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Nordkaukasus | Kriege und Konflikte | bpb.de

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Nordkaukasus

Regina Heller

/ 8 Minuten zu lesen

Unter der abklingenden terroristischen Gewalt treten alte und neue Konfliktlinien zutage, die den Nordkaukasus zu einem permanenten Unruheherd machen. Grund ist ein gefährlicher Mix aus ethno-politischen Spannungen zwischen den Nordkaukasusrepubliken und die Entfremdung zwischen den von Moskau ferngesteuerten Regierungen und der Bevölkerung.

Gepanzerte Fahrzeuge und ein Rettungsboot während einer militärischen Übung der russischen Armee im Kaukasus. (© picture-alliance/dpa, Sputnik )

Aktuelle Konfliktsituation

War der Nordkaukasus vor ein paar Jahren noch ein Epizentrum terroristisch motivierter Gewalt in Russland, so ist das Anschlagsgeschehen aktuell nahezu zum Erliegen gekommen. Zum Vergleich: Zur Hochphase im Jahr 2012 wurden bei über 150 Anschlägen (gemäß GTD) etwa 700 Todesopfer sowie 525 Verletzte gezählt. 2019 lag die Zahl der – überwiegend im Osten der Region registrierten – Todesopfer nur noch bei 32 und die der Verletzten bei 14. In der ersten Hälfte des Jahres 2020 wurden laut der Infoseite Caucasian Knot nur noch neun Tote und eine verletzte Person verzeichnet. Befürchtungen, durch den Kollaps des IS in Syrien und im Irak könnten vormals aus dem Nordkaukasus abgewanderte Kämpfer nach Russland zurückkehren und die Gewalt zurück in die Region bringen, haben sich bislang nicht bestätigt.

Unter der abklingenden terroristischen Gewalt treten jedoch alte und neue Konfliktlinien zutage, die die Region zu einem permanenten Unruheherd machen. Zum einen zeichnen sich neue ethno-politische Spannungen zwischen den Nordkaukasusrepubliken ab. Ihr Ausgangspunkt ist Tschetschenien, dessen Präsident Ramsan Kadyrow jüngst Gebietsansprüche gegenüber den benachbarten Republiken gestellt hat. 2018 willigte Inguschetien trotz massiver Proteste in der Bevölkerung in ein Abkommen über Gebietstausch und Grenzneuziehung mit Tschetschenien ein. 2019 wiederholten sich die Proteste. Nun richtete sich der Unmut verstärkt gegen Präsident Junus-Bek Jewkurow, seine weiterhin pro-tschetschenische Haltung in der Grenzfrage, sowie im weiteren Verlauf auch gegen die von ihm veranlasste Verhaftung von Demonstranten und Aktivisten. Unter dem Druck der Straße trat Jewkurow zurück. Auch gegenüber Dagestan erhob Tschetschenien Gebietsansprüche. Politische Unruhen, wie in Inguschetien, blieben bislang jedoch aus, obwohl Dagestan immer wieder Schauplatz inter-ethnischer und intra-religiöser Spannungen ist. Rückwirkungen hatten die Ereignisse hingegen auf Nord-Ossetien, wo die inguschische Minderheit mehr Rechte gegenüber Wladikawkaz einforderte (Goble 2020).

Die Proteste in Inguschetien und Nord-Ossetien verweisen auf eine weitere Konfliktlinie, die zwischen den Regierungen der Nordkaukasusrepubliken und ihren Bevölkerungen verläuft. Korruption und schlechte Regierungsführung sind die Ursachen für ein ohnehin geringes Vertrauen in die staatlichen Strukturen. Nachdem in den vergangenen Jahren einige Reformversuche unternommen worden waren, hat die Unzufriedenheit über das staatliche Versagen offenbar wieder deutlich zugenommen. Paradigmatisch ist auch hier das Beispiel Inguschetien: Der ehemalige Präsident Junus-Ben Jewkurow galt zunächst als Hoffnungsträger für mehr Bürgernähe, Stabilität und gesellschaftliche Versöhnung in der Kaukasusrepublik. Doch bereits vor dem Grenzstreit mit Tschetschenien hatte sich Unmut über die von ihm verschleppten Reformen in den Bereichen Justiz und Korruptionsbekämpfung geregt. Trotzdem war er von Moskau 2018 ein weiteres Mal für den Präsidentenposten nominiert worden (Fuller 2017).

Unzufriedenheit und Entfremdung könnten sich indes durch die immensen Schwierigkeiten beim Management der Corona-Pandemie in der Region weiter verstärken. Mit hohen Fallzahlen und einem schlecht ausgestatteten Gesundheitssystem wurde der Nordkaukasus im Vergleich zu anderen russischen Regionen hart von der Pandemie getroffen. Am stärksten betroffen war bis Anfang Juni Dagestan, das mit 5.300 die Hälfte aller Covid-19-Fälle im Nordkaukasus registrierte – die unzuverlässige Datenlage lässt allerdings vermuten, dass die Dunkelziffer drei Mal höher liegt. Mit den im Nordkaukasus besonders restriktiven Lockdown-Maßnahmen droht der Verlust von Arbeitsplätzen und Einkommen. Eine nachhaltige Schädigung von Wirtschaft und Gesellschaft könnte nur durch massive staatliche Unterstützung und Transferleistungen vom Zentrum in die Region verhindert werden (Dzutsati 2020).

Ursachen und Hintergründe

Ursächlich für den Wandel des Konfliktgeschehens im Nordkaukasus sind mehrere Faktoren. Der starke Rückgang der terroristischen Gewalt hat im Wesentlichen mit einer Verlagerung dschihadistischer Aktivitäten in den Nahen Osten und damit einhergehend einer Ausdünnung des Terrornetzwerkes vor Ort zu tun. Der "Islamische Staat" (IS), der 2015 das nationalistisch ausgerichtete "Kaukasische Emirat" übernahm, hat es offenbar bislang nicht vermocht, in ausreichendem Maße neue Kämpfer in der Region zu rekrutieren. Hierfür spricht auch die Beobachtung, dass viele derer, die sich aktuell dem gewaltbereiten Untergrund anschließen, noch nicht volljährig sind.

Der soziale und identitätsstiftende Einfluss des Islam, insbesondere in den östlichen Teilrepubliken Dagestan, Tschetschenien und Inguschetien, ist zwar groß, doch daraus lässt sich kein stabiler Einfluss islamistischer Ideologien und Akteure auf die Gesellschaften ableiten. Radikaler Islamismus ist im Nordkaukasus ein relativ neues Phänomen, das erst mit der post-sowjetischen Ära auftrat. Die Einschränkung der Religionsausübung in der Sowjetunion hatte die muslimischen Gesellschaften entweder säkularisiert oder bedingt die Praktizierung eines gemäßigten, staatsnahen Sufi-Islam erlaubt. Dessen Verstrickungen mit der lokalen Politik, aber vor allem auch die Gewalt- und Willkürerfahrungen gegenüber Strenggläubigen während der Tschetschenienkriege trieben vor allem junge Menschen in die Arme gewaltbereiter Islamisten (Bram/Gammer 2013: 296-337). Radikal islamistische Narrative mobilisieren in der Gesellschaft des Nordkaukasus also dann, wenn sie an die Lebenswirklichkeit der Menschen anschließen und das Bedürfnis nach nationaler Selbstbestimmung aktivieren. Tschetschenien, wo der gewaltsame Kampf um Selbstbestimmung seinen Ausgang nahm, kommt bis heute eine Schlüsselrolle in der Region zu. Dem Kadyrow-Klan gelang es nach den Tschetschenienkriegen, mit ausgeprägter Härte gegen Opposition und Zivilgesellschaft vorzugehen und als loyaler Partner Moskaus den ethno-nationalistischen Widerstand im Land dauerhaft zu unterdrücken sowie seine zentralen Figuren zu eliminieren. Moskau gewährt Präsident Kadyrow im Gegenzug viele Freiheiten und politische Rückendeckung. Diese Sonderbehandlung verstärkt Kadyrows Bestreben, seine Machtposition und die Führungsrolle des Landes im Nordkaukasus nach eigenem Gutdünken und zulasten der Nachbarn auszubauen. Inguschetien hat im Zuge des Gebietstauschs 26.0000 Hektar Land an Tschetschenien abgeben müssen. Moskau deckt Kadyrows Machtspiele; der wiederum geht gestärkt daraus hervor. Dies gilt sowohl für seine repressive Politik nach innen, die von Gewaltexzessen gegen Andersdenkende, religiöse Minderheiten oder Angehörige der LGBT-Community geprägt ist, wie auch für sein Auftreten nach außen.

Die anderen Regierungen im Nordkaukasus werden hingegen weiter geschwächt, hat doch der Kreml die zentrale Kontrolle über sie in den letzten Jahren deutlich ausgeweitet und ihre politische Autonomie eingeschränkt. So wurde 2012 mit Ausnahme Tschetscheniens die Direktwahl der Republikpräsidenten abgeschafft; seither werden die Präsidentenposten im Nordkaukasus von Moskau besetzt. Folglich bedienen die Regierungen primär Moskauer, anstelle von lokalen Interessen. Das macht sie, nicht zuletzt auch im Verhältnis zu Kadyrow, politisch angreifbar.

Die starke Abhängigkeit der regionalen Regierungen von Moskau macht sie insgesamt anfällig für staatliches Versagen. Der Nordkaukasus kämpft traditionell mit massiven sozio-ökonomischen Problemen: Eine hohe Arbeitslosigkeit, niedrige Einkommen, schlechte Infrastruktur und mangelnde Investitionen machen die Region zur ärmsten in ganz Russland. Endemische Korruption, kriminelle Verstrickungen des Staatsapparates und ein geringes Verantwortungsbewusstsein der Eliten zementieren die schwierigen Verhältnisse. Wirtschaftlich ist die Region von Moskau abhängig: Zwischen 50% und 90% der jährlichen Budgets kommen aus Moskau. Nachdem die Wirtschaftskrise das russische Staatsbudget dauerhaft unter Druck gesetzt hat, sind auch die Subsidien aus Moskau reduziert worden, was der Korruption erneut Vorschub leistete. Die politischen Unruhen zeigen, dass der Unmut in der Bevölkerung über die Performanz der Regierungen wieder zunimmt. Sollte es in der aktuellen aufgeheizten Stimmung vermehrt zu Willkür und Repressionen gegen friedliche Formen des Protests kommen, könnten die Sympathien für radikale Gewaltakteure wieder steigen.

Bearbeitungs- und Lösungsansätze

Um ein solches Szenario zu verhindern, wird weiterhin mit aller Härte versucht, politische Dissidenten in der Region, in ganz Russland, aber auch außerhalb des Landes aufzuspüren und aus dem Weg zu räumen. Auch strafrechtliche Mittel kommen vermehrt zum Einsatz, wodurch die offiziell registrierte Zahl terroristischer Straftaten in Russland zunimmt, obwohl die terroristisch motivierte Gewalt nachweislich deutlich abgenommen hat (Omelichewa 2019: 2-5).

Sollte die von Moskau beförderte Re-Zentralisierung die Region stabilisieren, so schafft sie aktuell offensichtlich mehr Probleme, als sie lösen kann. Dies hat vor Ort Forderungen befeuert, die Direktwahl der Republikpräsidenten im Nordkaukasus flächendeckend wiedereinzuführen (Goble 2017). Doch Moskau setzt das Prinzip der föderalen Machtvertikalen weiter durch. Der Kreml versucht aber nun, auf der politischen Ebene der Unruhe mithilfe von sogenannten "Outsidern" zu begegnen, also Personen, die wenig oder keine politische oder soziale Verwurzelung in den von ihnen regierten Republiken und Gebieten haben (Kazenin 2019). In Dagestan wurde 2017 mit Wladimir Wasiljew erstmals ein ethnischer Russe mit Herkunft aus Kasachstan zum Präsidenten ernannt. Er soll die Spannungen innerhalb der ethnisch sehr inhomogenen Eliten Dagestans beruhigen. Zudem wurden dort wieder vermehrt Militärs in hohe Verwaltungspositionen berufen, um gezielter auf etwaige Gefahrenlagen reagieren zu können.

In Inguschetien hofft der Kreml mit Präsident Machmut-Ali Kalimatow die Situation wieder in den Griff zu bekommen. Kalimatow ist ein ethnischer Ingusche, der aber viele Jahre außerhalb Inguschetiens gelebt und gearbeitet hat. Die Kalimatow-Administration geht ganz im Sinne Moskaus weiter hart gegen die Demonstranten von 2019 vor: Inhaftierten Aktivisten wird außerhalb Inguschetiens der Prozess gemacht; religiöse Führungsfiguren, die die Proteste unterstützt hatten, wurden zum Rücktritt gezwungen; Mitglieder des einflussreichen Ältestenrats gerieten unter politischen Druck (Mirumyan 2019).

Beim Umgang mit der Corona-Krise tendiert Moskau hingegen dazu, die Verantwortung auf die Regierungen der nordkaukasischen Teilrepubliken und Gebiete abzuschieben. Auch wird der Kreml wohl nicht bereit oder in der Lage sein, den Verlust an Einkünften im Nordkaukasus für 2020 in vollem Umfang auszugleichen. Stattdessen werden die regionalen Regierungen ihre Staatsreserven aufbrauchen müssen. In einem sich verstärkenden nationalistischen Klima wird ohnehin der Widerstand in der russischen Bevölkerung größer, finanzielle Mittel aus dem russischen Kernland in ethnisch "fremde" Gebiete, wie den Nordkaukasus, zu transferieren. So werden sich die ökonomischen Missstände, und in ihrem Zuge auch die politischen Unruhen, weiter verstärken.

Die Gräben zwischen der russischen Bevölkerung und den nicht-russischen Ethnien, die durch ein vom Kreml bemühtes nationalistisches Legitimationsnarrativ befeuert werden, wirken sich nicht nur auf Moskaus Wirtschaftspolitik aus, sondern zunehmend auch auf seine Kulturpolitik. Um die Fliehkräfte zwischen dem russischen Kernland und den Peripherien zu reduzieren, wurde 2018 ein Sprachengesetz erlassen, demzufolge die Sprachen der Titularethnie in den Gebieten der Russischen Föderation nur noch "auf freiwilliger Basis“ gelehrt werden sollen. Im Nordkaukasus hat das Gesetz Ängste vor einer Zwangs-Russifizierung ausgelöst. Die kulturelle Kluft zeigt sich auch in den in der Verfassungsänderung von 2020 formulierten Zusätzen zur "staatsbildenden" Rolle der russischen Nation und Sprache. Damit werden alle nicht-russischen Ethnien im Vielvölkerstaat deklassiert. Dies öffnet weiter Tür und Tor für eine nationalistisch ausgerichtete Politik gegenüber den Peripherien, insbesondere gegenüber dem Nordkaukasus.

Geschichte des Konflikts

Die Gewaltgeschichte im Nordkaukasus begann bereits mit der zaristischen Kolonialpolitik. Im 19. Jahrhundert organisierten Imame den bewaffneten Widerstand gegen die Unterdrückung der kaukasischen Völker durch das Zarenreich. Während der Sowjetherrschaft verschärften Vertreibung, Umsiedlung und die zentrale Kontrolle über ökonomische Ressourcen die Spannungen und Konflikte. Die dadurch angestauten Frustrationen und Widersprüche brachen beim Übergang in die postsowjetische Periode auf.

Die dramatischste und opferreichste Folge war der Tschetschenienkonflikt. Die von Vertretern der tschetschenischen Nationalbewegung 1991 ausgerufene unabhängige Republik "Itschkerien" wurde von Moskau nie anerkannt. Politische Lösungen wurden kategorisch abgelehnt und die Unabhängigkeitsbewegung in zwei Kriegen (1994-1996 und 1999-2001) niedergeschlagen.

Hiernach vollzogen die Führer des tschetschenischen Widerstands eine Hinwendung zum radikalen Islam. So konnten unterschiedliche Gruppierungen radikaler und gewaltbereiter Salafisten in der Region, die unter dem Einfluss fundamentalistischer Lehren in den 1990er Jahren erstarkt waren, mobilisiert und der Kampf auf den gesamten Nordkaukasus ausgeweitet werden. Folgenreichster Ausdruck dieser Transformation waren die Anschläge im Moskauer Nord-Ost-Theater (2002) und in einer Schule in Beslan (2004). Zwischen 2007 und 2015 operierten die verschiedenen dschihadistischen Gruppierungen des Nordkaukasus unter dem losen Dach des "Kaukasischen Emirats".

Weitere Inhalte

Dr. Regina Heller ist Wissenschaftliche Referentin am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg. Sie studierte Politikwissenschaft, Ostslawistik und osteuropäische Geschichte an der Universität Mainz, am Middlebury College, Vt./USA und an der Universität Hamburg. Von Oktober 2014 bis September 2015 vertrat sie die Professur für Internationale Politik, insbesondere auswärtige und internationale Politik osteuropäischer Staaten, an der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg.