Südafrika ist ein Beispiel für einen insgesamt erfolgreichen Friedensprozess. Die größte Gefährdung geht von massiven sozialen und wirtschaftlichen Problemen aus, für die eine korrupte Führungselite verantwortlich ist. Präsident Cyril Ramaphosa kann die in ihn gesetzten Hoffnung angesichts mangelnder Reformschritte nicht erfüllen.
Im Jahr 1990 ließ die Apartheidregierung in Südafrika ihren berühmtesten Gefangenen Nelson Mandela nach 27 Jahren Haft frei. Die bislang verbotenen Oppositionsparteien wurden zugelassen, allen voran der Afrikanische Nationalkongress (ANC). Verhandlungen zwischen der Regierung und der Opposition ebneten den Weg zu den ersten allgemeinen und freien Wahlen. 1994 wurde Mandela zum ersten schwarzen Präsidenten Südafrikas gewählt. Damit war die Grundlage für die Überwindung der rassistischen Unterdrückung der schwarzen Bevölkerungsmehrheit gelegt.
Schon in den 1970er Jahren zeigten Meinungsumfragen, dass die Mehrheit der südafrikanischen Bevölkerung keine gewaltsame Entscheidung im Konflikt zwischen Apartheid-Staat und Widerstandsbewegung wollte, sondern zu Kompromissen bereit war. Für die weiße Bevölkerung war dies umso bemerkenswerter, weil die Regierung die Apartheid seit 1948 religiös gerechtfertigt hatte. Schon in den 1980er Jahren hatte Präsident Botha das zentrale Dogma der Apartheid, die Trennung der verschiedenen "Rassen", gelockert und ein Drei-Kammer-Parlament eingeführt, das neben der weißen Mehrheit auch indisch-stämmigen und farbigen ("Coloureds") Südafrikanern und Südafrikanerinnen, nicht aber Schwarzen, eine begrenzte politische Teilhabe ermöglichte.
Im Jahr 1990 begann Präsident Frederik Willem de Klerk den offiziellen Verhandlungsprozess, um für die Weißen zumindest die wirtschaftliche Macht zu retten und für den Übergang politische Garantien zu sichern. Entscheidend für den Sinneswandel im Lager der Apartheidbefürworter waren weniger die internationalen Sanktionen und der Druck der weltweiten Anti-Apartheidbewegung als kühle Kosten-Nutzen-Erwägungen. Für die weiße Oberschicht und die Unternehmen war die Aufrechterhaltung der Repression schlicht zu kostspielig geworden. Die Befreiungsbewegung ANC willigte ihrerseits in Verhandlungen ein, weil sie die Macht nicht in einem vom Bürgerkrieg zerstörten Land übernehmen wollte. Schließlich fiel aus Sicht der Apartheidregierung mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Warschauer Pakts auch die lange beschworene kommunistische Bedrohung ("rooi gevaar"/"rote Gefahr") weg.
Erfolge und Fortschritte
Seit Mitte der 1980er Jahre suchten liberale, weiße Südafrikanerinnen und Südafrikaner den Dialog mit der ANC-Führung im Exil über die Zukunft des Landes. An den ersten Verfassungsgesprächen im Dezember 1991 beteiligten sich alle wichtigen Parteien. Sie einigten sich auf den Grundsatz gleicher Rechte für alle Bürgerinnen und Bürger und verzichteten gleichzeitig auf die Festschreibung von Rechten für bestimmte ethnische Gruppen in der Verfassung.
Die schwierigen Verhandlungen zwischen ANC und Regierung bzw. Nationaler Partei (NP), die immer wieder von blutigen Anschlägen in den Townships überschattet wurden und oft kurz vor dem Scheitern standen, endeten 1993 mit der Verabschiedung einer Übergangsverfassung. Die zunehmende Gewalt im Land, die Ermordung von Chris Hani, dem führenden ANC-Mitglied und Generalsekretär der Kommunistischen Partei (SACP), und die Unzufriedenheit der schwarzen Bevölkerung wegen ausbleibender sozialer Reformen zwangen zu raschem Handeln: Die ersten allgemeinen und freien Wahlen Südafrikas wurden bereits im April 1994 abgehalten.
Die Wahlen waren für die schwarzen Südafrikanerinnen und Südafrikaner ein feierliches Ereignis, das mit großen Hoffnungen verknüpft war. Mit 19 Mio. abgegebenen, gültigen Stimmen lag die Wahlbeteiligung bei 87%. Der ANC verfehlte mit 62,7% nur knapp die Zweidrittelmehrheit, während die NP 20,4% und die IFP (Inkatha Freedom Party) 10,5% der Stimmen erhielten. Wie in der Übergangsverfassung festgelegt, wurde zunächst eine Regierung der Nationalen Einheit gebildet, an der der ANC, die NP und die IFP als größte Parteien beteiligt waren. Der neugewählte Präsident Nelson Mandela legte den Schwerpunkt auf Aussöhnung und Einbindung aller Bevölkerungsgruppen. Erzbischof Desmond Tutu, wie Mandela ebenfalls Friedensnobelpreisträger und prominenter Apartheidgegner, bezeichnete die Südafrikanerinnen und Südafrikaner als "das Regenbogen-Volk Gottes" und fand damit ein Symbol, mit dem sich alle identifizieren konnten.
Nach zwei Jahren legte die Verfassungsgebende Versammlung die endgültige Verfassung des Landes vor. Südafrika erhielt ein Parlament mit 400 Abgeordneten, die nach dem Verhältniswahlrecht gewählt werden. Die Mehrheitspartei stellt die Regierung und wählt den oder die Präsidentin. Für die absehbare Zukunft wird diese oder dieser weiter aus dem ANC kommen, der das politische Leben dominiert und bislang immer die absolute Mehrheit der Stimmen erhielt. Die Partei der Apartheid, die NP, hat sich mehrere Male umbenannt und löste sich 2005 ganz auf. Viele Mitglieder wechselten zur Democratic Alliance (DA) (damals: Democratic Party), der ehemals weißen liberalen Oppositionspartei; formal schloss sich die Partei sogar dem ANC an.
Für die Aufarbeitung der Verbrechen der Vergangenheit wurde eine "Wahrheits- und Versöhnungskommission" unter dem Vorsitz Desmond Tutus eingerichtet. Unter dem Motto "vergeben, aber nicht vergessen" sollten die Vergehen aller Konfliktparteien aufgedeckt, geständigen Tätern Amnestie gewährt und Opfern zumindest eine symbolische Entschädigung gezahlt werden. Viele Opfer der Apartheid erfuhren zum ersten Mal etwas über das Schicksal verschwundener Angehöriger. Der dreijährige – oft schmerzhafte – Versöhnungsprozess hatte für viele Menschen eine befreiende Wirkung und dient als Vorbild für ähnliche Kommissionen in anderen Ländern.
Kritisch ist einzuwenden, dass die Empfehlungen der Wahrheits- und Versöhnungskommission nur schleppend implementiert und für das Reparationsprogramm viel zu wenig Mittel bereitgestellt wurden. Letztlich wurden kaum politische Verantwortliche des Apartheid-Regimes und nur wenige Angehörige des Sicherheitsapparates juristisch zur Verantwortung gezogen. Interner Link: Bis heute geht ein tiefer Riss durch die Gesellschaft Südafrikas.
Auch wenn seit der friedlichen Transition in Südafrika inzwischen mehr als 25 Jahre vergangen sind, wirken viele Altlasten der Apartheid fort. Die sozialen Schichten sind zwar durchlässiger geworden, und mehr schwarzen Südafrikanerinnen und Südafrikanern als je zuvor ist der wirtschaftliche Aufstieg gelungen. Auch verbesserte die Regierung die Grundversorgung, zum Beispiel durch ein großangelegtes Bauprogramm und den Ausbau der Gesundheits- und Stromversorgung.
Doch bis heute leidet die große Mehrheit der schwarzen Südafrikanerinnen und Südafrikaner und der sogenannten "Coloureds" unter wirtschaftlicher Marginalisierung und Armut. Ihr Bildungsniveau und die Möglichkeit, besser bezahlte Stellen zu bekommen, sind trotz Sonderprogrammen der Regierung und des "Black Economic Empowerment"-Programms weitaus geringer als das der weißen Bevölkerungsgruppe, die nur ungefähr 8% der Gesamtbevölkerung ausmacht. Südafrikas Wert auf dem Gini-Index, der die Einkommensverteilung eines Landes misst, beträgt 63,0. Das ist der schlechteste Wert weltweit (Deutschland: 31,9).
Hohe Arbeitslosigkeit, ein unzureichendes Bildungssystem und mangelnde Gesundheitsversorgung gehören zu den drängendsten Problemen. Die offizielle Statistik zählt 29% Arbeitslose, die inoffizielle Zahl liegt bei 40%. Mehr als die Hälfte der arbeitssuchenden Jugendlichen sind ohne Beschäftigung. Die Zahl der Menschen, die staatliche Unterstützung erhalten, ist ungefähr viermal höher als die derjenigen, die Einkommensteuer zahlen. Seit 2008 kommt es immer wieder zu brutalen Übergriffen auf Arbeitsmigranten und Einwanderer aus anderen Staaten Afrikas sowie zu Angriffen und Vandalismus gegen staatliche Einrichtungen in den ehemaligen Townships.
Im August 2012 markierten die Schüsse von südafrikanischen Polizisten auf streikende Bergarbeiter in Marikana, bei denen 34 Personen getötet wurden, eine Zäsur im Post-Apartheid-Südafrika. Unzufriedenheit mit Arbeitsbedingungen und Armut führen häufig zu gewaltsamen Streiks und Protestdemonstrationen, die von Sicherheitskräften niedergeschlagen werden. Südafrika gilt weltweit als das Land mit der höchsten Anzahl von Protesten, die sich gegen mangelnde staatliche Leistungen richten ("social delivery protests").
Eine weitere Folge der sozialen Ungleichheit und Chancenlosigkeit für viele Menschen ist die extrem hohe Kriminalitätsrate. In Umfragen rangiert die Kriminalität regelmäßig ganz oben bei der Nennung der größten Probleme. Südafrika ist eines der gefährlichsten Länder der Welt. Die Zahl der Vergewaltigungen ist im weltweiten Vergleich ebenfalls am höchsten. Auch die HIV-Infektionsrate gehört zu den höchsten im internationalen Vergleich: ca. 13% der Gesamtbevölkerung; 20,5% der 15-49-Jährigen; jede fünfte Frau im gebärfähigen Alter ist HIV-positiv. Das staatliche Programm der Versorgung mit anti-retroviralen Medikamenten ist nach anfänglich heftigen Kontroversen mit 3,4 Mio. Patientinnen und Patienten mittlerweile das größte der Welt.
Die Vereinnahmung des Staates durch korrupte Mitglieder der ANC-Führung und der administrativen Elite – "state capture" genannt – hatte unter dem im Februar 2018 zurückgetretenen Präsidenten Jacob Zuma einen Höhepunkt erreicht. Demgemäß wuchs unter Zuma die Unzufriedenheit im Land über die schlechte Regierungsführung, die Misswirtschaft und Korruption massiv an. Insbesondere der Ausbau der Privatresidenz Zumas auf Staatskosten, zahlreiche Anklagen sowie die politische Einflussnahme einer indisch-stämmigen Unternehmerfamilie erzürnten die Südafrikanerinnen und Südafrikaner. Dennoch gewann der ANC 2014 mit ihm an der Spitze erneut die Wahlen mit 62,2% der Stimmen.
Bei den jüngsten Wahlen im Mai 2019 wurde der ANC unter Cyril Ramaphosa mit großem Abstand erneut stärkste Kraft. Mit 57,5% der Stimmen musste die Regierungspartei aber deutliche Stimmenverluste hinnehmen. Es ist das mit Abstand schlechteste Wahlergebnis für den ANC seit dem Ende der Apartheid. Überaschenderweise konnte die DA als größte Oppositionspartei mit 20,8% der Wählerstimmen nicht von der allgemeinen Unzufriedenheit profitieren, sondern verlor sogar Stimmen gegenüber den Wahlen im Jahr 2014. Zunehmend gilt die Partei auch bei schwarzen Südafrikanerinnen und Südafrikanern als wählbar, dennoch ist die Loyalität vieler Wählerinnen und Wähler zum ANC weiterhin groß.
Wahlergebnisse der Parlamentswahlen in Südafrika (alle Angaben in Prozent)
Drittstärkste Kraft und der große Gewinner der Wahl wurden mit 10,4% der Stimmen (gegenüber 6,4% im Jahr 2014) und 44 Mandaten (im Vergleich zu 25 Mandaten 2014) die radikalen Economic Freedom Fighters (EFF). Die von Julius Malema, einem ehemaligen Führer der ANC-Jugendliga, 1993 gegründete linksradikale Partei trifft mit ihren militanten, aber auch rassistischen Sprüchen gegen Weiße bei Arbeitslosen und Armen in den ehemaligen Townships auf Zustimmung. Sie befürwortet die Verstaatlichung von Bergwerksgesellschaften und die Enteignung von Großgrundbesitz. Malema hat sich damit als zentraler Gegner des ANC und dessen unternehmerfreundlichen Kurses profiliert.
Mit Ramaphosa, der sich innerhalb des ANC nur knapp gegen seine Rivalin Nkosazana Dlamini-Zuma durchsetzen konnte, verbinden sich noch immer große Hoffnungen. Ramaphosa ist einer der angesehensten Anti-Apartheidskämpfer des ANC, der bereits bei den Verhandlungen mit der Apartheidregierung in den 1990er Jahren eine zentrale Rolle spielte und heute einer der reichsten Südafrikaner ist. Sein einigermaßen achtbares Wahlergebnis wird auch seiner Strahlkraft zugeschrieben. Tatsächlich deuten Ramaphosas Ministerernennungen und bisherige politische Entscheidungen darauf hin, dass er seine beiden zentralen Wahlversprechen – Stärkung des Wirtschaftswachstums und Bekämpfung der grassierenden Korruption – umzusetzen gedenkt. Da die Regierungspartei jedoch noch immer zwischen "Reformern" und "Traditionalisten", die den ehemaligen Präsidenten Zuma unterstützten, zerrissen ist, muss der Präsident auf seine innerparteilichen Gegner Rücksicht nehmen. Sowohl die weitverbreitete Unzufriedenheit mit der sozialen und wirtschaftlichen Lage als auch die stockende Aufarbeitung und juristische Verfolgung der Straftaten und Korruptionsskandale in der Amtszeit Zumas sind ein Indiz für die begrenzte Handlungsfähigkeit der neuen Regierung. Auch sind zentrale Reformprogramme ins Stocken geraten.
Demgegenüber hat die Regierung schnell und entschieden auf die Corona-Pandemie reagiert, die Südafrika auf dem afrikanischen Kontinent am stärksten getroffen hat. Zehn Tage nach dem Auftreten der ersten Infektion im Land am 5. März 2020 rief die Regierung den nationalen Notstand aus und verhängte eine strenge Ausgangssperre. Die Schulen wurden landesweit geschlossen und der Verkauf von Alkohol verboten. Im April beschloss die Regierung ein Unterstützungsprogramm in Höhe von 500 Mrd. Rand (ca. 28 Mrd. Euro), um die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie abzumildern. Ab Mai 2020 wurden die Ausgangsbeschränkungen schrittweise gelockert. Das entschiedene Vorgehen wurde in Südafrika, aber auch international, zum Beispiel von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gelobt. Trotzdem bleibt COVID-19 ein zentrales Stabilitätsrisiko für die kommenden Jahre, denn von den gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen ist besonders die schwarze Bevölkerung in den ehemaligen Townships betroffen.
Dr. Christian von Soest ist Lead Research Fellow und Leiter des Forschungsschwerpunkts "Frieden und Sicherheit" am German Institute for Global and Area Studies (GIGA). Er ist zudem Mitarbeiter des GIGA Büro Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören internationale Sanktionen und Interventionen, Autoritarismus, Regierungsführung und Staatlichkeit. Sein regionaler Schwerpunkt ist das südliche Afrika, hier vor allem Südafrika, Simbabwe, Sambia und Botswana.
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