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Ethnopolitische Konflikte | Kriege und Konflikte | bpb.de

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Ethnopolitische Konflikte

Lutz Schrader

/ 9 Minuten zu lesen

Weltweit ist eine Zunahme ethnopolitischer Konflikte zu beobachten. Im Ethnonationalismus sehen vor allem autokratische und autoritäre Regierungen und Akteure eine Ideologie zur Sicherung ihrer Macht und Schwächung des liberalen Westens. Beispiele sind der Genozid gegen die Rohingya in Myanmar und die Vorbereitung des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine.

In Kiew werden Blumen auf den Sarg von Roman Ratushyi, der mit einer ukrainischen Flagge bedeckt ist, gelegt. Der Soldat und Aktivist ist im Krieg gegen Russland gefallen. (© picture-alliance, NurPhoto)

Spätestens seit der Französischen Revolution ist der Ethnonationalismus zu einer zentralen ideellen und affektiven Ressource in politischen Auseinandersetzungen und Konflikten geworden. Die Idee, dass eine ethnische Gemeinschaft (= Nation) das natürliche Recht auf politische Selbstbestimmung innerhalb der Grenzen ihres eigenen Staates haben sollte, wurde zum exklusiven Ordnungsprinzip der nationalen und internationalen Politik erhoben und verbreitete sich von Frankreich ausgehend weltweit als zentrale Quelle politischer Handlungsfähigkeit und Legitimität.

Die Janusköpfigkeit des Nationalstaatsprinzips

Die "Nationalisierung" des politischen Lebens schuf den Rahmen für die dynamische Neuordnung des internationalen Systems. Zu nennen sind vor allem der Sturz der dynastischen, d.h. in der Regel transnational verfassten monarchischen Herrscherhäuser, die Auflösung der Vielvölker-Imperien Osmanisches Reich und Habsburger Reich, die Vereinigung politisch fragmentierter Nationen zu einem gemeinsamen Staat – und nicht zuletzt – die schrittweise Überwindung des Kolonialismus durch die Bildung nationaler Befreiungsbewegungen und unabhängiger Staaten nach europäischem Vorbild.

Doch die Grenzen und Risiken des Nationalstaatsprinzips wurden schnell offenkundig. In vielen Staaten, auf deren Territorium mehrere ethnische Gemeinschaften zusammenleben, kam es zu gewaltsamen Vereinigungs- und Homogenisierungsprozessen und damit verbunden zu Straf-, Umsiedlungs- und Vernichtungsaktionen gegen ganze Bevölkerungsgruppen. Grenzen wurden verschoben, um Siedlungsgebiete ethnischer Minderheiten entweder in neu entstehende Nationalstaaten einzugliedern oder einen eigenen Nationalstaat zu schaffen. Die Herausbildung der vom Nationalstaatsprinzip geprägten Weltordnung war mit gewaltigen Kosten, unzähligen Opfern und unsäglichem menschlichem Leid verbunden.

Ein erst wenige Jahrzehnte zurückliegendes Beispiel ist der sprunghafte Anstieg ethnopolitischer Kriege nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. Die Herausbildung von zweiundzwanzig neuen Staaten im Ergebnis des Zerfalls der Vielvölkerstaaten Sowjetunion und Jugoslawien ging mit erbitterten Kämpfen um die Kontrolle und die politisch-soziale Ausrichtung der neu entstehenden Staaten einher. Die Konflikte in und um die Ukraine, Moldau, Georgien, Aserbaidschan, Armenien sowie um Bosnien-Herzegowina und den Kosovo werden bis heute mehr oder weniger gewaltsam ausgetragen.

Auch außerhalb Europas waren die Auswirkungen der Renaissance ethno-nationalistischer Ideologien und Narrative deutlich zu spüren. Vielfach schwenkten Regierungen bzw. Rebellengruppen, die sich eben noch auf Ziele und Forderungen im Sinne eines "sozialistisch-orientierten Entwicklungsmodells" berufen hatten, auf einen ethnopolitischen Begründungs- und Mobilisierungsdiskurs um. Viele "Klassenkonflikte" um politische und wirtschaftliche Teilhabe wurden nun als ethnopolitische Auseinandersetzungen zwischen dominierenden und benachteiligten ethnischen Gruppen gerahmt.

Was sind ethnopolitische Konflikte?

In "ethnopolitischen Konflikten" wird das Handeln der Konfliktparteien durch den Verweis auf die ethnische und/oder religiöse Identität der eigenen Gruppe gerechtfertigt. Aufgrund der tiefen Verwurzelung der gemeinsamen Abstammung und Geschichte im individuellen und kollektiven Bewusstsein besitzen ethnonationalistische "Erzählungen" ein hohes Mobilisierungspotenzial. Damit ethnische und religiöse Merkmale von politischen Eliten und Gewaltunternehmern als Integrations- und Abgrenzungsmarker instrumentalisiert werden können, müssen sie vorher im politischen Diskurs, in Medien, durch politische Bewegungen, in historischen Pamphleten und Kunstwerken affektiv aufgeladen werden (Bieber 2021).

Dies geschieht u.a. dadurch, dass Facetten und Merkmale der Identität einer Gruppe, wie Geschichte, Sprache und Kultur, heilige Stätten oder angestammte Siedlungsgebiete, als von einer anderen Gruppe bedroht dargestellt werden. Nicht selten werden bestehende Missstände und Konflikte ethnisch gerahmt und geschürt, um die Bedrohung glaubwürdiger zu machen und die eigene Gruppe gegen ihre vorgeblichen Feinde zu einen. Auch sich spontan ereignende oder gezielt inszenierte Gewalt gegen Angehörige der eigenen Gruppe kann die Identifikation entlang ethnischer Grenzen befeuern.

Zunahme ethno-nationaler Konflikte seit Anfang der 2000er Jahre

Die Erwartung, dass ab einem bestimmten Sättigungspunkt der weltweiten Durchsetzung des Nationalstaatsprinzips die Zahl ethno-nationaler Gewaltkonflikte signifikant zurückgehen werde, erfüllte sich nicht. Vielmehr ist seit den 2000er Jahren erneut eine Zunahme ethnopolitischer Konflikte und Kriege zu beobachten. Hintergrund ist eine schleichende Reethnisierung der nationalen und internationalen Politik im Zuge des weltweiten Aufschwungs linker, aber vor allem rechter und rechtsextremer nationalistischer Bewegungen.

Überall in der Welt propagieren autoritäre Regierungen einen aggressiven ethnischen Nationalismus. Ehemalige Imperien, wie Russland und die Türkei, betreiben die Wiederherstellung früherer Einflusssphären und stellen die Existenzberichtigung kleinerer Staaten ganz oder teilweise in Frage. Im globalen Süden werden Machtkämpfe und Verteilungskonflikte, wie in der Sahelzone, Äthiopien, Myanmar und Mosambik, wieder verstärkt als ethnonationale und konfessionelle Auseinandersetzungen gerahmt und ausgetragen. Selbst in den westlichen Demokratien kündigen rechtsnationale Gegeneliten den liberalen Konsensus auf und stellen das Ideal einer inklusiven Nation und Staatsbürgerschaft in Frage.

Zahlenmäßige Entwicklung demokratischer sowie teilweise autokratischer Staaten von 2005 bis 2021. (© Externer Link: Freedom House)

Ein aussagekräftiger Indikator für die Krise des Liberalismus ist die quantitative Entwicklung und Verteilung beider Herrschaftstypen in der Staatenwelt. Abbildung 1 zeigt, dass sich in der ersten Hälfte der 2010er Jahre der Trend umgekehrt hat: Die Zahl der Demokratien nimmt ab und die der Autokratien zu. Auch der Bertelsmann Transformation Index (BTI), der die Entwicklung von 137 Transformationsländern erhebt, zählt für 2021 zum ersten Mal seit Einführung des BTI mehr Autokratien (70) als Demokratien (67). Viele der Demokratien sind zudem "defekt" oder "stark defekt".

Die Ursache für diese Schubumkehr der globalen politischen Dynamik ist in erster Linie in der Krise des demokratischen und marktwirtschaftlichen Westens zu suchen. Die Folgen der neoliberalen Globalisierung sowie eklatante Fehlentscheidungen und Unterlassungen der USA und anderer westlicher Staaten haben zu einem dramatischen Verlust an Attraktivität, Glaubwürdigkeit und Prägekraft des westlichen Modells und der vom Westen garantierten Weltordnung geführt (z.B. Ikenberry 2018). Dadurch fühlen sich rechtsnationalistische und populistische Regierungen und Parteien ermutigt, auf einen grundlegenden Umbau des liberalen Gesellschaftsmodells hinzuarbeiten (z.B. Diamond 2022).

Zentrale strategische Koordinaten dieses Gegenangriffs auf die liberalen Demokratien und die weitgehend nach liberalen Regeln funktionierende Weltordnung sind:

  • die Rückkehr zu einer rein ethnischen und konfessionellen Begründung von Nationen und nationalen Gemeinschaften,

  • die Fundamentalisierung und Instrumentalisierung von Religionen für die Sicherung der politischen Macht,

  • die Ausgrenzung, Diskriminierung, Entrechtung und Unterdrückung ethnischer und konfessioneller Minderheiten,

  • die Durchsetzung einer revisionistischen Geschichtspolitik zur ethnopolitischen Legitimation der Repression nach innen und Expansion außen,

  • die Diskreditierung, Kriminalisierung und Unterdrückung freiheitlicher sozialer, kultureller und geschlechtlicher Lebensformen,

  • die Kaperung des Staates durch eine Partei bzw. politische Clique und der autoritäre Umbau der staatlichen Institutionen,

  • die gegenseitige Unterstützung und Vernetzung nationalistischer Bewegungen in verschiedenen Ländern und Regionen.

Die Verbreitung ethnonationalistischer Ideologien durch soziale Medien

Eine Fact-Finding-Mission des UN-Menschenrechtsrates zu den Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen an den Rohingya in Myanmar (2012/13 und 2016/17) hat u.a. auch Facebook-Posts und andere audiovisuelle Materialien untersucht. Der Bericht zeigt, wie in der buddhistischen Mehrheitsgesellschaft mit gezielten Kampagnen ein negatives Bild der Rohingya gezeichnet und verbreitet wurde. Nationalistische politische Parteien und Politiker, führende Mönche, Akademiker, prominente Persönlichkeiten und Mitglieder der Regierung stigmatisierten die muslimische Minderheit als "illegale bengalische Einwanderer" und existenzielle Bedrohung für Interner Link: Myanmar und den Buddhismus.

Soziale Medien verbreiten ethnonationalistische Propaganda, Falschmeldungen und Hassnachrichten quasi in Echtzeit. Der Medienwissenschaftler Simon Strick spricht von einer Art "Radikalisierungsspiel" zwischen Nutzerinnen und Nutzern. Zwar geben auch hier Führungsfiguren und Einflusspersonen den Ton vor, aber "das Ganze erfolgt wesentlich von unten, sozusagen selbstorganisiert auf der Graswurzelebene" (Strick 2021). Die Ideologisierung vollzieht sich durch mediale Partizipation, Desinformation und die Arbeit von Influencern. Jeder einzelne Post trägt durch gelikte Verschwörungstheorien und Hassnachrichten sowie echte oder erfundene eigene Erlebnisse zur Beglaubigung und Radikalisierung ethnonationalistischer Diskurse bei.

Die destruktive Dynamik sozialer Medien resultiert aus ihrer Funktionslogik. Ein begünstigender Faktor ist die weitgehende Anonymität von Nutzerinnen und Nutzern. Ein anderer ist die Programmierung der Algorithmen. Sie bevorzugen polarisierende Nachrichten, weil diese eine höhere Zahl an Klicks versprechen. Es gibt noch einen dritten, bislang unterschätzten Faktor: Ethnonationalistische und rassistische Nachrichten werden so formuliert und präsentiert, dass sie an diffuse Affekte andocken (z.B. Abstiegs- und Bedrohungsängste oder Gefühle der Zurücksetzung) und diesen so eine Form geben (Strick 2021).

Das Ergebnis sind Gefühlsstrukturen und -formeln, die sich durch ständige Bestätigung und Resonanz im Netz zu fremdenfeindlichen und rassistischen Ressentiments und Vorurteilen verdichten. Aus diesen ideologischen Puzzleteilen fügt sich in den Echokammern des Internets nach und nach ein mehr oder weniger geschlossenes Weltbild zusammen, das den Nutzerinnen und Nutzern emotional entlastende Gegenrealitäten vorspiegelt. Deren Verbreitung wird nicht zuletzt dadurch gefördert, dass ethnonationalistische und rassistische Propagandisten keine Scheu davor haben, ihren Botschaften mit marketingerprobten und konsumaffinen Strategien (z.B. eingängige Losungen, Bildkollagen, Comics und Videos) eine große Reichweite zu verschaffen.

Die ethnonationalistische Konstruktion des "Ukraine-Konflikts"

In Russland gewann seit Ende der 1990er Jahre ein aggressiver Ethnonationalismus an Einfluss. Erst schleichend, dann vom Kreml und kremltreuen Parteien, wie "Einiges Russland" und "Heimat", aktiv gefördert durchdrang die Ideologie mehr und mehr die gesamte russische Politik und Gesellschaft. Gepaart mit Fremdenfeindlichkeit und großrussischen chauvinistischen Stimmungen ist sie das "Syndrom einer stagnierenden Gesellschaft, in der die Autoritäten, die Idealvorstellungen und Ziele, die Hoffnungen auf die Zukunft fehlen" und Ausdruck der Suche nach Selbstbestätigung durch die Wiederbelebung alter Großmachtambitionen (Zorkava 2012).

Eine Folge ist die fast schon ins Wahnhafte gesteigerte ethnische Rahmung der "Ukraine-Frage". Dabei lassen sich mehrere Ebenen identifizieren (Kuzio 2020; Putin 2021):

  • Die Ukraine wird geschichtspolitisch als Ursprung der (Kiewer) Rus stilisiert und als "Kleinrussland" in die imperiale gesamtrussische Geschichte eingemeindet.

  • Der Ukraine werden eine eigene Geschichte, Sprache, Identität und Existenz als souveräner Staat abgesprochen.

  • Die ursprünglich tatarische Besiedlung und Kultur der Krim wird geleugnet und behauptet, dass die Halbinsel seit jeher zu Russland gehört.

  • Die in der Ukraine lebenden Russen werden als Opfer eines "faschistischen Regimes" dargestellt, das angeblich ihre Sprache, ihre Kultur und ihr Recht auf politische Selbstbestimmung unterdrückt.

  • Die ukrainischen "Nationalisten" werden als Marionetten des Westens diskreditiert, die seit 2014 den Willen des Westens erfüllen, indem sie das "gesamtrussische Volk" spalten.

Die Ukraine ist das bei weitem am meisten verzerrt und falsch dargestellte Land in den russischen Medien. Die Zahl der von der EU Disinfo Database von 2015 bis zum 22. März 2022 von russischen Quellen erhobenen Falschmeldungen und Hassnachrichten über die Ukraine waren mit 9.268 deutlich höher als die 7.465 Fälle für alle EU-Mitgliedsländer zusammengenommen. Und die Politik zeigt Wirkung: Während des Krieg im Donbass fragte die russische Nachrichtenagentur Novosti am 13. September 2014, ob die Ukrainer "verlorene Brüder" oder ein "Nazi-Volk" seien. Schon damals hatte Russlands propagandistisches Sperrfeuer dazu geführt, dass die Russen mehrheitlich die Ukraine als den zweitgrößten Feind Russlands nach den USA ansahen (Kuzio 2021).

Gegenstrategien: inklusive Demokratie und supranationale Integration

Die wichtigste Voraussetzung für die Zurückdrängung ethnonationalistischer Propaganda und Politik ist die Überwindung der Krise des liberalen Westens. Vor allem die einseitige Betonung wirtschaftlicher Profitabilität untergräbt in dramatischer Weise den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Überall dort, wo sich infolge sozialer Ungleichheit und Unsicherheit, zunehmender Konkurrenz und Individualisierung sowie mangelnder gesellschaftlicher Anerkennung für die Verlierer des überbordenden Leistungsstrebens Risse in der Gesellschaft auftun, finden ethnonationalistische Politiker und Bewegungen Ansatzpunkte für die Umsetzung ihrer spalterischen Agenda.

Die Westen kann erst dann wieder größere globale Ausstrahlung und Prägekraft entfalten, wenn es ihm gelingt, seine innere Einheit und Funktionsfähigkeit wiederherzustellen und Lösungen für die Probleme des 21. Jahrhunderts anzubieten. Dafür bedarf es eines grundlegenden Politikwechsels, der insbesondere von den USA und der Europäischen Union gestaltet und getragen werden muss. Der Schlüssel ist die Lancierung eines mobilisierenden progressiven Projekts mit weltweiter Ausstrahlung, das von der lokalen bis zur globalen Ebene eine nachhaltige Dynamik schafft und wieder das Gemeinsame in den Mittelpunkt rückt (vgl. z.B. Ikenberry 2018).

In der aktuellen wissenschaftlichen Forschung und Debatte zeichnen sich hierfür u.a. folgende Handlungsansätze ab:

  • Inklusivere und partizipativere Gestaltung der politischen Institutionen – auf der lokalen, nationalen und globalen Ebene,

  • gerechtere Verteilung des wirtschaftlichen Reichtums – zwischen sozialen Schichten, Regionen und Staaten,

  • Schaffung einer Weltwirtschaftsordnung, die schwächeren Staaten eine reale Chance einräumt, zu den führenden Industriestaaten aufzuschließen,

  • Durchsetzung einer ambitionierten Klima- und Umweltschutzpolitik als gemeinsame und integrative Aufgabe von Städten und Regionen, Staaten und internationalen Organisationen,

  • Entwurf und Realisierung einer demokratisch kontrollierten und gestalteten Digitalisierung – mit wirksamen Vorkehrungen gegen die Verbreitung von Falschinformationen und Hassnachrichten sowie

  • Entwicklung von identitätsstiftenden Narrativen, die über kulturelle, religiöse und ethnische Unterschiede hinweg integrieren – lokal, national, regional und global.

Weitere Inhalte

Dr. Lutz Schrader (Jg. 1953) ist freiberuflicher Dozent, Berater und Trainer mit dem Schwerpunkt Friedens- und Konfliktforschung sowie Konfliktberatung. Arbeits- und Forschungsthemen sind die Konflikte im westlichen Balkan, Handlungsmöglichkeiten zivilgesellschaftlicher Akteure in bewaffneten Konflikten und Post-Konfliktgesellschaften, Verfahren der Konflikttransformation sowie Friedens- und Konflikttheorien.