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Deutschlands Interessen, Strategien und Politik im Umgang mit innerstaatlichen Konflikten | Kriege und Konflikte | bpb.de

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Deutschlands Interessen, Strategien und Politik im Umgang mit innerstaatlichen Konflikten

Hans-Georg Ehrhart

/ 9 Minuten zu lesen

Die deutsche Politik gegenüber innerstaatlichen Konflikten ist deklaratorisch stark an wertebasierten Zielen ausgerichtet wie Frieden, Demokratie und Stärkung einer regelbasierten internationalen Ordnung. In der politischen Praxis überwiegen jedoch ordnungs- und bündnispolitische Interessen. Die Ergebnisse sind in den meisten Konfliktregionen ernüchternd.

Ein Mitglied der deutschen Bundeswehr sichert die Militärbasis Camp Castor in Mali ab. (© picture-alliance, NurPhoto)

Wie die meisten Staaten hat sich auch das wiedervereinigte Deutschland in den ersten Jahren nach dem Ende des Ost-West-Konflikts schwergetan, seine Linie in dem neuen Politikfeld "Bearbeitung und Lösung innerstaatlicher Konflikte" zu finden. Drei Handlungsstränge schälten sich dabei zunächst heraus: die Osterweiterung von EU und NATO, die Bearbeitung von Gewaltkonflikten auf dem Balkan und die Teilnahme der Bundeswehr an internationalen Friedensmissionen.

Im Kern ging es vor allem um die Gewährleistung von Frieden und Stabilität in der europäischen Nachbarschaft, die Stärkung der westlich dominierten multilateralen Ordnung und die Verbreitung des liberal-demokratischen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells. In diesem Kontext kamen zahlreiche neue politische Ansätze und Instrumente, wie Konfliktprävention, Mediation, Förderung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und die Implementierung von Sicherheitssektorreformen, zum Einsatz. Die Interner Link: Umsetzung erfolgte in enger Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Akteuren und Regionalorganisationen.

Gleichzeitig wurde die Bundeswehr schrittweise von einer territorialen Verteidigungsarmee zu einer international handlungsfähigen Interventionsstreitmacht umgebaut, die gegebenenfalls in der Lage ist, zur Friedenssicherung und Bewahrung von regionaler Stabilität in innerstaatliche Konflikte einzugreifen. Das Engagement erfolgte zunächst im Rahmen ziviler UN-Missionen, danach auch in Militäreinsätzen, vor allem auf dem Balkan. 1999 beteiligte sich die Bundeswehr an den völkerrechtlich umstrittenen Luftangriffen der NATO gegen Serbien (Loquay2000). Dadurch wurde ein erster Keim für das spätere Aufleben des Machtkonflikts zwischen dem Westen und Russland gelegt, das Partei für Serbien ergriffen hat.

Interessen und Ziele

Deutschland sieht fragile Staaten und autoritäre Herrschaft als entscheidenden Nährboden für gewaltsame Konflikte an, weil diese Nationalismus, gewaltbereiten Extremismus und die Internationalisierung von Konflikten begünstigen. Krisen entstehen auch, "weil Menschen sich nicht gehört oder nicht vertreten fühlen und Konfliktparteien keinen Weg finden, miteinander ins Gespräch zu kommen" (Auswärtiges Amt 2019). Daraus wird die Notwendigkeit abgeleitet, staatliche Strukturen in Konfliktregionen zu stabilisieren und zu reformieren. Angesichts der veränderten Sicherheitslage in Europa wird aber mittlerweile auch hinterfragt, "wie effektiv unsere Mittel sind und was sie zur Stabilisierung der Regionen und unserer eigenen Sicherheit beitragen" (Auswärtiges Amt 2022).

Das deutsche Engagement zur Beilegung innerstaatlicher Konflikte erfolgt in der Regel im Verbund mit Partnern im Rahmen einer regelbasierten multilateralen Weltordnung, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg insbesondere von den USA geprägt worden ist. Deutschland sieht seine Interessen eng mit denen seiner Verbündeten und Partner verflochten, wobei die postulierten gemeinsamen Werte, wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und gutes Regieren, den ideologischen Kitt für solidarisches und gemeinsames Handeln bilden. Dass im Zweifelsfall Interessen höher gewichtet werden als Werte, belegt die Zusammenarbeit mit höchst problematischen Staaten, wie der autoritären Türkei, dem die Menschenrechte verachtenden Saudi-Arabien oder dem Putschisten-Regime in Mali. Im ersten Fall handelt es sich um einen NATO-Partner, im zweiten um einen vermeintlichen Stabilitätsanker im Nahen Osten und im dritten um ein wichtiges Interessengebiet Frankreichs, Deutschlands engstem europäischen Partner.

Strategien und Instrumente

Um fragile Staaten zu stabilisieren und autoritäre Herrschaftsformen zu überwinden, verfolgt die Bundesregierung einen "umfassenden und vernetzten Ansatz" (Ehrhart 2011). Sie greift dabei auf ein breites Instrumentarium zurück, etwa bi- und multilaterale Maßnahmen der Außen-, Entwicklungs-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie auf Mechanismen europäischer und internationaler Organisationen. Wichtige programmatische Dokumente sind der "Aktionsplan Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung" (2004), die ressortübergreifenden "Leitlinien für eine kohärente Politik gegenüber fragilen Staaten" (2012) sowie die Leitlinien zur Konfliktbewältigung (Die Bundesregierung: 2017).

Die Art und Weise, wie deutsche Interessen und Ziele gegenüber Konflikt- und Postkonfliktländern verfolgt und umgesetzt werden, hat sich seit Anfang der 1990er Jahre signifikant verändert. In der ersten Phase standen die weltweite Förderung und Verbreitung des westlichen liberalen Modells im Vordergrund. Demokratische Strukturen und soziale Marktwirtschaft galten als Königsweg für die Befriedung von Konflikt- und Postkonfliktgesellschaften. Strategien und Instrumente wurden unter dem Begriff des liberalen Peace-building zusammengefasst (Brahimi 2000). Die Politik des "social engineering", d.h. des technokratischen und kulturell wenig sensiblen Umbaus fremder Staaten und Gesellschaften, stieß schnell an ihre Grenzen (Newman/Paris/Richmond 2009).

Die Terroranschläge vom 11. September 2001 läuteten die zweite Phase ein. Anstatt aus den Misserfolgen zu lernen und zu einer inklusiveren, die Interessen der lokalen Bevölkerung stärker berücksichtigenden Politik überzugehen, vollzogen die USA unter Präsident George W. Bush einen verhängnisvollen Strategiewechsel. Eckpunkte waren der "Krieg gegen den Terror" und eine Politik des militärisch gestützten "Regimewechsels" gegen unbotmäßige autoritäre Staaten. Primär aus Gründen der Bündnissolidarität nahm Deutschland zwischen 2001 und 2021 an 29 Einsätzen und Missionen der NATO, der EU und der UNO teil (Bundeswehr 2021). Der längste und mit 59 toten Soldaten blutigste Einsatz war in Afghanistan. Das Engagement, das mit dem Ziel eines primär entwicklungspolitisch gestützten Peace- und State-building begann, eskalierte mehr und mehr zur Aufstandsbekämpfung.

In der dritten Phase wandelte sich das deutsche Engagement schrittweise hin zu einer Politik der pragmatischen Einhegung und Stabilisierung innerstaatlicher Konflikte. Angesichts der insgesamt desaströsen Ergebnisse nahm die Neigung zu Interventionen merklich ab. Im Vorgehen der EU war eine vergleichbare Entwicklung zu beobachten. Ob auf dem westlichen Balkan, in Afghanistan oder in der Sahel-Zone, die Bundesregierung schraubte ihre Reformansprüche nun deutlich zurück und konzentrierte sich hauptsächlich darauf, mit den Regierungen von Konflikt- und Postkonfliktstaaten Vereinbarungen über konkrete Stabilisierungsmaßnahmen, etwa die Ertüchtigung der Streitkräfte, zu treffen. Wie die Entwicklung u.a. im westlichen Balkan (z.B. Serbien) und der Sahel-Zone (z.B. Mali) zeigt, kann die Stabilisierungspolitik auch zur Stärkung autoritärer Strukturen beitragen.

Drei Missionen: Kosovo, Afghanistan, Mali

Beispielhaft für das Engagement Deutschlands sind die Konflikte in Kosovo, Afghanistan und Mali. Im Kosovo und in Afghanistan handelte es sich um einen Einsatz im Rahmen der NATO, in Mali um Stabilisierungs- und Ausbildungseinsätze im Rahmen der UNO und der EU.

Kosovo
Im Kosovokrieg nahm Deutschland das erste Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs an einer militärischen Intervention teil. Es tat dies im Rahmen einer NATO-Operation, die das erste Mal "out of area" und ohne ein Mandat der UNO erfolgte, also – so die Position der Kritiker – ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg war. Die Interventionsbefürworter sprachen hingegen von einer notwendigen "humanitären Intervention", die einen Völkermord an den nach Unabhängigkeit von der Bundesrepublik Jugoslawien strebenden Kosovaren verhindern sollte. Neben den humanitären Gründen spielten auch die Sorge vor zu vielen Flüchtlingen und die Bündnissolidarität eine Rolle.

Letztlich führte der Kosovokrieg 1998/99 zu 13.500 Toten und vielen Vertriebenen auf beiden Seiten. Das Kosovo wurde der Verwaltungshoheit der UN-Mission UNMIK unterstellt. 2008 erklärte das Kosovo einseitig seine Unabhängigkeit, die mittlerweile von über 110 Staaten anerkannt wird, darunter den USA und Deutschland, allerdings nicht von Russland, China und fünf EU-Staaten. Während China und Russland behaupten, es ginge ihnen um die grundsätzliche Souveränitätsfrage der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten, fürchten die EU-Staaten negative innen- und außenpolitische Rückwirkungen.

Die Regierungsverwaltung ist mittlerweile nach und nach den kosovarischen Institutionen übertragen worden. Gleichwohl bleibt das Land stark von externer Hilfe abhängig. Die Reform der Verwaltung und der Justiz geht nur schwerfällig voran, die Korruption ist endemisch, die Demokratie defizitär und die Diskriminierung von Minderheiten alltäglich. Die soziale, wirtschaftliche und politische Kluft in der albanischen Mehrheitsbevölkerung ist groß. Der nach wie vor bestehende Interner Link: Nationalitätenkonflikt innerhalb des Kosovo und der Statuskonflikt mit Serbien tragen dazu bei, dass noch heute, über 20 Jahre nach Kriegsende, 3.400 Soldaten der UN-Schutztruppe KFOR stationiert sind, darunter 65 deutsche.

Angesicht des Ukrainekriegs und geopolitischer Rivalitäten mit Russland hat sich Bundeskanzler Scholz für einen schnellen EU-Beitritt des Kosovo und der anderen Balkan-Staaten ausgesprochen. Dafür müssen aber zunächst der serbisch-kosovarische Konflikt beigelegt und zögerliche EU-Staaten, wie Frankreich, überzeugt werden. Das internationale Engagement im Kosovo ist ein Musterbeispiel für die Schwierigkeiten des liberalen Interventionismus. Nach zwei Jahrzehnten ist noch nicht absehbar, ob und wann dieser neue Staat den Klientenstatus verlassen wird.

Afghanistan
Deutschland hat sich primär in Afghanistan engagiert, weil es sich nach 9/11 verpflichtet fühlte, mit der die deutsche Sicherheit garantierenden Bündnisvormacht USA solidarisch zu sein (Krause 2011). Im Rahmen der Mission sollte Afghanistan in die Lage versetzt werden, eine Demokratie aufzubauen, um zu gewährleisten, dass von dort keine terroristische Gefahr mehr für Deutschland und seine Partner ausgeht (Die Bundesregierung 2008: 5). Konkrete Ziele waren die Stärkung des Staates und die Durchsetzung von Bürgerrechten, die Verbesserung der Lebensbedingungen, die Schaffung von Alternativen zum Drogenanbau, der Aufbau von Infrastruktur, Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen, die Beseitigung der Kriegsfolgen und die Verbesserung der Sicherheit (Die Bundesregierung 2008: 45).

In Deutschland vergingen zwanzig Jahre, bis aufseiten der Bundesregierung erkannt wurde, dass die Politik des militärisch gestützten Peace- und State-building gescheitert ist. Die Interner Link: Gründe dafür sind hauptsächlich in drei Punkten zu suchen: (1) der Bündnissolidarität gegenüber den USA und der NATO, (2) dem Unvermögen, nach offenkundigen Fehlentwicklungen eine grundlegende Strategie- und Politikänderung vorzunehmen sowie (3) dem mangelnden Mut politischer Entscheidungsträger, sich selbst und der Öffentlichkeit gegenüber das Scheitern der Mission einzugestehen.

Mali
Auch in Mali-Einsatz spielten bündnispolitische Überlegungen eine wichtige Rolle – diesmal gegenüber Frankreich, das für die geostrategische Sicherung der krisengeschüttelten Sahelzone, seinem vormaligen kolonialen Herrschaftsbereich, europäische Solidarität einforderte. Interner Link: Auch seitens der EU wuchs die Bereitschaft, sich stärker als geopolitischer und sicherheitspolitischer Akteur in Afrika zu engagieren (Brüne/Ehrhart/Justenhoven 2015). Die Bundesregierung hat bis heute keine hinreichend klar definierte politische Strategie für ihr Engagement in einem Land erarbeitet, das doppelt so groß ist wie Afghanistan.

Mit dem deutschen zivil-militärischen Engagement in Mali werden im Wesentlichen drei Ziele verfolgt: (1) Kampf gegen den Terrorismus, (2) Stabilisierung Malis und der Region sowie (3) Eindämmung der Migration in Richtung Europa im Rahmen sogenannter Migrationspartnerschaften (Die Bundesregierung 2022a). Die Fluchtursachenbekämpfung war ursprünglich nicht Teil des Aufgabenkatalogs. Nach der Flüchtlingskrise 2015 sollte dieses Ziel zusätzliche Legitimation liefern.

Neun Jahre nach Beginn der Intervention muss man feststellen, dass sich die terroristischen Anschläge in der Region vervielfacht haben. Auch der zurzeit größte und gefährlichste Blauhelmeinsatz, die MINUSMA-Mission der UNO, an der die Bundeswehr mit 1.100 Einsatzkräften beteiligt ist, bemühte sich bislang vergeblich darum, das Land zu stabilisieren. Schließlich ist das Vorhaben gescheitert, die malischen Streitkräfte durch die EU-Trainingsmission (EUTM Mali) zu reformieren, an der 600 Bundeswehrsoldaten beteiligt sind. Das malische Militär hat 2020/21 innerhalb von neun Monaten zwei Mal geputscht. Angesichts der zunehmenden Destabilisierung der gesamten Sahel-Region kann auch die Eindämmung der Migration als gescheitert gelten. 2021 waren in Mali mehr als 400.000 Menschen auf der Flucht. Das sind mehr als viermal so viele wie im Jahr zuvor (CARE 2021).

Die auf die Reform des malischen Staates und der Gesellschaft gerichteten Anstrengungen stecken ebenfalls in einer Sackgasse. Im Index für fragile Staaten ist das Land mittlerweile am unteren Ende der Skala angekommen (Fund for Peace 2021). Auch deshalb hat sich die Stimmung in Mali gegen die Präsenz Frankreichs und seiner europäischen Partner gedreht. Nachdem Frankreich auf Druck der malischen Regierung beschlossen hat, sein Militär aus dem Land abzuziehen und das Ende der EUTM beschlossene Sache ist – die Ausbildung soll in reduzierter Form im Niger fortgeführt werden – will die Bundesregierung ihr Engagement in der MINUSMA-Mission verstärken. Als Hauptgrund wird die Unterstützung des Friedensprozesses genannt (Deutscher Bundestag 2022).

Fazit und Ausblick

Die Bereitschaft der deutschen Politik aus Fehlern zu lernen, ist in der Vergangenheit weit hinter dem Tempo der globalen machtpolitischen Veränderungen zurückgeblieben. So war in dem Bericht der (schwarz-roten) Bundesregierung über die Umsetzung der Leitlinien aus dem Jahr 2021 von Fehlschlägen, wie in Afghanistan, Syrien und Mali, nichts zu lesen (Die Bundesregierung 2021). Das offenkundige Scheitern der "Illusion Statebuilding" (Bliesemann de Guevara/Kühn 2010) wurde sowohl in Afghanistan als auch in Mali ignoriert, weil man die Solidarität mit den amerikanischen und europäischen Verbündeten für "alternativlos" hielt.

Bei den militärischen Auslandseinsätzen mangelt vor allem an einer gründlichen Lageanalyse, einer klaren Vorstellung von dem übergeordneten politischen Zweck, den dafür anzustrebenden Zielen und dem benötigten Mitteleinsatz. Stattdessen dominieren oftmals kulturelle Ignoranz, überzogene und kaum präzisierte Ziele, falsche Prioritäten und viel Schönfärberei. Schließlich reduzierte man vor dem Hintergrund innenpolitischer Interventionsmüdigkeit und neuer internationaler Herausforderungen die Ansprüche so weit, dass man sich zunehmend auf die Interner Link: Ausbildung der lokalen Sicherheitskräfte konzentrierte, auch wenn dadurch autokratischen Strukturen gefestigt wurden.

Nur mit einer selbstkritischen und systematischen Analyse der Einsätze und entsprechenden politische Konsequenzen können künftige Fehlentscheidungen und Misserfolge vermieden werden. Einen ersten Schritt in diese Richtung hat die neue Bundesregierung angekündigt. Sie will den Afghanistaneinsatz durch eine Enquete-Kommission evaluierten lassen, deren Erkenntnisse "praxisnah und zukunftsgerichtet aufgearbeitet werden, sodass sie in die Gestaltung zukünftiger Auslandseinsätze einfließen" (Koalitionsvertrag 2021-2025: 150).

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ist Senior Research Fellow am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH). Zuvor war er Mitglied der Geschäftsleitung des IFSH und Forscher in der Studiengruppe Sicherheit und Abrüstung des Forschungsinstituts der Friedrich-Ebert-Stiftung.