Lage verschlechterte sich im Laufe des Jahres 2020 dramatisch. Die sinkenden Wirtschaftszahlen – zum Teil aufgrund der Covid-19-Pandemie, zum Teil aber auch aufgrund der Misswirtschaft der Regierung Selenskyj – führten dazu, dass die Verschuldung des "Garantierten Abnehmers" gegenüber den Energieunternehmen aus dem Bereich der erneuerbaren Energien im Mai 2020 die Summe von 14 Milliarden Hrywnja (480 Millionen €) erreicht hatte. Während der ersten zwei Quartale des Jahres 2020 sank das ukrainische BIP um je 3,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Im dritten Quartal sank das BIP sogar um 5,3 Prozent. Präsident Selenskyj und seine Regierung zeigten sich infolge der schlechten Wirtschaftsdaten immer weniger bereit, die Energiereform voranzutreiben. Während in der angeblich reformorientierten Regierung des Ministerpräsidenten Hontscharuk das progressive Ministerium für Energie und Umweltschutz durch den modernen Olexij Orschel und vor allem seinen Stellvertretenden Minister Olexij Rjabtschin (ein ehemaliger Abgeordneter des Parlaments und überzeugter Befürworter der erneuerbaren Energien) sowie die Stellvertretende Ministerin Iryna Stawtschuk (die ehemalige Geschäftsführerin der führenden ukrainischen Umwelt-NGO "Ecodiya") die Reform vorantrieb, kam es schon im März 2020 zu tektonischen Änderungen. Der Umweltschutz wurde aus den Zielen des Ministeriums gestrichen. Die Aufgaben des Ministeriums liegen nun ausschließlich im Bereich Energie. Die beiden progressiven Stellvertreter*innen Rjabtschin und Stawtschuk wurden entlassen, seit März 2020 gaben sich vier Minister*innen die Klinke in die Hand. Zwei von ihnen kamen aus den Chefetagen der größten Kohlekonzerne DTEK und Donetzkwugillja.

Diese politischen Veränderungen hatten unmittelbare Folgen für die Energiewende: Die erneuerbaren Energien fielen den Interessen von Herstellern fossiler Energien zum Opfer. Ende Mai 2020 veröffentlichte die Regierung Schmyhal ihre Strategie zur Wirtschaftsbelebung nach der Covid-19-Krise. Alle Maßnahmen wurden auf vier Prioritätsgruppen verteilt. Für den Bereich Industrie bekam die Maßnahme "Unzulässigkeit der Festsetzung von ambitionierten Zielen zur Reduktion von CO2-Emmissionen" die höchste Priorität. Im Bereich Energie wurde festgelegt, dass die lieferbaren Strommengen aus erneuerbaren Energien aufgrund von Schwankungen zu instabil sind. Die energetische Unabhängigkeit der Ukraine könne erreicht werden, indem die eigenen Gasfördermengen erhöht und Kohlekraftwerke so umgebaut werden, dass ukrainische und nicht importierte Kohle verbrannt werden kann. Der Senkung von Besteuerungen und Pachtgebühren für Ölförderung und Fracking-Gas und Fracking-Öl wurde dabei höchste Priorität beigemessen.

Schon Anfang Juni 2020 erreichte die Verschuldung des "Garantierten Abnehmers" insgesamt 20 Milliarden Hrywnja (480 Millionen €), 14 davon waren Schulden an den Erneuerbare Energien-Sektor. Die neue (dritte seit Anfang des Jahres) Energieministerin Olha Buslawjetz äußerte sich am 05. Juni über die Situation. Sie versprach, dass der frisch ernannte Chef des "Zentrenergo"-Energiekonzerns Oleksandr Kortschynsky, welcher erst seit 29. Mai im Amt war, eine Woche brauchen würde, damit er "seine Sicht über die Situation mitteilen könnte". Innerhalb der darauffolgenden Woche wuchs die Unzufriedenheit der Energiehersteller. So unterzeichneten die ukrainische Regierung und die Assoziation der Stromhersteller aus erneuerbaren Energien am 10. Juni ein "Memorandum über die Verständigung zur Frage der Regulierung von Problemen im Bereich der erneuerbaren Energien". Das Memorandum sah unter anderem vor, dass:

  • der "Garantierte Abnehmer" den abgenommenen Strom ab sofort rechtzeitig bezahlt

  • die schon existierende Verschuldung schrittweise abgebaut wird, und zwar 40 Prozent der Verschuldung im vierten Quartal 2020 und danach je 15 Prozent pro Quartal

  • die Abnahmequoten für den grünen Strom bestätigt werden

  • die Verluste der Energiehersteller aufgrund der Herstellungsdrosselungen, die der staatlicher Netzwerkbetreiber verlangt, erstattet werden

Das Memorandum wurde zur Grundlage eines am 21. Juli 2020 verabschiedeten Gesetzes 810-IX, welches de facto die Eckpunkte des Memorandums wiederholte, dafür aber keine praktischen Lösungen für dessen Umsetzung vorsah. Die fast automatisch entstehenden Verluste des "Garantierten Abnehmers" sollte "Ukrenergo" erstatten, welches aber ebenso keine Gelder dafür zur Verfügung hatte. Laut dem "Garantierten Abnehmer" erreichte der nicht erstattete Gesamtverlust des Unternehmens schon am 03. November 2020 23,35 Milliarden Hrywnja (701 Millionen €). Die einzige Möglichkeit, diese Summe zu erstatten, wäre eine Finanzspritze der Regierung gewesen, welche mit weiterer Staatsverschuldung hätte finanziert werden müsste. Doch schon am 02. November 2020 erklärte das Finanzministerium, dass es unmöglich wäre, Hrywnja-Staatsanleihen zum Zweck der Begleichung von Schulden gegenüber den Energieunternehmen zu platzieren, da dies die Staatsfinanzen aus dem Gleichgewicht bringen würde.

Nur wenige Unternehmen ziehen allerdings vor Gericht, um sich ihre Gelder vom ukrainischen Staat zurückzuholen. Inzwischen haben über 50 Unternehmen Klagen gegen den staatseigenen Betrieb "Garantierter Abnehmer" eingereicht. Die Summe der Verschuldung gegenüber den Klägern beläuft sich auf knapp über 600 Millionen Hrywnja (ca. 18 Millionen €). Das sind etwas unter drei Prozent der Gesamtverschuldung des Staates gegenüber der Branche. Viele Insider gehen davon aus, dass der Grund für das zögerliche Verhalten der Unternehmen der fehlende Glaube an die Wirksamkeit der Klagen vor den ukrainischen Gerichten ist. Einige Unternehmen könnten auch Klagen vor internationalen Gerichten einreichen. Laut ukrainischen Medien rieten die Botschaften von Kanada, Norwegen und Litauen potenziellen Investoren aus ihren Ländern von künftigen Investitionen in die Ukraine "aufgrund einer durch die Machthabenden geschaffene Finanzkrise im grünen Energiesektor sowie aufgrund des Drucks gegenüber den Investoren" ab.

Die Brisanz der Situation wurde schließlich Mitte November 2020 deutlich: Am 17. November wendeten sich die Botschafter*innen von 11 Ländern (Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Kanada, Niederlanden, Norwegen, Südkorea, Schweden und Türkei) in einem offenen Brief an den ukrainischen Premierminister Denys Schmyhal und forderten die Rückzahlung von Schulden an ausländische Investoren, wenn nötig auch über Hrywnja-notierte Staatsanleihen. Dieser beispiellose Schritt westlicher Diplomat*innen war zum Teil auch ein Akt der Verzweiflung. Die genannten Länder hatten in den letzten Jahren rund zwei Milliarden Euro in den ukrainischen Energiesektor investiert. Die Gesamthöhe der ausländischen Investitionen in die grünen Energien in der Ukraine beträgt über zehn Milliarden Euro. "Wenn die Investoren sich weder auf ukrainische Gesetze noch auf die Bereitschaft der Regierung, diesen Gesetzen Folge zu leisten, verlassen können", so das Dokument, so werde die Ukraine ihre Ziele für die Entwicklung von erneuerbaren Energien mit Sicherheit verfehlen. Für Olha Buslawjetz war dieser offene Brief aber nur noch von geringer Bedeutung. Sie wurde am 20. November durch Jurij Bojko ersetzt, der mittlerweile schon der vierte Energieminister innerhalb eines Jahres ist. (Der neue Minister Jurij Bojko ist lediglich ein Namensvetter des prorussischen Anführers der Partei "Opposizijna Platforma sa Schytja" (OPSSch) und dem Energie- und Kohleindustrieminister der Jahre 2010 bis 2012 Jurij Bojko). Bojko beerbte alle Probleme der Branche und gab sie schon wenige Wochen später an den fünften Energieminister innerhalb eines Jahres Jurij Witrenko weiter. Insgesamt verschlechterte sich die finanzielle Lage im Land, da der IWF der Ukraine die angeforderte Notfinanzierung verweigerte, die das Land am 29. November 2020 angefordert hatte.

Die Zeit der Appelle

Das Kaderkarussell der Energieminister*innen machte das Chaos nur noch schlimmer. Deswegen gründeten 25 Abgeordnete des ukrainischen Parlaments am 18. Dezember 2020 die überfraktionelle Abgeordnetengruppe "Saubere Energie", welche zum Zweck hat, den Abbau der Verschuldung gegenüber den Produzenten grüner Energie einzufordern. Dafür sollten Änderungen im Haushaltsgesetz vorgenommen werden. "Das Gesamtvolumen der Auslandsinvestitionen in die erneuerbaren Energien beträgt seit 2010 über 12 Milliarden US-Dollar, das ist fast ein Drittel aller Auslandsinvestitionen im Land", sagte der Ko-Vorsitzende der Gruppe, Olexij Hontscharenko, und betonte, dass 900 Unternehmen der Branche in diesem Zeitraum über 93 Milliarden Hrywnja (2,8 Milliarden €) Steuern bezahlt hatten. Er forderte die Regierung auf, die Verschuldung unverzüglich zu begleichen. Am 23. Dezember beauftragte Premierminister Schmyhal den kommissarischen Energieminister Jurij Witrenko binnen 10 Tagen Vorschläge zum Schuldenabbau vorzubereiten und diese dem Kabinett und dem Abgeordneten Hontscharenko vorzulegen.

Das Kabinett schlug Kreditgarantien in einer Höhe von bis zu 11,3 Milliarden Hrywnja (330 Millionen €) (also genau die Summe von 40 Prozent der Verschuldung, welche im vierten Quartal zu begleichen wäre) für das staatseigene "Ukrenergo", um keine Staatsanleihen zu platzieren und das Haushaltsgesetz nicht ändern zu müssen. Das Unternehmen sollte das Geld auf dem Markt aufnehmen und die, dem "Garantierten Abnehmer" laut Gesetz 810-IX zustehenden Summen überweisen, damit dieser seinerseits seine Schulden gegenüber den Stromproduzenten begleichen könnte. Am 30. Dezember 2020 schloss "Ukrenergo" Kreditverträge für jeweils fünf Milliarden Hrywnja (147 Millionen €), vier Milliarden Hrywnja (117 Millionen) und 1,25 Milliarden Hrywnja (36 Millionen) mit "Oschadbank", "Ukreksimbank" und "Ukrgazbank" ab. Die ersten zwei Banken gehören zu 100 Prozent der ukrainischen Regierung, die dritte Bank zu 94,94 Prozent. Die Zinsen für die Kredite betrugen 1,23 Milliarden Hrywnja (35 Millionen). Effektiv erstellte die ukrainische Regierung Bürgschaften für ein Unternehmen, welches der Regierung gehört, damit dieses Kredite mit 10 Prozent Effektivzins von drei Banken, welche ebenso der Regierung gehören, aufnehmen kann, um eine milliardenschwere Verschuldung gegenüber einem weiteren, der Regierung gehörenden Unternehmen zu begleichen. Diese Verschuldung entstand durch eine Gesetzeslücke, da das Gesetz über die Regulierung der Tätigkeit des "Garantierten Abnehmers" in Eile und ohne Regierungsberatungen und Haushaltsanpassungen verabschiedet worden war.

Doch die Bereitstellung dieser Kredite rettete die Lage nicht. Schon am 05. Januar 2021 veröffentlichte der nationale Ausschuss für staatliche Regulierung in den Bereichen Energie und Kommunaldienstleistungen (NKREKP) den Entwurf einer Verordnung, welche faktisch die Auszahlung der Verschuldung unmöglich machen würde. Dieser Ausschuss ist ein staatliches Organ, welches eine Aufsichtsfunktion u. a. über den "Garantierten Abnehmer" und "Ukrenergo" ausübt. Anstelle einer Auszahlung der Verschuldung gegenüber dem Erneuerbaren-Energie-Sektor würde der "Garantierte Abnehmer" dazu gezwungen werden, die von "Ukrenergo" erhaltene Summe für den Abbau anderer Schulden zu verwenden. Gemeint waren vor allem die Schulden gegenüber einem weiteren staatlichen Unternehmen "Energoatom", dem Betreiber aller ukrainischer Atomkraftwerke. Diesem schuldete der "Garantierte Abnehmer" knapp neun Milliarden Hrywnja (258 Millionen €). "Energoatom" gilt als Anbieter von "billigem" Strom, was vor allem deswegen wichtig war, um niedrigere Strompreise für die Bevölkerung zu ermöglichen (in der Ukraine sind die Strompreise für Privathaushalte deutlich niedrigerer als für die Industrie). Im Dezember 2020 mehrten sich in der Ukraine Proteste gegen steigende Gas- und Strompreise. In vielen Regionen blockierten Protestierende Autobahnen und legten zum Teil den Güterverkehr lahm. Da die billigen Gas- und Strompreise eines der zentralen Versprechen von Präsident Selenskyj waren, mussten die niedrigen Preise gehalten werden, unter anderem durch die Unterstützung von "Energoatom". Für "Energoatom" war die genötigte Verschuldung deswegen besonders schmerzhaft, weil "Energoatom" seine Schulden gegenüber dem US-amerikanischen Brennstabhersteller "Westinghouse" nicht begleichen konnte. Mit "Westinghouse" unterzeichnete "Energoatom" im September in Anwesenheit von Präsident Selenskyj einen Vertrag über die Lieferung von Brennstäben für die Reaktoren des Atomkraftwerks in Riwne. Das Unternehmen liefert Brennstäbe für sechs ukrainische Atomkraftwerke und gilt als strategisch wichtig für die Abkehr von russischem Brennstoff für Atomkraftwerke.

Faktisch bedeutete die Verordnung des NKREKP, dass die Finanzierung ohne Vorwarnung zweckfremd ausgegeben werden sollte, obwohl diese unmissverständlich zur Rettung der erneuerbaren Energien vorgesehen und seit vielen Monaten erwartet worden war. Die unter normalen Umständen undenkbaren öffentlichen Appelle und Beschwerden mehrten sich. Schon am nächsten Tag organisierten die Abgeordneten Ljudmyla Bujmister und Olexij Hontscharenko, der Gründer des Unternehmens Vindkraft Ukraine sowie Ko-Vorsitzender des Energieausschusses der European Business Association Ukraine Karl Sturen, der Geschäftsführer der ukrainischen Filiale des norwegischen NBT Magnus Johansen, der Vorstandsvorsitzende der Ukrainischen Windkraftassoziation Andrij Konetschenkow, die Direktorin der europäisch-ukrainischen Energieagentur Oleksandra Humenjuk sowie der Leiter der Ukrainischen Assoziation für Erneuerbare Energien Oleksandr Kosakewitsch eine "Sonderkonferenz zur kritischen Lage auf dem Energiemarkt". Die Organisator*innen sprachen sogar von einer "strafrechtlichen Verantwortung" des NKREKP.

Am 08. Januar verschickte der Vorsitzende des Sekretariates der Energiegemeinschaft in Wien, Dirk Buschle, einen Brief an den Leiter des NKREKP, Walerij Tarasjuk, mit der klaren Aufforderung, die Verordnung nicht in Kraft treten zu lassen. "Ich würde höflich vorschlagen, die negativen Signale durch eine Entscheidung, welche wahrscheinlich zu neuer Konfrontation einschließlich Rechtsklagen führen würde, nicht zu versenden", schrieb er.

Am 12. Januar 2021 veröffentlichten mehrere renommierte Akteure der Branche, darunter die europäisch-ukrainische Energieagentur, die Ukrainische Windkraftenergie-Assoziation und die Ukrainische Assoziation für Erneuerbare Energien, einen offenen Brief an den Energieminister mit der Aufforderung, dem rechtlichen Rahmen Folge zu leisten und nach den Aufforderungen des Gesetzes 810-IX die Verschuldung gegenüber den Herstellern grüner Energie abzubauen.

Am gleichen Tag verschickte der Managing Director Osteuropa und Kaukasus des EBRD, Matteo Patrone, einen Brief an den ukrainischen Ministerpräsidenten Denys Schmyhal. In dem Brief verwies Patrone darauf, dass die EBRD der größte Investor in der Ukraine sei und äußerte seine "Besorgnis bezüglich der Zahlungsdisziplin im Bereich erneuerbare Energien". "Dies ist eine Verletzung der Energiegesetzgebung der Ukraine wie auch der Verpflichtungen der ukrainischen Behörden, unter anderem des NKREKP, welche in dem im Juli 2020 unterzeichneten Memorandum festgehalten sind", hieß es weiter. "Wir sind besorgt, dass solche Einschränkungen [der Verwendung von Kreditgeldern, Anm. d. Autors] und eine entsprechend verfehlte Erfüllung der Pflichten zum Abbau der genannten Verschuldung eine zusätzliche negative Auswirkung auf die Branchenstabilität, auf die Lage der Investoren in dieser Branche sowie auf die Wahrnehmung der Ukraine seitens der Investoren im Gesamten haben werden".

Am 14. Januar 2021 veröffentlichten zwölf renommierte ukrainische Umwelt- und Energie-NGOs, einschließlich Greencubator, Ecodiya, Clean Energy Lab und Ecoclub einen Aufruf, in dem sie der Regierung nichts Geringeres als eine "staatliche Unterminierung der Branche der erneuerbaren Energien" vorwarfen. Sie sprachen vom "systematischen Widerstand einiger staatlicher Organe" gegen die Erneuerbaren und nannten derartige Schritte "aggressiv und diskriminierend". "Dies kontrastiert nicht nur mit öffentlichen Erklärungen ukrainischer Beamter, sich am European Green Deal zu orientieren und die umweltschädlichen Einwirkungen des Energiesektors zu reduzieren. Dies ruiniert das Vertrauen von Investoren und verletzt die Verpflichtungen, welche der ukrainische Staat auf sich genommen hat", hieß es in der Erklärung.

Bis zum heutigen Tag ist der Konflikt um die Verschuldung gegenüber den Investoren in die erneuerbaren Energien in der Ukraine nicht gelöst. Es bleibt wahrscheinlich, dass die finanzielle Lage in der Ukraine sich weiter verschlechtert. Ob der Staat in der Lage sein wird, seine finanziellen Verpflichtungen zu erfüllen, bleibt fraglich. Welcher Wert in Hrywnja die Schulden am Tag der Auszahlung haben werden, ist ebenso unklar. Genauso wenig ist klar, ob die Ukraine wieder einen neuen Energieminister – und vielleicht sogar eine neue Regierung – bekommt. Wichtig bleibt, dass die chaotischen Maßnahmen von Selenskyj und seiner Regierung mit ihren ständigen Versuchen, unseriöse und korruptionsträchtige "Winkelzüge" zu vollziehen, anstatt vernünftige Energiepolitik zu machen, den Ruf der Ukraine in den Augen vieler internationaler und privater Akteure für Jahre ruiniert haben. Eben dieser Schaden, und nicht der milliardenschwere Schaden bezüglich des Erneuerbare Energien-Sektors, ist das schlimmste Ergebnis der verantwortungslosen und fachfremden Politik der Selenskyj-Regierung.

Stand: 02. Februar 2021

Fussnoten

Sergej Sumlenny, 40, ist seit 2015 Büroleiter des Büros Kyjiw – Ukraine der Heinrich-Böll-Stiftung. Der promovierte Politologe hat zuvor als Leiter der PR bei der Wirtschaftsberatung »Schneider Group« und als Wirtschaftskorrespondent für die russische Mediengruppe »Expert« gearbeitet.