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Die Handlungsoptionen des Westens und drei mögliche Szenarien für die Beendigung des Ukraine-Krieges | Kriege und Konflikte | bpb.de

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Die Handlungsoptionen des Westens und drei mögliche Szenarien für die Beendigung des Ukraine-Krieges

Andreas Heinemann-Grüder

/ 9 Minuten zu lesen

Russlands Krieg gegen die Ukraine kann mit einem Siegfrieden, einem Verhandlungsfrieden oder dem Kollaps des Putin-Regimes enden. Oberstes Ziel sollte eine schnelle Beendigung des Krieges und des menschlichen Leids sein. Dazu gehört neben der wirtschaftlichen auch die militärische Abschreckung gegen eine weitere russische Eskalation, meint Andreas Heinemann-Grüder.

Barrikaden in Odessa, 28.03.2022. (© picture-alliance, ZUMAPRESS.com)

Die Verantwortung des Westens

Sowohl die NATO als auch die EU hatten die Widerstandsfähigkeit der Ukraine vor dem Beginn des Krieges abgeschrieben. Viele westliche Regierungen, insbesondere auch die Bundesregierung, verfolgten die Linie, dass sich die Ukraine im Falle eines Krieges angesichts der russischen Übermacht nur ergeben könne. Das Kalkül lautete: Ein schneller militärischer Sieg Russlands hält die eigenen Kosten gering. Deshalb durften bis zum Kriegsbeginn keine Waffen an die Ukraine geliefert werden. Noch am Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine bekräftigte Robert Habeck im Namen der Bundesregierung, dass Deutschland keine Waffen in das Kriegsgebiet liefern werde. Darüber herrschte ein parteiübergreifender Konsens. Die einen begründeten das mit pazifistischen Überlegungen, andere mit einem Rekurs auf die Entspannungspolitik, wiederum andere gaben der Aussicht auf gute Geschäfte mit Moskau den Vorzug.

Doch wider Erwarten wehrt sich die Ukraine tapfer. Dadurch erhöhte sich der öffentliche Druck, die bis zum 24. Februar 2022 verfolgte Politik preiszugeben. Doch die militärische Unterstützung der Ukraine, also die Stärkung ihrer Verteidigungs- und Überlebensfähigkeit, ist nach wie vor strikt begrenzt: "Wir" unterstützen die Ukraine nur insoweit, wie damit keine Sicherheitsrisiken verbunden sind. Weil Putin über Atomwaffen verfügt, wird er nicht wie Milošević, Saddam Hussein oder Gaddafi behandelt. Deshalb werden keine Kampfjets geliefert und keine Flugverbotszone eingerichtet.

Auch die absehbare Konsequenz, dass nach einem militärischen Sieg Russlands eine neue gemeinsame Grenze Russlands mit den EU- und NATO-Staaten Rumänien, der Slowakei, Ungarn und Polen entstehen würde, blieb vor allem in Deutschland jenseits des Kalküls. Selbst der so genannte Bündnisfall der NATO ist alles andere als klar definiert. Welche Reaktionen z.B. ein russischer Raketenbeschuss – konventionell oder nuklear – auf NATO-Gebiet auslösen würde, ist mitnichten abgestimmt und ausgemacht. Die Erklärung der Staatsoberhäupter der NATO-Staaten vom 24.03.2022, jeden Zoll NATO-Territorium zu verteidigen und „eisern“ zum wechselseitigen Beistand nach Artikel 5 NATO-Vertrag zu stehen, klingt martialisch, ist aber in Wirklichkeit davon abhängig, ob eigene Reaktionen von der russischen Seite als eskalierend eingeschätzt werden könnten. Dass Russlands Ambitionen nach einem Sieg über die Ukraine nicht befriedigt sein werden, sondern es weitergehende Ansprüche auf die Republik Moldau, das Baltikum und in Polen erheben könnte, befürchteten vor allem unmittelbar betroffene Ostmitteleuropäer. In Berlin und Brüssel dominiert nach wie vor die Vorstellung, dass sich der Krieg durch eine "Ohne mich"-Politik begrenzen lässt. Doch das ist eine Fortsetzung jener Appeasement-Politik, die den Krieg überhaupt erst ermöglicht hat.

Glaubwürdige Abschreckung

Wenn der Westen freilich begreifen würde, dass er nicht Zuschauer, sondern Teil des Krieges ist, könnte er sein gesamtes Repertoire zum Einsatz bringen: "Lend lease"-Lieferungen an die Ukraine, den Ausschluss aller russischen Banken aus dem SWIFT System, die Verhängung von Sekundärsanktionen gegen Staaten, die Russland bei der Umgehung von Sanktionen helfen, die systematische Ausweisung von russischen Spionen, die Unterbindung von "Einflussagenten", Cyberoperationen, die selektive Einschränkung der kritischen Infrastruktur. Kampfjets und Luftabwehrraketen könnten einen signifikanten Beitrag dazu leisten, Russlands Luftüberlegenheit einzuschränken. Humanitäre Korridore ließen sich mit internationalen Truppen schützen. Ferner könnten Wehrdienstverweigerern aus Russland Visa erteilt werden. Jede Maßnahme gilt es in ihren Wirkungen und Rückwirkungen abzuschätzen.

Russlands Führung weiß, dass der eigene Ersteinsatz von Atomwaffen einen atomaren Zweitschlag auslösen würde und damit einem Selbstmord gleichkäme. Die atomare Abschreckung funktioniert seit 1949, als die Sowjetunion mit der Zündung einer Atomwaffe gegenüber den Amerikanern gleichzog. Ein Ersteinsatz der Atomwaffe durch Russland würde jede Erreichung von Putins Zielen zunichtemachen – außer Putin zweifelt an der atomaren Abschreckungsbereitschaft des Westens. Die Angst vor einer atomaren Eskalation hat nur einen Ansatzpunkt – die Angst im Westen. Ein russischer Siegfrieden lässt sich noch verhindern, allerdings nur, wenn der russischen Führung unzweideutig die Abschreckungsbereitschaft des Westens kommuniziert wird.

Deutschland, die EU, die NATO und die USA müssen sich Rechenschaft darüber ablegen, ob sie alles dazu beitragen, den Krieg in den nächsten zwei bis drei Monaten zu beenden. Heute massiv alle Maßnahmen auf den Tisch zu legen, wird schmerzhafte Folgen haben, aber ein langer Krieg würde noch weitaus stärkere Schäden für die Ukraine und die europäische Wirtschaft anrichten. Das Ausmaß der Zerstörung in der Ukraine wächst mit jedem Kriegstag, der Wiederaufbau wird auch durch europäische Staaten bezahlt werden müssen.

Harte Schnitte heute können langanhaltende Kosten reduzieren. Oberstes Ziel sollte es deshalb sein, alle Anstrengungen auf eine schnelle Beendigung des Krieges und des menschlichen Leids zu konzentrieren. Dafür bedarf es nicht nur der wirtschaftlichen, sondern auch der militärischen Abschreckung vor russischer Eskalation. Russlands Einsatz von atomaren, biologischen oder chemischen Waffen, Angriffe auf Waffenlieferungen aus NATO-Staaten oder auf Militärausbilder, Massendeportationen bis hin zu Genozid sind keine auf das ukrainische Territorium beschränkte Angelegenheit. Die Schutzverantwortung (R2P) verpflichtet zur Reaktion.

Drei Szenarien für eine Beendigung des Krieges

Kriege enden durch einen eindeutigen militärischen Sieg, die Erschöpfung der Kriegsparteien, die in eine, meist durch Dritte vermittelte, Verhandlungslösung mündet, oder durch Regimezerfall. Russland ist von einem eindeutigen militärischen Sieg in der Ukraine weit entfernt. Die russische Armee wollte einen Blitzkrieg zur militärischen und politischen Unterwerfung der gesamten Ukraine führen. Dieser Plan scheiterte an dem unerwartet starken militärischen Widerstand der Ukrainer sowie an eigenen operativen Mängeln.

Szenario 1: russischer Siegfrieden

Das faktische Kriegsziel Putins, den ukrainischen Präsidenten Selenskyj und seine Regierung zu stürzen, die Ukraine zu "neutralisieren" und das Land in ein Protektorat von Russlands Gnaden zu verwandeln, lässt sich offenkundig nicht erreichen. Es ist ungewiss, was die aktuellen Kriegsziele sind – die Annexion eines breiten Landstrichs an der Ostgrenze der Ukraine, die Zerschlagung der ukrainischen Armee, die Einnahme der gesamten Schwarzmeerküste und möglicherweise die Herstellung einer Landverbindung bis nach Transnistrien, die Zerstörung der Infrastruktur und wirtschaftlichen Lebensgrundlagen der Ukraine – oder die Rettung der russischen Truppen vor einer verheerenden Niederlage?

Um eine Kapitulation der Ukraine doch noch zu erreichen, setzt Russlands Armeeführung auf Eskalation: auf den Einsatz von Distanzwaffen, bei dem nicht mehr zwischen militärischen und zivilen Zielen unterschieden wird, auf die Bombardierung von Wohngebieten, Schulen und Krankenhäusern, auf die Zerstörung von Infrastruktur sowie auf den Einsatz von Killerkommandos. Mit dieser Kriegsführung soll die Bevölkerung zermürbt und eine Massenflucht ausgelöst werden. Flucht und Vertreibung von Millionen Ukrainern werden eingesetzt, um die Demographie der Ukraine strategisch zu verändern und den Westen zu destabilisieren.

Russlands zahlenmäßige militärische Überlegenheit ist erdrückend. Ein militärischer Sieg kann nach wie vor nicht ausgeschlossen werden, auch wenn er Monate exzessiver Gewalt bedeuten würde. Dass Moskau bereit ist, einen Vernichtungskrieg zu führen, hat es in Groznyj, Aleppo, Homs und Idlib bewiesen. Gerade wenn die Abwendung der eigenen Niederlage, damit auch eines Regimekollapses in Russland, zum obersten Kriegsziel avanciert, wird Russlands Militär seinen Zerstörungsfeldzug ausweiten.

Die Gewinne durch Russlands Artillerie, Raketen und Bomben werden allerdings durch Drohnen, Luftabwehr-Raketen, panzerbrechende Waffen sowie durch das gesamte Arsenal des ukrainischen Partisanen- und Guerillakrieges erheblich minimiert. Der militärische Nachschub aus NATO-Staaten, der Durchhaltewille der ukrainischen Armee und der Bataillone der Territorialverteidigung, der zivile Ungehorsam gegenüber russischen Besatzern und die desperate Kampfmoral russischer Einheiten bremsen den russischen Vormarsch aus.

Es besteht nach wie vor die Möglichkeit, strategisch bedeutsame Städte der Ukraine von Wasser, Strom und der Lebensmittelversorgung abzuschneiden, wie am Beispiel Mariupols vorgeführt. Das würde weiter zu einer Massenflucht führen, zu "Säuberungen" in einem Ausmaß, wie es sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gegeben hat. Doch selbst wenn es Russland gelingen sollte, Mariupol, Charkiw, Cherson oder sogar Kiew einzunehmen, wäre die Besatzung und Verwaltung der eroberten Gebiete nur durch die Errichtung einer Militärdiktatur möglich. Da die ukrainische Bevölkerung sowie die Eliten aus Politik und Wirtschaft Kollaborateure oder eine Marionetten-Regierung nicht akzeptieren würden, müsste Personal aus Russland oder aus dem okkupierten Donbass transferiert werden, das dann rigoros eine Zwangsverwaltung durchsetzt. Die Eroberung von ukrainischen Städten wäre für Russland nur um den Preis erheblicher eigener Verluste möglich. Im Häuserkampf sind die angreifenden Truppen extrem verletzbar.

Sollte Russland doch noch ein "Siegfrieden" gelingen, müssten anschließend die überlebenden proukrainischen Kombattanten ermordet oder in Straflager gesteckt und die ukrainischen Exekutivorgane abgesetzt werden. Russland müsste ein Land wieder aufbauen und regieren, das es zuvor zerstört und entvölkert hat. Um das Risiko eines Guerillakrieges ukrainischer Ex- und Paramilitärs zu reduzieren, müssten großflächige, unterschiedslose Säuberungen folgen. Ein solcher "Sieg" würde in der Ukraine nicht nur unermessliches Leid bedeuten, sondern dauerhaft Russlands politische und wirtschaftliche Isolation nach sich ziehen und das Land auf den prekären Stand der frühen 1990er Jahre zurückwerfen. Alle materiellen Grundlagen, auf denen Putins Macht und Legitimation in Russland gründete, würden untergraben und zerstört. Ein solcher Sieg wäre ein Pyrrhussieg.

Szenario 2: Auszehrung und Verhandlungsfrieden

Ein belastbarer Waffenstillstand scheint erst dann greifbar, wenn beide Parteien erschöpft sind, das heißt, wenn keine Geländegewinne, Durchbrüche oder Rückeroberungen mehr zu erwarten sind. Die Vertreter der Ukraine und Russlands können sich auf temporäre, begrenzte Feuerpausen oder auf humanitäre Korridore einigen. Die Gespräche, die russische und ukrainische Vertreter neben den Kampfhandlungen führen, dienen der Signalisierung von Maximal- und Minimalforderungen und sind ein Zeichen dafür, dass sich beide Seiten anerkennen. Russland signalisiert, dass es den Sturz der Kiewer Regierung nicht mehr als absolutes Ziel betrachtet.

Die Ukraine könnte Sicherheitszusagen erhalten, Russland wiederum als Minimum die Anerkennung der Krim und der Donezker und Lugansker "Volksrepubliken". Da beide Parteien sich zutiefst misstrauen, wird ein haltbarer Waffenstillstand vor allem von einer oder mehreren Drittparteien abhängen. Sofern Frieden nicht mit der Kapitulation einer Partei zustande kommt, können eine oder mehrere Großmächte die Bedingungen des Friedens vermitteln. Konkret ist dafür am ehesten China prädestiniert. China ist einerseits mit Russland gegen die USA verbündet, andererseits aber an einem freien Welthandel, vertretbaren Rohstoffpreisen und der Nordwest-Passage nach Westeuropa interessiert. Peking dürfte freilich abwarten, bis es selbst die Risiken einer Kriegsfortsetzung erkennt und Russland mit dem Rücken an der Wand steht. Dann könnte es nicht nur die politische Rendite für die Vermittlung einfahren, sondern auch dem Kreml die Rettung zu chinesischen Bedingungen antragen.

Eine solche Verhandlungslösung würde den militärischen Status quo in Form einer neuen befestigten Demarkationslinie zwischen der Ukraine und den von Russland besetzten Gebieten festschreiben, die möglicherweise durch internationale Truppen und/oder Beobachter, etwa eine OSZE-Mission, überwacht wird. Von Russland besetzte Teile würden "gesäubert" und durch Personal aus Russland regiert und verwaltet. Der "Staatsaufbau" würde den Mustern der De-facto-Regime in den Donezker und Lugansker Volksrepubliken folgen.

Das Szenario eines Waffenstillstandes bzw. Verhandlungsfriedens wird erst wahrscheinlich, wenn die Ukraine so sehr ums Überleben ringt, dass die ukrainische Führung fast alles zu unterschreiben bereit ist, um wenigstens eine Restsouveränität zu bewahren.

Szenario 3: Regimezerfall

Ein Regimezerfall in Russland infolge des nicht zu gewinnenden Krieges und der Sanktionen wird durch vier Faktoren beeinflusst. Erstens muss es unter den Siloviki, also den Repräsentanten der Gewaltapparate, wie den Geheimdiensten und der Armee, die Putins eigentliche Machtbasis darstellen, zu einer Spaltung kommen, etwa weil sie kein Interesse daran haben, gemeinsam mit Putin unterzugehen. Die Spannungen in Russlands Sicherheitsapparaten, insbesondere die Suche nach Schuldigen, sind seit dem Kriegsbeginn offenkundig. Aber ein Putsch gegen Putin setzt die Existenz einer korporativen Identität und eigenständige Handlungsfähigkeit voraus, die vermutlich nur beim Auslandsgeheimdienst gegeben ist.

Zweitens könnte ein nicht mehr zu unterdrückende Aufschrei der Soldatenmütter, von Kriegsverletzten und zurückkehrenden Soldaten das Propagandabild des Regimes zerstören. Noch gewährleisten die staatliche Medienkontrolle, die Repression, die Abwanderung von Kremlkritikern und das Bild einer universellen russophoben Einkreisung die Kontrolle der Öffentlichkeit. Doch früher oder später wird sich auch in Russland rumsprechen, dass die "militärische Spezialoperation" Millionen unschuldiger ukrainischer Zivilisten zu Opfern macht. Die Glaubwürdigkeit des Kremls schwindet bereits, auch wenn immer noch eine Mehrheit unter dem Einfluss der Massenmedien, der russisch-orthodoxen Kirche und populärer Narrative Putins Krieg unterstützt.

Drittens dürfte sich der Mittelstand in Russland infolge des freien Falls der Wirtschaft, des Verlusts von Arbeitsplätzen, der Hyperinflation und des Einbruchs des Lebensstandards vom Regime abkehren. Doch die Spielräume für ein kollektives Handeln gegen das Regime sind gering. Hier bleibt abzuwarten, wie sich der Unmut politischen Ausdruck verschaffen wird.

Viertens führt die Flucht der Oligarchen, der bisherigen wirtschaftlichen Profiteure, dazu, dass eine regimestützende Trägerschicht wegbricht. Die Putinsche Version des Petro-Staates, die Fusion von Business und Staat, die Klasse von "Rentiers", die von Rohstoffexporten lebt, Patronage und Klientelismus und die Stabilisierung kraft Verteilungsmasse werden kollabieren. Das wird auch die immer schärfere Repression nicht verhindern können.

Doch eine Regimekollaps wird nicht den Krieg beenden; wenn er kommt, dann erst später. Gleichwohl erscheint er unvermeidbar und wird erst die Voraussetzungen für einen nachhaltigen Frieden mit Russland schaffen. Eine europäische Friedensordnung ist mit Putins Regime nicht mehr möglich.

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Prof. Dr. Andreas Heinemann-Grüder lehrt Politikwissenschaft an der Universität Bonn und forscht am Bonn International Centre for Conversion.